Arzneimittel und Therapie

Senken oder nicht senken?

Cochrane-Review stellt Bluthochdrucktherapie infrage

Ein leicht erhöhter Bluthochdruck ist nicht immer behandlungsbedürftig, so das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Cochrane-Studie. Die derzeit auch in Deutschland gängige Praxis, bereits bei systolischen Werten zwischen 140 bis 159 mmHg und bei diastolischen Werten im Bereich zwischen 90 und 99 mmHg mit blutdrucksenkenden Arzneimitteln zu therapieren, ist nach Ansicht der Autoren bei Herzgesunden nicht notwendig.

Ab wann ist ein Blutdruck behandlungsbedürftig? Eine frühzeitig einsetzende Senkung des Blutdrucks kann den Beginn einer Hypertonie verzögern.Doch ob das auch für Patienten ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen sinnvollist, wird diskutiert.  Foto: Miriam Dörr – Fotolia.com

Für Patienten, die bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung haben, ist eine Bluthochdrucktherapie zur Senkung des Mortalitätsrisikos sinnvoll, das belegen unzählige Studien. Diese Erkenntnis wurde jedoch, ohne die Evidenz zu überprüfen, auch auf herzgesunde Patienten übertragen. Eine primärpräventive Behandlung des Bluthochdrucks bei diesen Patienten hält die Arbeitsgruppe um Diao von der British Columbia University in Vancouver jedoch für nicht notwendig. Studien durch Hersteller haben diesen Aspekt nicht betrachtet, ebenso wenig wie bislang veröffentlichte Metaanalysen, bei deren Auswertung der Ergebnisse nicht zwischen kardiovaskulär erkrankten und herzgesunden Personen unterschieden wurde. Eine Metaanalyse, die die Daten von vier placebokontrollierten randomisierten Studien aus dem ambulanten Versorgungsbereich (ANBP, MRC, SHEP und VA-NHLBI) berücksichtigt und insgesamt 8900 Patienten über 18 Jahre ohne diagnostizierte kardiovaskuläre Erkrankung mit einer milden Blutdruckerhöhung (Grad I) einschließt, geht dieser Frage nach. Die Patienten wurden über fünf Jahre beobachtet. Als primäre Endpunkte wurden die Gesamtsterblichkeit und die Gesamtzahl aller kardiovaskulärer Ereignisse gewählt. Die sekundären Endpunkte waren die Gesamtzahl aufgetretener Schlaganfälle und Herzinfarkte sowie die Zahl der Therapieabbrecher aufgrund von UAW. Die Auswertung zeigt, dass 400 Menschen fünf Jahre lang mit blutdrucksenkenden Arzneimitteln behandelt werden müssen, um einen Todesfall zu verhindern, und 128 Menschen, um ein kardiovaskuläres Ereignis zu vermeiden. Auch konnte die Zahl an kardiovaskulären Erkrankungen durch die Behandlung nicht signifikant gesenkt werden. Demgegenüber stehen die möglichen Nebenwirkungsrisiken der medikamentösen Therapie. Zudem brechen laut Auswertungen der Autoren rund neun Prozent aller Patienten die Therapie wegen Nebenwirkungen ab. Die Ergebnisse stoßen auf Kritik. So sei die Dauer der Studien zu kurz gewesen, um eine entsprechende Aussage zu machen. Zudem sind die Studien mit älteren Antihypertensiva durchgeführt worden (s. Kommentar). Es bleibt abzuwarten, ob die Ergebnisse durch weitere Studien untermauert werden können. Patienten sollten jedoch keinesfalls eigenmächtig ohne Rücksprache mit dem Arzt ihre Blutdrucktherapie absetzen.


Quelle

Diao, D. et al.: Pharmacotherapy for mild hypertension (Review); The Cochrane Collaboration, 2012, Issue 8


Apothekerin Dr. Constanze Schäfer MHA


Prof. Dr. Peter Gohlke

Kommentar

Fatale Schlussfolgerung


Profitiert ein Patient mit milder Hypertonie (systolischer Blutdruck 140 bis 159 mm Hg und diastolischer Blutdruck 90 bis 99 mm Hg), der ansonsten kerngesund ist, von einer Senkung des Blutdrucks auf normotensive Werte (< 140/90 mmHg)? Die Schlussfolgerung der Autoren der Cochrane-Collaboration-Studie beantwortet die Frage klar mit nein. Der Patient profitiert nicht von der Therapie und muss auch noch mit mehr Nebenwirkungen rechnen. Ist diese Aussage haltbar? Wohl kaum. Die Studie der Cochrane Collaboration hatte zum Ziel, die Wirkungen einer Blutdrucksenkung auf Mortalität und Morbidität bei Patienten, die keine kardiovaskulären Erkrankungen, aber eine milde Hypertonie aufwiesen, zu untersuchen. Hierzu wurden randomisierte, kontrollierte klinische Studien, die eine blutdrucksenkende Behandlung im Vergleich zu Placebo bzw. keiner Behandlung durchführten, herangezogen. Es handelte sich also um Patienten mit einem vergleichsweise geringen kardiovaskulären Risiko.


Zu kurze Studiendauer

Ein Hauptkritikpunkt an den in dieser Metaanalyse eingebundenen Studien ist die zu geringe Beobachtungsdauer von maximal vier bis fünf Jahren. Ein so kurzer Zeitraum ist sicher nicht ausreichend, um bei Patienten mit geringem kardiovaskulärem Risiko einen Therapieerfolg hinsichtlich der Vermeidung von Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Todesfällen zu erwarten. So war es auch nicht verwunderlich, dass die Metaanalyse keinen Benefit durch die Blutdrucksenkung belegen konnte.


Fatale Botschaft

Die Botschaft "die Behandlung einer milden Hypertonie zeigt keine Wirkung, belastet den Patienten aber mit hohen Nebenwirkungen", die sich aus den Schlussfolgerungen der Autoren ergibt, ist gleichwohl fatal. Schon heute ist der Behandlungsgrad der Hypertonie und insbesondere der milden Hypertonie erschreckend gering. Weniger als 20% der Bluthochdruckpatienten erreichen die in den Leitlinien vorgegebenen Zielblutdruckwerte von < 140/< 90 mm Hg, was unter anderem der geringen Compliance geschuldet ist. Bei der Betrachtung der hohen Nebenwirkungsrate in den untersuchten Studien lohnt ein Blick auf die eingesetzten Antihypertensiva. In diesen mehr als 20 Jahre zurückliegenden Studien wurden neben Thiazid-Diuretika oder alternativ Betablockern ergänzend Substanzen wie Methyldopa, Reserpin, Clonidin und Hydralazin eingesetzt, die heutzutage aufgrund der hohen Nebenwirkungsrate zu Recht nur noch Reserveantihypertensiva sind. Modernere Antihypertensiva, wie ACE-Hemmstoffe, AT1 -Rezeptorantagonisten und Calcium-Kanalblocker, haben dagegen eindeutig gezeigt, dass sie hinsichtlich der Verträglichkeit und der Nebenwirkungen den Diuretika, Betablockern und natürlich den Reserveantihypertensiva deutlich überlegen sind.


Frühzeitig behandeln

Eine frühzeitig einsetzende Senkung des Blutdrucks kann den Beginn einer Hypertonie verzögern. Dies zeigen Daten aus der Trophy-Studie. Hier wurden Patienten mit einem hoch-normalen Blutdruck (130 bis 139/85 bis 89 mmHg) zwei Jahre mit Candesartan (n = 392) oder Placebo (n = 381) behandelt. Danach erhielten alle Teilnehmer Placebo. Nach vier Jahren entwickelten 240 Patienten aus der Placebo-Gruppe und 208 Patienten aus der Candesartan- Gruppe eine Hypertonie. Dabei war die Nebenwirkungsrate in der Candesartan-Gruppe im Vergleich zu Placebo nicht erhöht (C: 3,5% vs P: 5,9%).


Konsequenzen

Die Konsequenz aus der Metaanalyse sollte sein, Patienten mit milder Hypertonie bevorzugt mit gut verträglichen Blutdrucksenkenden Substanzen, wie ACE-Hemmstoffen, AT1 -Rezeptorantagonisten und Calcium-Kanalblockern, zu behandeln, um die Nebenwirkungen gering zu halten. Ob sich bei diesem Therapieansatz ein Langzeiterfolg hinsichtlich der Vermeidung von Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Todesfällen einstellt, sollte in einer großen, placebokontrollierten Langzeitstudie evaluiert werden.


Lifestyle-Änderungen anstreben

Ein Einsatz von blutdrucksenkenden Mitteln bei Patienten mit milder Hypertonie aber ohne kardiovaskuläre Begleiterkrankungen sollte erst erfolgen, wenn nicht-medikamentöse Maßnahmen, wie Reduktion von Übergewicht, Salzrestriktion, Verminderung des Alkoholkonsums und des Rauchens und mehr Bewegung nicht zum gewünschten Ziel führen.


Quelle

[1] Diao, D. et al.: Pharmacotherapy for mild hypertension (Review). The Cochrane Collaboration: 2012, Wiley § Sons Ltd.

[2] Julius S. et al., for the Trial of Preventing Hypertension (TROPHY) Study Investigators: Feasibility of treating prehypertension with an angiotensin receptor blocker. N Engl J Med (2006) 354; 16.

Prof. Dr. Peter Gohlke, Institut für experimentelle und klinische Pharmakologie, UK-SH, Campus Kiel, Hospital-straße 4, 24105 Kiel


Zum Weiterlesen


Pharmako-logisch!

Hypertonie: Die schleichende Gefahr aus den Blutgefäßen.

DAZ 2009, Nr. 13, S. 54 – 83



DAZ 2012, Nr. 51, S. 34

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.