Pädiatrie

Antibiotika oder wait and see

Neue Richtlinie der amerikanischen Pädiater zur Diagnose und Behandlung

Von Silke Kerscher-Hack | Bei Kindern erweist sich die Diagnose der akuten Otitis media, die Unterscheidung von der serösen Otitis media sowie die anschließende Behandlung oftmals als schwierig. Die neu überarbeitete Richtlinie der American Academy of Pediatrics (AAP) soll nun bei Diagnose und Behandlung der Otitis media bei Kindern zwischen sechs Monaten und zwölf Jahren helfen. Neben der Definition der akuten Otitis media, den Vor- und Nachteilen einer Watchful-Waiting- sowie einer Antibiotikatherapie befinden sich auch verschiedene Empfehlungen zur Schmerzbehandlung, zur Antibiotikawahl sowie zu Präventivmaßnahmen in der Richtlinie. Neu wurde die Diagnose und Behandlung der rezidivierenden Mittelohrentzündung aufgenommen.

Die Schwierigkeit bei Vorliegen einer Erkrankung des Mittelohrs ist, diese auch richtig einzuordnen. Einen Gold-Standard für die Diagnose gibt es nicht. Hier soll die Richtlinie helfen. Nach der Definition der akuten Otitis media wird diese von der serösen Otitis media unterschieden. Letztere stellt keine akute Infektion dar, die mithilfe eines Antibiotikums behandelt werden kann. Die akute Otitis media tritt in der Regel nach einer viralen Infektion der oberen Atemwege auf. Diese Infektion kann zu einer Entzündung/Dysfunktion der eustachischen Röhre sowie zu Belüftungsstörung mit Unterdruck im Mittelohr führen. Dabei können Viren sowie pathogene Bakterien des Nasopharynx in das Mittelohr wandern und die Erkrankung auslösen. Die akute Otitis media verursacht ein breites Spektrum an Krankheitssymptomen. Ältere Kinder haben gewöhnlich plötzlich einsetzende Ohrenschmerzen. Symptome wie Reißen, Reiben oder Halten des Ohres deuten auf darauf hin. Fieber, Schreien sowie Veränderung im Schlaf- und Verhaltensmuster bei Babys sind hingegen unspezifisch. Zur Diagnose sollte daher das Trommelfell untersucht werden. Ist dieses mäßig oder stark vorgewölbt, so liegt eine akute Otitis media vor. Auch ein leicht vorgewölbtes Trommelfell verbunden mit einer intensiven Rötung oder Ohrenschmerzen deutet auf diese Erkrankung hin. Wichtig jedoch ist das Vorhandensein von Flüssigkeit im Mittelohr. Fehlt diese, sollte auch keine akute Otitis media diagnostiziert werden und gegebenenfalls nach anderen Ursachen für die bestehenden Symptome gesucht werden. Liegt ein positiver Befund vor, richtet sich die Behandlung nach dem Alter des Kindes und der Schwere der Symptome. Grundsätzlich gibt es zwei Behandlungs-Strategien: den sofortigen Einsatz von Antibiotika oder das Abwarten, das sogenannte "Watchful Waiting" (siehe Tabelle 1).


Tab. 1: Entscheidungskriterien für Antibiotikatherapie oder Watchful Waiting

Alter
Akute Otitis
media mit
Otorrhö
Ein- oder zweiseitige akute Otitis media mit schweren Symptomena
Beidseitige akute Otitis media ohne Otorrhö
Einseitige akute
Otitis media ohne Otorrhö
6 - 24 Monate
Antibiotika-
therapie
Antibiotikatherapie
Antibiotikatherapie
Antibiotikatherapie oder
weitere Beobachtung
≥ 24 Monate
Antibiotika-
therapie
Antibiotikatherapie
Antibiotikatherapie oder
weitere Beobachtung
Antibiotikatherapie oder
weitere Beobachtung
a krank aussehendes Kind, Ohrenschmerzen seit >48 Stunden, Fieber ≥ 39 °C, keine Möglichkeit zur Wiedervorstellung

Analgetika unabhängig von Antibiotika einsetzen

Hauptbeschwerden bilden die Ohrschmerzen. Sie werden jedoch durch Antibiotika in den ersten 24 Stunden nicht gelindert . Nach drei bis sieben Tagen zeigen 30% der unter Zweijährigen immer noch Schmerzen, Fieber oder beide Symptome. Die amerikanischen Pädiater empfehlen daher – egal ob mit einer Antibiotikatherapie begonnen wurde oder nicht – ein Analgetikum zu verabreichen. Mittel der Wahl sind hier Paracetamol und Ibuprofen. Acetylsalicylsäure sollte bei Kindern aufgrund des Risikos für ein Reye-Syndrom nicht eingesetzt werden.


Leitlinien in Deutschland


In Deutschland beschäftigen sich verschiedene Leitlinien mit der Behandlung der akuten Otitis media:

  • Antibiotikatherapie der Infektionen an Kopf und Hals" der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, Stand: 1.11.2008 , gültig bis 30.11.2013

  • Ohrenschmerzen" der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), deren überarbeitete Version zum 31.12.2013 fertiggestellt sein soll

  • angemeldetes Leitlinienvorhaben "Akute Otitis media" der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, voraussichtliche Fertigsstellung zum 31.12.2013

Diese Leitlinien decken sich weitestgehend mit den Empfehlungen der amerikanischen Pädiater. Die Hausärzte weisen in ihrer (abgelaufenen) Leitlinie zudem explizit darauf hin, dass die akute Otitis media in 80% der Fälle spontan abheilt. Welche Empfehlungen die überarbeiteten Leitlinien aussprechen, bleibt abzuwarten.

Generell variiert die Häufigkeit der Antibiotikaverschreibung bei akuter Otitis media in den Industrieländern stark: nämlich zwischen 31% der Fälle in den Niederlanden und 98% in den USA und Australien: Diese Diskrepanzen könnten den unterschiedlichen Leitlinien geschuldet sein. Hier wurde in einigen (mittlerweile überarbeiteten) Leitlinien der generelle Einsatz von Antibiotika empfohlen, wohingegen beispielsweise in den Niederlanden relativ früh die Strategie des Watchful Waiting propagiert wurde. Fakt ist, dass durch Leitlinien-gerechten Einsatz von Antibiotika bei akuter Otitis media, die zu einer der häufigsten Erkrankungen im Kindesalter gehört, der unnötige Einsatz von Antibiotika reduziert werden könnte.


Quelle:

"Antibiotikatherapie der Infektionen an Kopf und Hals" Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, Stand: 01.11.2008

"Ohrenschmerzen" Leitline der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Stand: 1.9.2005

Weniger Nebenwirkungen durch Watchful Waiting

Entscheiden sich Arzt und Eltern nicht sofort ein Antibiotikum zu geben und abzuwarten, sollte das Kind genau beobachtet werden. Bessert sich der Zustand innerhalb von 48 bis 72 Stunden nicht oder verschlechtert sich sogar, sollte mit einer Antibiotikatherapie begonnen werden. Vorteile dieser sogenannten Watchful-Waiting-Therapie ist, dass Nebenwirkungen wie Diarrhoe oder Windeldermatitis seltener als bei einer Behandlung mit Antibiotika auftreten.

In 92% der Fälle können Bakterien allein oder zusammen mit Viren in dem Mittelohrausfluss nachgewiesen werden (66% Bakterien und Viren, 27% Bakterien). Lediglich in 4% der Fälle waren nur virale Krankheitserreger vorhanden. Die häufigsten bakteriellen Krankheitserreger sind: Streptococcus pneumoniae, Moraxella catarrhalis sowie das nicht-typische Haemophilus influenzae. Streptococcus pyogenes wurde in weniger als 5% der Fälle gefunden.

Entscheiden sich Arzt und Eltern für die Antibiotikagabe, so sollte besonders auf die Wirksamkeit gegenüber den bakteriellen Krankheitserregern , den Geschmack, die potenziellen Nebenwirkungen sowie die Therapiekosten geachtet werden. Die Empfehlungen der amerikanischen Pädiater werden in Tabelle 2 dargestellt. Demnach gilt Amoxicillin als Mittel der ersten Wahl, da es gegenüber den gängigen Pathogenen wirksam ist. Es ist sicher, kostet wenig, besitzt einen akzeptablen Geschmack sowie ein enges mikrobiologisches Wirkspektrum.


Tab. 2: Antibiotikawahl, Empfehlung der amerikanischen Pädiater

Anfangsbehandlung mit Antibiotika bzw. innerhalb der ersten 48 – 72 Stunden
Antibiotikabehandlung nach 48 – 72 Stunden bzw.
Versagen der ersten Antibiotikabehandlung
Primärtherapie
Alternative Behandlung
(Penicillinallergie)
Primärtherapie
Alternative Behandlung
Amoxicillin
(80 – 90 mg/kg pro Tag in 2 Dosen)
Cefdinir (in Deutschland nicht erhältlich)
(14 mg/kg pro Tag in
1 oder 2 Dosen)
Amoxicillin-Clavulansäure
(Verhältnis: 14:1; Amoxicillin: 90 mg/kg pro Tag;
Calvulansäure: 6,4 mg/kg pro Tag; in 2 Dosen)
Ceftriaxon, 3 Tage
Clindamycin
(30 – 40 mg/kg pro Tag
in 3 Dosen)
mit/ohne
Cephalosporin der
3. Generation
oder
Cefuroxim
(30 mg/kg pro Tag
in 2 Dosen)
Cefpodoxim
(10 mg/kg pro Tag
in 2 Dosen)
oder
Versagen des zweiten
Antibiotikums

Clindamycin
(30 – 40 mg/kg pro Tag
in 3 Dosen)
und
Cephalosporin der
3. Generation;
Paukenröhrchen;
Spezialist
Amoxicillin-Clavulansäurea
(Verhältnis: 14:1; Amoxicillin: 90 mg/kg pro Tag;
Calvulansäure: 6,4 mg/kg pro Tag; in 2 Dosen)
Ceftriaxon
(50 mg/kg i.m. oder
i.v. pro Tag, 1 oder
3 Tage lang Dosen)
Ceftriaxon
(50 mg/kg i.m. oder
i.v. pro Tag, 3 Tage lang)
a bei Patienten, die Amoxicillin in den letzten 30 Tagen erhalten haben oder die an einer eitrigen Bindehautentzündung erkrankt sind

Rezidivierende, akute Otitis media

Eine rezidivierende, akute Otitis media wird folgendermaßen definiert: Mindestens dreimaliges Auftreten innerhalb von sechs Monaten oder mindestens viermaliges Auftreten innerhalb von zwölf Monaten, davon mindestens einmal in den letzten sechs Monaten. Als Risikofaktoren gelten Wintermonate, Passivrauchen, aber auch männliches Geschlecht. Durch prophylaktische Antibiotikagabe wird die Erkrankungshäufigkeit nur minimal reduziert. Dieser geringe Nutzen muss gegen Therapiekosten, Nebenwirkungen, das Risiko möglicher allergischer Reaktionen sowie die Gefahr bakterieller Resistenzentwicklung abgewogen werden. Die Empfehlung lautet daher, auf eine prophylaktische Antibiotikabehandlung zu verzichten. Eine Option wäre in diesen Fällen die Einlage eines Paukenröhrchens.

Pneumokokken- und Grippeimpfung als Prophylaxe empfohlen

Zur Prophylaxe sollten alle Kinder mit einen Konjugat-Impfstoff (PCV 7), der sieben Pneumokokken-Serotypen abdeckt sowie jährlich gegen Grippe geimpft werden. Hierdurch könnte die Häufigkeit einer akuten Otitis-media-Erkrankung, die durch bestimmte Serotypen ausgelöst wird oder als Folge einer Influenza auftritt, verringert werden. Stillen und die Vermeidung von Passivrauchen werden als risiko mindernd erachtet. Xylitol , das in Kaugummi enthaltene ist, soll ebenfalls in hohen Dosen (10 g/d) protektiv wirken. Flaschenfütterung und die Verwendung eines Schnullers förden dagegen das Auftreten einer akuten Otitis media, so die Kinderärzte. Allerdings ist die Datenlage nicht ausreichend, bindende Empfehlungen auszusprechen.

Trotz der Fortschritte in der Forschung sind, laut den amerikanischen Pädiatern, noch viele Fragen offen. Auf den Gebieten Diagnose, Anfangsbehandlung, Wahl des Antibiotikums, Suche nach neuen Antibiotika, Prävention durch Stillen und Lifestyle-Änderung sowie Einsatz eines Paukenröhrchens bei rezidivierender akuten Otitis media besteht Forschungsbedarf. Auch fehlen gut konzipierte, randomisierte Studien zur Wirksamkeit komplementärer bzw. alternativer Medizin.


Literatur

Lieberthal AS, et al. The diagnosis and management of acute otitis media. Pediatrics. 2013 Mar;131(3):e964-99.


Autorin

Apothekerin Dr. Silke Kerscher-Hack
Klausenstr. 31, 84489 Burghausen



DAZ 2013, Nr. 14, S. 48

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