Feuilleton

Wechselbalg – mehr als ein Albtraum

Medizingeschichtliches über den Kretinismus

Endemische Krankheiten, die auf einer Unterfunktion der Schilddrüse beruhen, sind der Kropf und der Kretinismus. Während ein Kropf eher als Schönheitsfehler galt, waren die unter "Kretinismus" zusammengefassten Missbildungen oft so schwerwiegend, dass die Patienten früh starben; einige wurden sogar durch ihre Eltern oder andere Personen getötet.
Margaretha Dittmar in Gemünden, 21 Jahre alt, 84 cm groß. Aus [2].

Eine Votivtafel aus dem Jahr 1818 in der Wallfahrtskirche von Maria Steinbach bei Memmingen berichtet von der seltsamen Verwandlung eines Säuglings: Als er sechs Wochen alt geworden war, bekam er eine andere Gestalt und wurde durch Geschwülste im Gesicht so sehr entstellt, dass die Eltern sich nicht mehr trauten, ihn öffentlich sehen zu lassen. Das Kind starb schließlich im Alter von 1 ½ Jahren, nachdem seine Mutter die Heilige Mutter Gottes um seinen gnädigen Tod gebeten hatte. Für die Erfüllung dieses Wunsches stiftete sie die Votivtafel.

Das ist nicht mehr das eigene Kind …

Der Frankfurter Kinderarzt Wilhelm Theopold (1915 – 2009) deutete dieses Schicksal als einen Fall von Kretinismus, den er so beschrieb: "Das Leiden beginnt fast unmerklich. In den ersten Tagen erscheint das Kind gesund und wohlgebildet. Aber dann fällt auf, dass seine Stimme einen anderen Klang bekommt, sie wird rau und heiser. Besorgt sieht die Mutter, wie unter dem struppig gewordenen Haar sich die kindliche Stirn in tiefe Falten legt, einem Greisenantlitz ähnlich, und dass die Gesichtszüge stumpf und grob werden. […] Das ist nicht mehr das Kind, das man der Mutter nach der Geburt in die Arme legte. Es ist ein greisenhaftes, hässliches Geschöpf, und jeder, der es sieht, sagt: Es ist ein Wechselbalg." [1].

Dass ein Säugling sich in kurzer Zeit dermaßen verändert, konnten viele Leute sich nicht vorstellen, geschweige denn erklären. Sie glaubten, dass er "verwechselt" wurde: Der Teufel oder teuflische Wesen hatten das Kind in einem unbeobachteten Augenblick aus der Wiege genommen und an seiner Stelle einen Wechselbalg hineingelegt, worunter man Kinder verstand, die der Teufel mit Hexen oder vergewaltigten Frauen gezeugt hatte und die keine Seele besaßen. Dieser Aberglaube war vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert weit verbreitet, und selbst Theologen wie Martin Luther empfahlen, Wechselbälge zu töten.

Wilhelm Scheid in Wiesenbronn, 18 Jahre alt, auf einem Topf sitzend. Aus [2].

Forschungen zur Epidemiologie …

In den Jahren 1851/52 befasste sich der berühmte, universal gebildete Arzt Rudolf Virchow (1821 – 1902) in zwei gedruckten Vorträgen mit dem Kretinismus in Unterfranken [2]. Darin referierte er die Ergebnisse einer Umfrage bei den Amtsärzten Unterfrankens aus dem Jahr 1840 zur Verbreitung des Kretinismus. Damals wurden 133 Fälle gemeldet, was einem Fall je 4355 Bewohner entsprach. Virchow selbst erkundete von Würzburg aus, wo er als Professor wirkte, den Spessart und das westliche Vorland des Steigerwalds und fand 26 Kretins, die er untersuchte und zeichnete (s. Abb.). Unterwegs machte er mehrmals die Erfahrung, dass die Einheimischen die Existenz von Kretins leugneten; in Iphofen stieß er sogar auf "eine förmlich Conspiration, auch der Gebildeten". Daher schätzte er die Verbreitung des Kretinismus höher ein, als die Umfrage von 1840 ergeben hatte. In seiner Ansicht fühlte er sich durch eine in Kitzingen übliche Redensart über die Einwohner von Hüttenheim, Bullenheim und Iphofen bestätigt, die besagte: Wenn sie keinen Buckel haben, dann haben sie einen Kropf.

Als "scheußlichsten" Kretin, den er in Franken sah, schilderte Virchow den 18-jährigen Wilhelm Scheid in Wiesenbronn: "Er saß zusammengekauert auf einer Fensterbank, den Kopf auf die Brust gesenkt […], über einem Hafen [Topf], den man ihm unterzusetzen pflegt, da er sich fortwährend verunreinigt. Seine äußere Erscheinung macht den Eindruck eines monströsen Kindes, denn er misst mit seiner ganzen Länge kaum 2 ½ Schuh [ca. 73 cm], und sein spärlich mit hellem, kurzem, trockenem und glanzlosem Haar besetzter Kopf erregte auf den ersten Anblick die Voraussetzung früher Jugend. Mit Mühe konnten wir den Kopf aufrichten und sahen nun ein hässliches […] Gesicht."

… und zur Ätiologie

Bei der Umfrage von 1840 hatten noch zwei Ärzte die Ansicht vertreten, dass beim Kretinismus dämonische Einwirkungen im Spiel sind. Wissenschaftler lehnten solche Erklärungen natürlich ab, konnten aber über die Krankheitsursachen nur Hypothesen aufstellen, die vorläufig nicht zu beweisen waren. Immerhin war ihnen aufgefallen, dass der Kretinismus zwar lokal gehäuft auftrat, aber nicht vererbt wurde, denn auch die Kinder gesunder hinzugezogener Personen konnten erkranken.

Um 1850 postulierte Gaspard Adolphe Chatin (1813 – 1901), Arzt und leitender Krankenhausapotheker in Paris, eine negative Korrelation zwischen dem Iodgehalt der Luft und dem Vorkommen von Kropf und Kretinismus. Er unterschied von Paris bis zu den Alpen sechs Zonen mit abnehmendem Iodgehalt und zunehmenden Krankheitsfällen.

Virchow, der diese Hypothese kannte, vermutete als Krankheitsursache eher miasmatische Substanzen (giftige Ausdünstungen des Erdreichs), die seiner Meinung nach insbesondere in Calcium- und Magnesium-reichem Gestein entstehen.

Klar hatte Virchow erkannt, dass ein manifester Kretinismus sich mit den der Medizin damals zur Verfügung stehenden Mitteln nicht heilen ließ, aber dass sich der Gesundheitszustand der Patienten, die in ihren Familien oft grausam vernachlässigt wurden, durch Pflege bessern ließ. Demgemäß forderte er ein spezielles Pflegeheim für Kretins.

Durchbruch zur kausalen Therapie

Einige Jahrzehnte später wurden Extrakte aus der Schilddrüse erfolgreich zur Therapie des Kropfes und des Kretinismus eingesetzt, und sogleich begann die Suche nach dem darin enthaltenen Wirkstoff. 1895 entdeckt Eugen Baumann (1846 – 1896), Pharmazeut und Professor für physiologische Chemie in Freiburg, eine iodhaltige Substanz in der Schilddrüse ("Jodothyrin") [4], doch erst 1914 isolierte der amerikanische Biochemiker Edward Calvin Kendall (1886 – 1972) das Schilddrüsenhormon Thyroxin. Nachdem der Brite Charles Robert Harington (1897 – 1972) Thyroxin 1926 erstmals synthetisiert hatte und Georg Friedrich Henning (1863 – 1945) im selben Jahr in Berlin mit dessen Herstellung begonnen hatte, kann die durch Iodmangel bedingte Unterfunktion der Schilddrüse mit ihren schrecklichen Folgen durch die Substitution des Hormons verhindert werden. Eine umfassende Monografie über das Iod in der belebten und unbelebten Natur veröffentlichte der Berner Chemiker Theodor v. Fellenberg (1881 – 1962) ebenfalls im Jahr 1926 [5].


Literatur

[1] Theopold, Wilhelm: Das Kind in der Votivmalerei. München 1981, S. 107 f.

[2] Virchow, Rudolf: Sämtliche Werke, hrsgg. v. Christian Andree, Abt. I, Bd. 16.2. Hildesheim 2007, S. 891– 969.

[3] Chatin, G. Adolphe: Un fait dans la question du goitre et du crétinisme. Compt Rend Acad Sci 1853;36:652.

[4] Baumann, Eugen: Ueber das normale Vorkommen von Jod im Thierkörper. Hoppe-Seylers Z Physiol Chem 1895;21:319– 330.

[5] v. Fellenberg, Theodor: Das Vorkommen, der Kreislauf und der Stoffwechsel des Jods. München 1926.


Dr. Wolfgang Caesar



DAZ 2013, Nr. 15, S. 72

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