DAZ aktuell

Lehrbuch mit Perspektive

Im November 2012 erschien die zehnte Auflage des "Mutschler", Arzneimittelwirkungen. Gewürdigt wurde dieses Ereignis in der DAZ 48/2012. Professor Mutschler äußerte sich zur Neuauflage seines Lehrbuchs wie folgt: "Es gibt praktisch kein Gebiet in der Pharmakologie, in dem wir nicht erheblichen Fortschritt erlebt haben. Am bemerkenswertesten finde ich, dass wir heute in aller Regel wissen, wie Arzneimittel wirken. Das haben wir in den Anfangszeiten des Buches, in den 1970er Jahren, noch nicht gewusst." In Zeiten großer Fortschrittsskepsis ist dies ein klares Bekenntnis zu dem, was moderne Wissenschaft ist und was sie so erfolgreich macht: die Lückenhaftigkeit unseres Wissens jederzeit anzuerkennen und keine falschen Gewissheiten zu verbreiten.

Ich wurde neugierig auf das Buch. Trotz einiger Zweifel, als naturwissenschaftlicher Analphabet sehr viel daraus schöpfen zu können, nahm ich mir den Text vor. Nur in Stichproben, aber trotzdem fand ich genug Material für eine kritische Würdigung "von außen betrachtet", mit allem Respekt vor der Leistung und dem Fachwissen, die in diesem Buch stecken. Dessen Erkenntnisfortschritt wird durch die zahlreichen Abbildungen ebenso eindrucksvoll dokumentiert wie durch die systematisch aufgebauten Texte. Trotz komplexer Sachverhalte meiden die Autoren jene codierte Fachsprache, die das Verständnis, das sie erzeugen will, bereits voraussetzt. Gleichzeitig aber verzichten sie auf anbiedernde Simplifizierungen. Eine solche Gratwanderung gelingt nur durch eine besonders sorgfältige Redaktion der Texte, was das Arbeitspensum der Autoren noch weiter erhöht haben dürfte.

Mich als Soziologen und engagierten Wissenschaftstheoretiker begeistern Sätze wie dieser: "Den heutigen Vorstellungen über die Zellmembran wird das von Lenard und Singer vorgeschlagene Fluid-Mosaik-Modell am ehesten gerecht." Wer so spricht, der hat es nicht nötig, so zu tun, als wäre er im Besitz unveränderlicher Wahrheiten.

Diese Redlichkeit zieht sich durch das gesamte Werk. Ab und zu kommt es zu leichten Grenzüberschreitungen, aber das ist kein Einwand, im Gegenteil: Ich hätte mir sogar noch mehr davon gewünscht. Ein Beispiel dafür findet sich in Abschnitt 11.3.3 über die Anforderungen an ein ideales Schlafmittel. Ohne große Umschweife heißt es am Schluss: "Der Vergleich der gewünschten mit den nachfolgend beschriebenen tatsächlichen Eigenschaften von Schlafmitteln zeigt, dass ein ideales Schlafmittel derzeit nicht existiert."

Eine solche Stellungnahme hätten auch andere Arzneimittel verdient. Sie werden millionenfach verordnet und entfalten ihre Wirkungen, aber optimal sind sie nicht. Das gilt etwa für die große Gruppe der Statine. Ihre in Abschnitt 14.2.2.4 genannten Effekte bedürfen meines Erachtens einer besonderen Beobachtung, denn ihre lipidsenkende Wirkung ist zum Beispiel mit einer Hemmung des Coenzyms Q10 verbunden. Patienten nehmen oft über Jahre hinweg Statine ein, verlieren dabei aufgrund des Q10-Mangels immer weiter an Leistungsfähigkeit, sollen zugleich weniger energiereich essen und sich mehr bewegen – eine absurde Situation. Über pleiotrope Effekte von Statinen wird in Fachkreisen seit Langem diskutiert. Wegen der geplanten Absenkung des Grenzwerts auf 180 mg/dl Gesamtcholesterin sollte diese Diskussion noch kritischer geführt werden, da sich bei jeder Absenkung der Normwerte der Kreis scheinbar behandlungsbedürftiger Patienten weiter erhöht.

Abschnitt 10.8 über die Homöopathie liest sich dagegen durchaus wie ein Vorgeschmack auf eine neue Kultur der Einmischung. Öffentliches Eintreten für die Verpflichtung der Homöopathie zu objektivierbaren Wirksamkeitsnachweisen war früher keine große Sache, heute zeugt es von Modernität und geistiger Freiheit. Die Homöopathie gehört mittlerweile auch ohne solche Wirksamkeitsnachweise zu den anerkannten Heilverfahren, sie aber gegen den Mainstream dennoch kritisch zu sehen, ist keine schulmedizinische Borniertheit, sondern zeigt lediglich nach wie vor bestehende Defizite auf.

Auf ein Defizit verweist auch Abschnitt 10.6 mit seiner unbequemen Auffassung des Evidenzbegriffs als ein Kontinuum. Die Entscheidung des Arztes für eine Arzneimitteltherapie darf sich nämlich keineswegs nur auf Doppelblindstudien und andere Wirksamkeitsnachweise stützen, vielmehr ist das Programm der evidenzbasierten Medizin immer erst dann vollendet, wenn es den Bereich jenseits der experimentellen Methode einschließt: den individuellen Fall, den Erfahrungshintergrund aller Beteiligten, die schrittweise Optimierung der Therapie, die regelmäßige Evaluation sämtlicher Maßnahmen und ihrer Effekte. Wenn man all das bei jedem Patienten ausbuchstabieren will, braucht es einen gesundheitspolitischen Kraftakt, müssen Mediziner und Pharmazeuten besser kooperieren.

Die wenn auch nur kursorische Lektüre von Mutschlers Arzneimittelwirkungen machte mir klar, welch umfangreiches pharmazeutisches Wissen in die medizinische Praxis einzufließen hätte – und umgekehrt. Es ist damit auch ein eminent politisches Buch, so sehr seine Autoren gerade diesen Eindruck zu vermeiden suchen.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.

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