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DDR-Arzneimitteltests
Klinische Studien in der ehemaligen DDR
Das Arzneimittelgesetz vom 5. Mai 1964 [1] regelte erstmals den Arzneimittelverkehr für das gesamte Gebiet der DDR. Auch Klinische Prüfungen wurden darin erwähnt: Es durften nur Arzneimittel in Verkehr gebracht werden, die nach den Erkenntnissen und Erfahrungen von Wissenschaft und Praxis ausreichend erforscht, pharmazeutisch und pharmakologisch geprüft sowie klinisch erprobt waren und deren Wirksamkeit und Unschädlichkeit sich erwiesen hatte. Darüber hinaus musste für die Zulassung eines Arzneimittels ein medizinisches Bedürfnis vorhanden sein. Im Jahr 1976 schrieb dann eine Durchführungsbestimmung [2] konkretere Vorgaben zur Durchführung Klinischer Prüfungen vor.
Anders als in der alten Bundesrepublik, in der zu dieser Zeit lediglich eine Anzeigepflicht beim Bundesgesundheitsamt vorgeschrieben war, mussten die ersten drei der vier Stufen, in die Klinische Prüfungen in der DDR eingeteilt waren, vom Ministerium für Gesundheitswesen genehmigt werden. Das Ministerium traf seine Entscheidung auf Grundlage der Empfehlungen des Zentralen Gutachterausschusses, einem Gremium bestehend aus Wissenschaftlern und Praktikern der Veterinär- und Humanmedizin – unter anderem auch vier Apothekern. Erhielt der Arzneimittelhersteller die Genehmigung, schloss er mit den an der Prüfung beteiligten Einrichtungen eine Vereinbarung. Bei außerhalb der DDR hergestellten Arzneimitteln lief das Genehmigungsverfahren über das Beratungsbüro im Ministerium für Gesundheitswesen für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse.
Aufklärung, Einwilligung und Absicherung
Probanden, die an einer Klinischen Prüfung teilnehmen sollten, mussten ausreichend über den Ablauf der Untersuchungen sowie über mögliche Wirkungen, Nebenwirkungen und Risiken der Prüfung aufgeklärt werden – und ihr Einverständnis geben. Dazu zählte auch die Information zu den mit den Untersuchungen verbundenen medizinischen Eingriffen. Probanden hatten das Recht, jederzeit ihr Einverständnis wieder zurückzunehmen. In diesem Fall oder wenn sie von Anfang an nicht einverstanden waren, durften ihnen keinesfalls Nachteile entstehen. Hinsichtlich der Dokumentation der Einwilligung galt: Bei Prüfungen in den Stufen I und II sowie bei Prüfungen der Stufe III, die zum Nachweis einer prophylaktischen Wirksamkeit oder außerhalb einer für den Probanden notwendigen diagnostischen oder therapeutischen Zielstellung durchgeführt wurden, musste über die vollzogene Aufklärung ein schriftliches Protokoll angefertigt werden. Dieses Protokoll musste alle Informationen, die Gegenstand der Aufklärung waren, sowie die Einverständniserklärung des Probanden enthalten und von Arzt und Proband unterschrieben werden.
Für den Fall, dass im Zusammenhang mit der Prüfung von Arzneimitteln am Menschen Schäden eintraten, war eine Staatshaftung vorgesehen. Die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen erfolgte durch die Staatliche Versicherung der DDR. Probanden hatten also keinen Anspruch gegen einen privaten Versicherer des DDR-Arzneimittelherstellers, sondern konnten ihre Ansprüche direkt gegen den Staat geltend machen. Allerdings konnte auch nicht jeder Proband sein: Prüfungen an handlungsunfähigen, in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkten und physisch oder psychisch eingeschränkten volljährigen Personen waren erst ab Stufe II, an Kindern und Jugendlichen erst ab Stufe III zulässig. In diesen Fällen musste zudem der gesetzliche Vertreter zustimmen. Prüfungen an Schwangeren waren erst ab Stufe III zulässig. Überhaupt keine Prüfungen durften durchgeführt werden an Bürgern anderer Staaten, Strafgefangenen und Verhafteten und Personen, die sich aufgrund eines Gerichtsbeschlusses in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung befanden.
Gesetzesnovelle
Im Jahr 1986 wurde das Arzneimittelgesetz der DDR überarbeitet. Die neue Variante [3] enthielt konkretere Angaben zur Prüfung von Arzneimitteln als sein Vorgänger – dafür waren Regelungen aus der Durchführungsbestimmung aus dem Jahr 1976 ins Gesetz übernommen worden. So wurde nun gesetzlich vorgeschrieben, dass Klinische Prüfungen einer Genehmigung bedurften, ebenso, dass über mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen aufgeklärt werden musste und auch, dass jeder Proband sein Einverständnis geben musste. Die Prüfung musste mit dem geringsten Risiko für den Probanden durchgeführt werden und ihm zumutbar sein. Sie hatte außerdem dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu entsprechen – unter Wahrung ethischer Kriterien.
Internationale Standards
Neben den gesetzlichen nationalen Vorgaben gab es zu jener Zeit bereits international anerkannte Standards für Klinische Prüfungen. Die bedeutendste Leitlinie ist die "Deklaration von Helsinki". Sie wurde erstmals 1964 vom Weltärztebund – einem 1947 gegründeten Zusammenschluss nationaler Ärzteverbände – verabschiedet und enthält weltweite ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen. Bereits in der ersten Variante der Leitlinie wurde betont, dass jedem klinischen Forschungsprojekt eine sorgfältige Abschätzung der Risiken im Vergleich zum voraussichtlichen Nutzen für die Versuchsperson vorausgehen sollte. Der Arzt müsse stets Beschützer des Lebens und der Gesundheit der Person, an der klinisch geforscht werde, bleiben und dem Probanden die Gefahren der Forschung erläutern. Zudem dürfe Klinische Forschung am Menschen nicht ohne dessen freiwillige Zustimmung vorgenommen werden.
Die Deklaration wurde über die Jahre mehrfach erneuert – aus zwei Seiten wurden gute sechs. Doch die Grundsätze blieben dieselben; insbesondere die Aufklärungspflicht und die Pflicht zur Einholung einer "freiwilligen, informierten Einwilligung" sind weiterhin von großer Bedeutung. Anders als die Ärzte aus Westdeutschland, die seit 1951 durch die Bundesärztekammer vertreten waren, sandten die Ärzte der DDR seinerzeit keine Vertreter zur jährlichen Generalversammlung des Weltärztebundes. Pharmaunternehmen, die in der ehemaligen DDR Klinische Prüfungen durchführten, gehen gleichwohl davon aus, dass diese Grundsätze auch in der DDR eingehalten wurden. Schon deshalb, weil die Studien überwiegend multizentrisch bzw. multinational waren, also nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik und/oder anderen Ländern durchgeführt wurden – und überall identische Prüfprotokolle eingehalten werden mussten.
Bahr bittet Hersteller um Herausgabe von AktenZur Aufklärung der umstrittenen Arzneimitteltests westdeutscher Hersteller in der DDR bittet Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr die Unternehmen "nachdrücklich" um Mithilfe. In einem Schreiben Bahrs an die Herstellerverbände der pharmazeutischen Industrie heißt es: "Ich bin überzeugt, dass die rasche umfassende und transparente Aufklärung der Geschehnisse um die Medikamententests in der DDR in unserem gemeinsamen Interesse liegt. Ich bitte Sie daher nachdrücklich, die Aufarbeitung von DDR-Unrecht nach Kräften zu unterstützen, indem Sie Ihre jeweiligen Mitgliedsunternehmen bitten, das vorhandene Archivgut zu sichten, auf Dauer zu sichern und für diesen Forschungszweck nutzbar zu machen." Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) hat unmittelbar auf Bahrs Bitte reagiert und seine Mitgliedsfirmen gebeten, diese Initiative zu unterstützen. "Falls in Ihrem Hause entsprechende Unterlagen vorhanden sind, so können Sie diese an die Geschäftsstelle des BAH übermitteln. Der BAH wird die Unterlagen dann dem entsprechenden Forschungsinstitut zur Verfügung stellen." (lk) |
Kommissionsprüfung 1991
Die Existenz der Regelungen ist natürlich kein Beweis dafür, dass die an Klinischen Prüfungen Beteiligten, also Regierungen, Pharmaunternehmen und Kliniken, sich auch daran hielten. Die Berliner Senatsverwaltung hatte offenbar Zweifel und berief im Jahr 1991 eine Kommission ein, die den Auftrag erhielt, die Praxis von Arzneimittelprüfungen im Ostteil der Stadt aufzuklären. [4] Die Kommission besuchte Krankenhäuser und Forschungsinstitute in Ostberlin, sah Einzelunterlagen ein und sprach mit an Arzneimittelprüfungen in der DDR Beteiligten. Das Ergebnis: Die gewonnenen Informationen boten keinen Anhalt dafür, dass grundlegend andere Maßstäbe oder Vorgehensweisen als in der Bundesrepublik zur Anwendung gekommen waren.
Wie es dem politischen System entsprach, seien Zahlungen der Auftraggeber nicht – oder nur sehr geringe Beträge – an die ärztlichen Prüfleiter bzw. Institutionen geflossen, sondern vielmehr an die zentrale staatliche Stelle. Der Anreiz für die prüfenden Institutionen bestand insoweit weniger in finanziellen Vorteilen, sondern darin, dass die für das jeweilige Prüfvorhaben benötigten Gerätschaften, EDV und Verbrauchsmaterialien zur Verfügung gestellt wurden. Ostdeutsche Ärzte erhielten durch die Studien Zugang zu bestimmten Arzneimitteln, die sonst nicht zur Verfügung standen, und konnten reisen – angesichts der restriktiven Reisebestimmungen sicherlich kein geringer Anreiz.
Zwei Schwachstellen entdeckten die Prüfer aber doch. So fanden sich unter den überwiegend korrekt durchgeführten auch zwei Prüfungen, bei denen die Information und Einwilligung der Probanden unterblieben war. Im ersten Fall lag – "ethisch vertretbar" – eine Ausnahmegenehmigung vor, im anderen ging der Prüfleiter von einem "übergesetzlichen Notstand" aus. Der Kommission fiel außerdem auf, dass die im Fragebogen enthaltene Frage nach eventuell durch die Prüfung hervorgerufenen Schäden fast immer mit einem Nein beantwortet wurde. Möglicherweise deshalb, weil die als bekannt oder nicht schwerwiegend angesehene Nebenwirkungen nicht als Schaden gewertet und daher auch nicht gemeldet wurden.
Ausblick
Festzuhalten bleibt, dass die Vorgaben, die in der ehemaligen DDR zu Klinischen Prüfungen existierten, nicht weniger streng waren als in der westlichen Welt. Sie forderten in einigen Punkten sogar mehr als in der Bundesrepublik. Inwieweit die Bestimmungen aber auch tatsächlich eingehalten wurden, müssen nun Forschungsprojekte aufklären. Einige Projekte sind bereits dabei, die Vergangenheit aufzuarbeiten – unter anderem ein Projekt am Universitätsklinikum Jena und ein weiteres am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité in Berlin. Sowohl die Pharmaunternehmen als auch die Politik haben erklärt, Interesse an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung zu haben. Abhängig davon, was alle Projekte, die sich damit beschäftigen, ans Licht bringen werden, wird die Frage zu beantworten sein, wer die Verantwortung für möglicherweise verursachte Gesundheitsschäden an Studienteilnehmern übernehmen muss.
Kommentar
In der Pflicht
Nachdem die Medien das Thema der Klinischen Prüfungen in der ehemaligen DDR erneut auf die Tagesordnung gesetzt haben, heißt es jetzt Verantwortung zu übernehmen. Testeten ostdeutsche Kliniken im Auftrag westdeutscher Pharmaunternehmen Arzneimittel an DDR-Bürgern ohne deren Wissen? Die Pharmaunternehmen gehen heute davon aus, dass damals bestehende Gesetze und internationale Standards eingehalten wurden. Aber blindes Vertrauen genügt nicht: Auch fahrlässiges Handeln und Unterlassen sind im deutschen Recht relevant. Wer die Schädigung eines Menschen nicht sicher vorausgesehen hat, aber bei der jeweils erforderlichen und ihm zumutbaren Sorgfalt voraussehen und verhindern hätte können, der muss dafür gerade stehen. Die gleiche Verantwortung trifft auch die Politik. Denn dass die Kassen der DDR seinerzeit leer waren, war allseits bekannt, auch der westdeutschen Regierung. Sollte diese also in Kauf genommen haben, dass die DDR ihre eigenen Bürger "verkaufte" und deren Menschenrechte missachtete, muss auch sie dafür Verantwortung übernehmen.
Alle Beteiligten müssen jetzt an der Aufklärung mitwirken, jeder auf seine Art. Doch auch die Medien sind in der Pflicht. Sie müssen weiterhin Druck machen, damit es vorangeht. Sie müssen Fragen stellen, damit es Antworten gibt. Gleichzeitig sollten sie aber auch darauf achten, nicht voreilig Ängste zu schüren, ohne an die Folgen zu denken. Denn schon heute ist es nicht einfach, Probanden zu finden. Klinische Prüfungen als "Menschenversuche" zu bezeichnen – ein Begriff, der oftmals in Zusammenhang gebracht wird mit den unmenschlichen Vorgängen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern – fördert insoweit nicht gerade die Bereitschaft in der Bevölkerung, an Arzneimittelstudien teilzunehmen. Arzneimittel, die Menschen helfen sollen, müssen aber an Menschen getestet werden, das steht fest. In Anbetracht der möglichen Folgen, die eine zu unsachliche Berichterstattung haben könnte, sollten daher auch die Medien bei diesem heiklen Thema das richtige Maß an Fingerspitzengefühl beweisen.
Juliane Ziegler
Quellen:[1] Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln – Arzneimittelgesetz – vom 5. Mai 1964; verkündet im Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik vom 8. Mai 1964, Teil I Nr. 7, S. 101 ff.[2] Zwölfte Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz – Prüfung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin – vom 17. Mai 1976; verkündet im Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik vom 2. Juni 1976, Teil I Nr. 17, S. 248 ff.[3] Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln – Arzneimittelgesetz – vom 27. November 1986; verkündet im Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik vom 10. Dezember 1986, Teil I Nr. 37, S. 473 ff.[4] Mitteilungsblatt der Ärztekammer Berlin ("Berliner Ärzte"), Heft 10 vom 3. Oktober 1991, S. 16 ff.
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