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Unscharf, aber real
Ein Gastkommentar von G. Schulze
Eine kürzlich publizierte Studie des Robert Koch-Instituts belegt eine statistisch signifikante Häufung von Diabetes mellitus und Adipositas in Stadtquartieren mit eher schlechter Infrastruktur, geringem Steueraufkommen und einer Häufung von benachteiligten Lebenslagen (siehe DAZ.online, Meldung vom 28.2.2014). Die Autoren zitieren Untersuchungen aus aller Welt, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen.
Gilt etwa immer noch, was Heinrich Zille Anfang des 20. Jahrhunderts über die Wohnverhältnisse in den proletarischen Vierteln Berlins sagte? „Man kann einen Menschen mit einer Wohnung genauso erschlagen wie mit einer Axt.“ In seinen Lebenserinnerungen schildert Zille seine Ankunft in Berlin, als er neun Jahre alt war: „An den Wänden zerrissene Tapeten, Blutflecke von zerquetschten Wanzen. In einer Ecke ein Haufen Stroh, das sollte unser Bett sein …“. Klarer Fall: Die Kausalbeziehung zwischen Wohnquartier und Gesundheit kommt durch Krankheitserreger zustande.
Als Zille neun Jahre alt war, im Jahr 1867, dauerte es noch weitere neun Jahre, bis es Robert Koch gelang, den Erreger des Milzbrand-Bazillus außerhalb des Organismus zu kultivieren. Erst Kochs und Pasteurs Forschungen beendeten den Konflikt zweier Paradigmen, die statistische Zusammenhänge zwischen Wohnquartieren und Krankheiten, etwa Tuberkulose oder Cholera, kontrovers auslegten. Die Anhänger der Miasmentheorie, darunter auch Stars wie Virchow oder Pettenkofer, sahen giftige Ausdünstungen des Bodens am Werk, die „Kontagionisten“ dagegen Keime. Der menschliche Körper sei doch kein Zoo, hatte Virchow noch gespottet. So kann man sich irren.
Die Autoren der oben zitierten Studie äußern sich vorsichtiger: Ihre Ergebnisse seien keinesfalls kausal interpretierbar, da es sich lediglich um eine Querschnittsuntersuchung handle, also um eine Datenerhebung zu einem einzigen Zeitpunkt. Doch auch bei einer Längsschnittuntersuchung bliebe ein großer Rest von Ungewissheit.
Diese Interpretationslage ähnelt der eines Apothekers, der sich Gedanken über die Besonderheiten seines Einzugsgebiets macht. Dabei geht es im Grunde um Kausalbeziehungen besonderer Art, die in der Sozialforschung als Kontexteffekte bezeichnet werden. Gemeint sind Wirkungen, die mit dem räumlichen Zusammenleben von Menschen zu tun haben – wie bei der Übertragung von Infektionskrankheiten, nur dass es keine unter dem Mikroskop nachweisbaren „Erreger“ gibt.
Konkret: Je nach Stadtviertel verkehren die Menschen in unterschiedlichen Subkulturen („Jetzt brauchen wir erst mal was Süßes, komm schon“); sie bekommen Verschiedenes als normal vor Augen geführt („Wenn viele andere dick sind, macht es bei mir auch nichts aus“); Nachbarschaften sind selektiv zusammengesetzt (etwa nach Einkommen und Bildungsgrad); und Quartiere bieten ungleiche Handlungsmöglichkeiten (zum Beispiel Spazierwege, Fitnessstudios, therapeutische Angebote, Selbsthilfegruppen, nicht zuletzt Apotheken).
Kontexteffekte lassen sich nicht genau separieren und quantifizieren. Sie manifestieren sich nur indirekt und sind nicht so zweifelsfrei dingfest zu machen wie der Milzbrand-Erreger. Gezieltes Weiterforschen führt zwar immer zu mehr Klarheit, auch bei Kontexteffekten, aber letzte kausale Gewissheit ist grundsätzlich nicht zu erreichen. In der Studie kontrollierten die Forscher beispielsweise den Bildungsgrad statistisch; dabei konnten sie nachweisen, dass die Unterschiede zwischen Stadtquartieren nicht nur auf den selektiven Zuzug bestimmter Bildungsschichten zurückgehen.
Das bedeutet aber auch, dass weitere Kontexteffekte wirksam sind, über deren Ausmaß man nur Vermutungen anstellen kann. Hinzu kommt, dass der Bildungsgrad bei aller Gesundheitsrelevanz einen viel bescheideneren kausalanalytischen Status hat als der Milzbrand-Erreger. Bildung ist nur ein Indikator, der die eigentlichen kognitiven und kommunikativen Ursachen bestenfalls verschwommen anzeigt. Zu dieser Messproblematik gesellt sich die Unzugänglichkeit für experimentelle Verfahren. Kontexteffekte und ihre Indikatoren sind „präexperimentell“: Sie sind immer schon da und lassen sich nicht, wie ein zu testendes Medikament, im randomisierten Doppelblindversuch manipulieren. Man bleibt auf korrelative Studien mit ihrer kausalen Unschärfe angewiesen
In rein pharmazeutischen Denkzusammenhängen verhält sich dies anders. Bei den chemischen oder mikrobiologischen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit sind objektive Messverfahren und experimentelle Designs möglich. Doch der Apotheker als nebenberuflicher Epidemiologe seines Standorts kann sich darauf nicht zurückziehen. Er ist insofern ein methodologischer Grenzgänger zwischen den Forschungsgebieten von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft.
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