Aus den Ländern

Da gibt es Verbesserungspotenzial

Polymedikation und Patientensicherheit

MÜNSTER (diz) | Müssen Patienten mehrere Arzneimittel einnehmen und werden die Arzneimittel von verschiedenen Ärzten verordnet, steigt die Gefahr der Interaktionen, die Compliance sinkt. Die Polymedikation und die damit verbundenen Probleme sind eine Großbaustelle im Gesundheitswesen. Das Fazit der Tagung „Polymedikation und Patientensicherheit“, veranstaltet am 18. Juni vom Bundesverband Managed Care in Münster: Die Arzneimitteltherapiesicherheit könnte verbessert werden, wenn die Leistungserbringer stärker interagieren würden, damit nicht die Arzneimittel zum Nachteil von Lebensqualität und Gesundheit der Patienten interagieren und unnötig Finanz- und Zeitressourcen verschlingen.

Die über 65-jährigen Patienten erhalten die meisten Arzneimittelverordnungen, über 50 Prozent dieser Personen bekommen fünf oder mehr Arzneimittel, berichtete Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerin Barbara Steffens in ihrem Statement. Fünf Prozent aller Krankenhausfälle seien Folgen unerwünschter Arzneimittelwirkungen, zwei Prozent verlaufen tödlich, sagte sie. Hier sei ein großes Potenzial an Verbesserungen möglich. Steffens setzte sich dafür ein, die Kompetenzen des Heilberufs Apotheker besser zu nutzen. Nach ihrer Auffassung haben Ärzte keine Zeit und Ressourcen mehr für eine ausführliche Arzneimittelberatung – im Gegensatz zu den Apothekern, die stärker in die Arzneimitteltherapie eingebunden werden könnten.

Foto: DAZ/diz
Gesundheitsökonom Prof. Dr. Gerd Glaeske plädiert dafür, die Kompetenzen und das Wissen der Apotheker stärker zu nutzen, z.B. bei Interaktions-Checks und bei der Erstellung von Medikationsplänen.

Auch der Bremer Gesundheitsökonom Prof. Dr. Gerd Glaeske setzt beim Thema Polymedikation und den damit verbundenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen auf die Apotheken. Wie aus Daten der Barmer GEK hervorgeht, erhalten ein Drittel der über 65-Jährigen fünf oder mehr Wirkstoffe in Dauertherapie. Auf den Medikationslisten älterer Patienten stünden zum Teil weit über zehn Arzneimittel, „ein Interaktions-Check ist hier kaum noch möglich“, räumte Glaeske ein. Hier helfe meist nur, die Medikation neu aufzustellen. Das Problem dabei sei, so Glaeske, dass Patienten Verordnungen von verschiedenen Ärzten bekommen und ein Arzt die anderen Verordnungen nicht kennt. Aber es gebe auch zahlreiche Fälle, bei denen die Interaktionen durch die Verordnung eines Arztes ausgelöst werden. Glaeske: „40 Prozent der wichtigen Interaktionen kommen von einem Arzt, 60 Prozent durch die Verordnung mehrerer Ärzte!“ Hinzu kämen Interaktionen, die durch die in der Selbstmedikation erworbenen Arzneimittel hervorgerufen werden. Die Apotheker könnten bei der Vermeidung von Interaktionen eine stärkere Rolle spielen, denn sie seien die gelernten und kompetenten Fachleute für Arzneimittel, „man muss sie nur lassen“, so Glaeske. Er könne sich vorstellen, dass es Apotheken als Referenzzentren für Arzneimitteltherapie gebe, die entsprechende Überprüfungen der Medikation durchführen. Selbstverständlich müssten diese Apotheken für diese Tätigkeit auch honoriert werden.

Bessere Ausbildung und Schulung

Das Apo-AMTS-Konzept der Apothekerkammer Münster und des Instituts für Pharmazeutische und Medizinische Chemie der Universität Münster stellte Prof. Dr. Georg Hempel vor. Die Apotheke könne eine entscheidende Rolle zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) spielen. Das Münsteraner Modell ziele daher darauf ab, die Ausbildung von Pharmazeuten im Praktikum zu verbessern, die Apotheken auf zukünftige Aufgaben im Bereich von AMTS vorzubereiten und auch die ältere Apothekergeneration, die noch nach der früheren Approbationsordnung ausgebildet wurde, mit einzubeziehen. Ziel sei die Medikationsanalyse, das Medikationsmanagement, von dem insbesondere multimorbide Patienten mit Polymedikation profitieren. „Wenn für alle diese Patienten ein Medikationsplan angeboten würde, wäre schon viel geholfen“, so Hempel. Ein Medikationsplan trage wesentlich zur Arzneimitteltherapiesicherheit bei, er sei nicht nur für Patienten hilfreich, sondern auch für Ärzte und Apotheker. Für Hempel wäre in diesem Zusammenhang eine Pflichtfortbildung für Apotheker wünschenswert, um die Beratungsqualität zu verbessern.

Insbesondere in Altenheimen fordere die Komplexität der Pharmakotherapie einen multidisziplinären Ansatz, so die Klinische Pharmakologin Prof. Dr. Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke. Anhand eines durchgeführten Projekts in einem Alten- und Pflegeheim konnte sie zeigen, dass durch eine intensive Schulung des Pflegepersonals und eine verstärkte Zusammenarbeit mit den heimversorgenden Apotheken weit mehr an neurologischen Symptomen, ausgelöst durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen, aufgedeckt werden konnten als vorher.

Mehr Vernetzung

Auch im ärztlichen Bereich sieht Sonja Laag, Leiterin Versorgungsprogramme der Barmer GEK, noch Potenzial, um die mit der Polymedikation einhergehenden Probleme in den Griff zu bekommen. „Polymedikation ist auch das Ergebnis einer Gleichgültigkeit im System“, so Laag. Sie sieht Vorteile in einer wesentlich stärkeren Vernetzung der Ärzte. Ihre Vision: „Der Hausarzt der Zukunft ist ein Teamplayer, die moderne ärztliche Kunst ist die Kooperation.“ Die Kassen setzen auf die Vernetzung der Leistungserbringer.

Wie ein arztgestütztes Arzneimittelmanagement funktionieren kann, stellte Frank Meyer von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe am Beispiel des Projekts Gesundheitsregion Siegerland vor. Angesprochen werden hier vor allem Patienten, die länger als zwei Quartale mehr als fünf Arzneimittel einnehmen müssen. Haus- und Facharzt arbeiten hier eng bei der Therapieoptimierung zusammen. Ein Netzarzt führt das Medikationsmanagement, den Arzneimittel-Check (mithilfe der ABDA-Datenbank) und Patientengespräche durch und koordiniert die Medikation gemeinsam mit den mitbehandelnden Fachärzten. Er erstellt eine arztübergreifende Medikationsliste mit Berechnung der Medikationsreichweite. Wie erste Ergebnisse zeigen, konnte die Menge der verordneten Wirkstoffe leicht reduziert werden. Ziel sei es, auch die OTC-Präparate mit in die AMTS-Prüfung aufzunehmen.

Dass eine engere Vernetzung von Ärzten und Apothekern auch im Krankenhaus Vorteile bringen kann, stellte Krankenhausapothekerin Beate Heite, Prosper-Hospital Recklinghausen, vor. An diesem Krankenhaus werden Apotheker bereits bei der stationären Aufnahme der internistischen und geriatrischen Patienten tätig, sie stellen eine Arzneimittelanamnese auf und begleiten die Umstellung auf die Krankenhausmedikation. Durch eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Krankenhausapothekern wird die Auswahl der Medikation verbessert und die Zahl der Interaktionen verringert. Die Krankenhausapotheker identifizieren potenziell inadäquate Arzneimittel (Priscus-Liste), außerdem erfassen sie Wirkstoffe, die an den veränderten Stoffwechsel von geriatrischen Patienten angepasst werden müssen. Wie die Ergebnisse zeigen, konnte die Gesamtzahl der Wechselwirkungen um knapp ein Viertel reduziert werden. Die von den Apothekern vorgeschlagenen pharmazeutischen Interventionen wurden zu über 70 Prozent in der Entlassmedikation umgesetzt.

Als eine Hauptursache für die Polymedikation von Patienten sieht Brigitte Käser, Geschäftsführerin Gesundheitsmanagement ambulant der AOK Niedersachsen, die Kommunikationsdefizite auf allen Ebenen, zwischen Arzt und Patient, zwischen Haus- und Facharzt, insbesondere aber auch zwischen Arzt und Apotheker. Und es fehlt der Überblick über die Gesamtmedikation bei Arzt und Patient. Auch sie setzt daher auf die Erstellung eines vollständigen und ständig aktualisierten Medikationsplans. Der Patient sollte ihn bei jedem Arzt- und Apothekenbesuch vorlegen. 

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