Medizin

„Tinnitus vaskulärer oder involutiver Genese gibt es nicht!“

Nachfragen zu einer adjuvanten Tinnitus-Therapie mit Ginkgo

Prof. Dr. Gerhard Hesse und Dr. Helmut Schaaf raten in nebenstehendem Beitrag von der Einnahme von Medikamenten gegen Tinnitus ab. Das wirft Fragen auf, die uns Professor Hesse, Chefarzt der Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen und Mitglied der Leitlinien-Kommissionen Hörsturz und Tinnitus der Deutschen HNO-Gesellschaft beantwortet hat.

 

DAZ: Mit Tebonin® bei Ohrgeräuschen gibt es ein Ginkgo-Präparat, das zur adjuvanten Anwendung von Ohrgeräuschen vaskulärer und involutiver Genese als Arzneimittel zugelassen ist. Wie sehen Sie diese Indikationen?

Hesse: Wir haben uns in der Leitlinienkommission sowohl für Tinnitus als auch für Hörsturz mit der Literatur zum Ginkgo-Extrakt, also auch zu Tebonin® umfassend auseinandergesetzt und die entsprechende Literatur bewertet. Zunächst muss festgestellt werden, dass es einen Tinnitus vaskulärer oder involutiver Genese nicht gibt: Tinnitus kann als Folge von Hörminderungen entstehen, die auch auf einer Involution, d.h. einer Degeneration, etwa im Alter, basieren können. Aber dann ist nicht der Tinnitus selbst Teil der Degeneration, er entspricht ja gerade abnormer Aktivität der Hörbahn. Daher entspricht er eher einer kompensatorischen Hyperaktivität bei Hörverlust, als kortikale Reaktion. Wenn der Hörverlust etwa durch Medikamente wie auch Ginkgo verbessert werden könnte, dann könnte das auch den Tinnitus beeinflussen, das ist aber – leider – nicht der Fall.

 

DAZ: Eine solche Zulassung ist ja nicht so einfach zu erhalten. Es müssen Studien vorgelegt werden, die die Wirksamkeit beweisen. Der Hersteller verweist auf eine Metaanaylse von Von Bötticher: Neuropsych. Dis. Treat. 2011;7:441–447.

Hesse: Die „Metaanalyse“ des Herrn v. Bötticher ist nicht etwa publiziert in einer gelisteten HNO-Zeitschrift, sondern in einer Online-Publikation („Neuropsychiatric Disease and Treatment“). Diese Metaanalyse hat alle wichtigen Publikationen zum Thema ausgeschlossen wegen angeblicher methodischer Mängel und nur die drei Publikationen eingeschlossen, die sich für Gingko ausgesprochen haben, wiederum keine in einer hochwertigen HNO-Zeitschrift. Dagegen sind in den letzten Jahren mehrere Studien erschienen, die hochwertig sind, davon wurden zwei (Drew et al. 2001 im British Medical Journal und Holgers et al. in Audiology) durch v. Bötticher ausgeschlossen, die eindeutig belegen, dass Ginkgo nicht besser bei Tinnitus wirkt als Placebo. Zwei ganz aktuelle hochwertige Metaanalysen kommen, anders als Herr v. Bötticher, zu folgendem Ergebnis: die Cochrane-Analyse (Hilton et al. 2013), als Update einer Analyse von 2004, 2007 und 2009, kommt zu dem Ergebnis, Ginkgo sei nicht effektiv zur Behandlung des Tinnitus. Eine weitere hochwertige Metaanalyse von 2012 (Roland und Nergard) kommt zu dem gleichen Ergebnis. Hier wird nicht nur betont, Ginkgo-Extrakt sei bei Tinnitus unwirksam, sondern auch bei Demenz, bei akutem Schlaganfall und bei Claudicatio. Vielmehr vergrößere es sogar das Blutungsrisiko. Damit gibt es keine Daten, die den Effekt von Ginkgo belegen!

DAZ: Sie führen an, dass sich bei Anwendung von Ginkgo-Präparaten der Patient noch mehr auf seine Ohrgeräusche konzentriert und Strategien wie Retraining damit konterkariert werden. Könnte nicht auch der gegenteilige Effekt auftreten, also der, dass der Patient im Vertrauen auf die Einnahme eines wirksamen Arzneimittels die Hörgeräusche vermindert wahrnimmt?

Hesse: Ja, so arbeiten Placeboeffekte: Der Patient hofft auf Besserung, damit tritt sie dann ein – wenn auch meist nur kurzfristig. Hörtherapien, bei denen der Patient lernt, sein Ohrgeräusch zu überhören, funktionieren nur, wenn der Patient verstanden hat, dass sich das Ohrgeräusch als Fehlfunktion zentraler Steuerung und Überaktivität nicht durch ein Medikament abschalten lässt, sondern nur beeinflussbar ist durch eine Veränderung der Hörwahrnehmung.

DAZ: Herr Professor Hesse, vielen Dank für das Gespräch! 

 

Interview: Dr. Doris Uhl, Stuttgart

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