Alternativmedizin

Unheilbar krank

Welche Möglichkeiten bieten komplementärmedizinische Heilmethoden?

Ein Meinungsbeitrag von Markus Wiesenauer | Unheilbar krank – oder um den Fachbegriff zu verwenden: Krankheiten mit infauster Prognose. Natürlich denkt man spontan an Patienten mit bestimmten onkologischen Erkrankungen oder an solche mit progredientem Verlauf wie einer Myokardiopathie oder einer Niereninsuffizienz. Und gerade bei den unheilbar Kranken besteht oft – aus unterschiedlichen, jedoch sehr nachvollziehbaren Gründen – der Wunsch nach einer „anderen“ medizinischen Hilfe. Dabei wird nach „Alternativen“ gesucht und aus unterschiedlichen Quellen Informationen beschafft, die vielfach unreflektiert „Heilung“ beschreiben. Mangels ausreichender Kenntnisse oft individueller Verläufe und Dauer wird dann von Betroffenen und Angehörigen diesen Empfehlungen gefolgt. Deren Akzeptanz scheint dabei umso größer zu sein, je mehr es sich um Behandlungen handelt, deren Ursprung bzw. Ausgangsbasis in irgendeinem Zusammenhang mit der „Natur“ steht. Unreflektiert wird dann über das Internet bestellt; und selbst die damit verbundenen Kosten scheinen keine Rolle mehr zu spielen.

Eine berechtigte Frage drängt sich förmlich auf: Warum werden denn die originären Ansprechpartner wie Arzt und Apotheker nicht um ihre sachkundige Meinung zu besagten Empfehlungen gefragt? Wer jedoch schon einmal als Betroffener oder Angehöriger in dieser Rolle war, wird die oftmals alles andere als sachkundige Antwort nicht vergessen können. Letztlich trägt sie dann nicht zu einer Meinungsbildung bei, sondern bestärkt geradezu die reflektorische Handlung, es doch mal „alternativ“ zu versuchen. Und damit wird das eigentliche Problem deutlich, nämlich die unstrittige Gefahr, dass der Patient und damit oftmals auch seine Angehörigen in den Dunstkreis der Paramedizin geraten. An dieser Stelle bedarf es deshalb der Definition, dass die Begrifflichkeit „Alternativmedizin“ einem Ductus folgt, wonach sich dessen diagnostische und therapeutische Inhalte als Contra zur herrschenden Lehrmeinung stellen; immer mit dem mehr oder weniger ausgesprochenen Begleitton, dass es sich um harmlose, weil aus der Natur kommende Maßnahmen handelt. Dieser Gegensatz spitzt sich zu in der Anwendung chemisch-synthetischer Substanzen, deren Bezeichnung „Schulmedizin“ eine zugleich abwertende, weil risikoreiche Therapie vermittelt.

Insofern provoziert die Themenstellung geradezu eine Richtigstellung der Definitionen, wonach es sich im folgenden Beitrag nicht um alternative oder paramedizinische Methoden handelt. Vielmehr sind es aus arzneimittelrechtlicher Sicht die besonderen Therapierichtungen Phytotherapie, Homöopathie und Anthroposophie sowie die Naturheilverfahren, und hier besonders die Anwendungen der Kneipp`schen Therapie. Insofern erscheint es folgerichtig von Komplementärmedizin zu sprechen, deren Begrifflichkeit aus ärztlich-therapeutischer Sicht selbsterklärend ist. Dabei dokumentieren Huber und Michalsen auch die Verbreitung komplementärmedizinischer Verfahren und deren Einsatzbereiche aus Sicht der Anwender [1]. Eine kasuistische Betrachtungsweise kann die Fragestellung verdeutlichen, weshalb mit drei Beispielen bei jeweils unterschiedlicher Sichtweise die Thematik praxisbezogen dargestellt wird.

Ein Beispiel – aus Sicht des Patienten

Am Telefon berichtet eine mir unbekannte Anruferin: Sie sei 80 Jahre alt und habe eine sehr schmerzhafte Arthrose an mehreren Gelenken. In den vergangenen Jahren hat die schmerzhafte Bewegungseinschränkung dazu geführt, dass sie trotz familiärer Hilfe ihre Wohnung nicht mehr verlassen kann. Ihr Hausarzt verordnet deswegen Medikamente, die sie wegen Magenbeschwerden nicht konsequent einnehmen kann. Vor einem dreiviertel Jahr hat sie in einer Zeitschrift von der „homöopathischen Gelenkskur“ gelesen. Die zwei darin genannten Mittel habe sie seither eingenommen, also neun Monate lang. Unter der Behandlung habe sie in den ersten Wochen keine wesentliche Besserung verspürt, dennoch die beiden Mittel weiter genommen. Nach etwa vier- bis fünfmonatiger Einnahme seien die Schmerzen spürbar geringer geworden und die Gelenkbeweglichkeit habe zugenommen. Mithilfe eines Familienangehörigen könne sie jetzt ihre Wohnung verlassen und kleinere Spaziergänge machen, was jahrelang nicht mehr möglich gewesen sei. Ihr Arzt kann sich diese Besserung nicht erklären, da Arthrose unheilbar ist und mit Medikamenten nur die Schmerzen genommen werden können, ansonsten „müsse man damit leben“. Was hat die Dame eingenommen: Rhus toxicodendron D12, dreimal täglich eine Tablette im dreiwöchigen Wechsel mit Hekla lava D6, dreimal täglich eine Tablette. Zur Erläuterung: Rhus toxicodendron wird unter anderem bei den durch Arthrose bedingten Anlaufschmerzen angewendet; Hekla lava ist angezeigt unter anderem bei Arthrose und nachlassender Knochendichte [2].

Ein Beispiel – aus Sicht des Apothekers

Das folgende Beispiel aus meiner Praxis könnte sich vergleichbar auch in der Apotheke zutragen und soll deshalb als Beispiel aus Sicht des Apothekers stehen:

Der 60-jährige Patient kommt unregelmäßig in meine Praxis; anlässlich einer Konsultation bittet er um eine Empfehlung für seine 92 Jahre alte Mutter. Da sie bei mir keine Patientin ist und ich sie demzufolge nicht kenne, schildert er kurz die Situation: Die Mutter lebt nach einem Apoplex mit persistierender Halbseitenlähmung und Sprachstörungen seit sieben Jahren in einem Pflegeheim; in den letzten Jahren leidet sie zunehmend an Demenz, ist immobil und bedarf einer intensiven Pflege. Weitere Diagnosen sind Hypertonie, Hypercholesterinämie sowie ein seit Jahrzehnten bestehender insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ 1. Die dabei notwendige Medikation einschließlich Blutverdünner bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung, zumal die verordneten Substanzen hinlänglich bekannt und durch die Rabattverträge diktiert sind.

Mein Patient kommt nun auf die eigentliche Problematik zu sprechen. Bedingt durch die Immobilität und dem ständigen Liegen kommt es bei seiner Mutter zu anhaltendem Sekretstau in der Lunge. Die Verschleimung hat bereits dreimal zu einer Pneumonie geführt, die jedes Mal antibiotisch behandelt wurde. Die Ärztin, die das Pflegeheim betreut, habe seiner Mutter mehrfach Schleimlöser und die Bronchien erweiternde Medikamente verordnet, wodurch das Abhusten des zähen Schleims aber nicht wesentlich beeinflusst werden konnte. Auf meine Nachfrage schildert mein Patient, dass seine Mutter sehr kurzatmig sei, das laut hörbare Röcheln verstärke den Eindruck der Atemnot. Auch mit einem „Asthma-Spray“ (Salbutamol Dosieraerosol) haben sich die Symptome seiner Mutter nicht gebessert.

Seine Frage: „Gibt es in der Homöopathie ein Mittel, was ich meiner Mutter – in Abstimmung mit der Ärztin – geben könnte?“ Ja, lautet meine Antwort und ich rezeptiere das homöopathische Mittel Antimonium sulfuratum aurantiacum D6, dreimal täglich eine Tablette. Dabei weise ich darauf hin, dass die Tablette zusammen mit der bisherigen Medikation der Mutter gegeben werden kann. Als mein Patient drei Monate später wieder in meine Praxis kommt, bringt er als erstes das Gespräch auf seine Mutter. Er berichtet, dass es ihr mit der Atmung deutlich besser gehe, sie könne inzwischen abhusten und spucke auch den Schleim aus, das Röcheln sei nahezu verschwunden. Auch leide sie nicht mehr unter der nach Luft schnappenden Atmung. Im Übrigen habe sich die Ärztin des Pflegeheims sehr interessiert an der „neuen Substanz“ gezeigt. Zur Erläuterung: Antimonium sulfuratum aurantiacum wird unter anderem bei durch COPD und Asthma bronchiale bedingter Atemnot und muköser Sekretbildung angewendet [2].

Ein Beispiel – aus Sicht des Arztes

Vorgeschichte

Der 75-jährige Patient wird vom Kardiologen wegen Herzinsuffizienz NYHA III bis IV stationär in ein Stuttgarter Klinikum eingewiesen. Seit Monaten – und besonders in den letzten Wochen – verstärkt sich bei dem Patienten die Ruhedyspnoe, er lagert trotz forcierter Diurese massiv Flüssigkeit ein. Im Rahmen der stationären Diagnostik ergibt sich der Verdacht auf ein multiples Myelom mit Entwicklung einer kardialen Amyloidose, die sich klinisch als Kardiomyopathie zeigt. Der Patient wird deshalb auf die onkologische Station verlegt; nach weiterer, teilweise invasiver Diagnostik wird die onkologische Diagnose bestätigt. Die daraufhin angesetzte Chemotherapie mit Bortezomib, Cyclophosphamid und Dexamethason (VCD-Schema) wird mit insgesamt neun Zyklen durchgeführt. Die weitere Medikation ist in Tabelle 1.1 aufgelistet; unter Chemotherapie erleidet der Patient eine Herpes-zoster-Infektion sowie eine Pneumonie (Antibiotika-Infusion); der bestehende Diabetes mellitus Typ 2 entgleist unter der Steroidmedikation.

Anamnese und Untersuchung

Der Patient stellt sich in Begleitung seiner Ehefrau nach dem fünften Zyklus von insgesamt neun Zyklen der Chemotherapie mit Bortezomib, Cyclophosphamid und Dexamethason in meiner Praxis vor. Ihre Fragestellung ist die einer begleitenden naturheilkundlichen Behandlung. Der Patient ist in einem deutlich reduzierten Allgemeinzustand und muss von seiner Frau gestützt werden. Die Kurzatmigkeit ist deutlich zu hören, das Sprechen wird immer wieder unterbrochen von Husten und Räuspern. Er berichtet von körperlicher Schwäche, anhaltender Müdigkeit und Appetitlosigkeit; belastend sei auch die Verstopfung und der aufgetriebene Bauch. Bei der Untersuchung ist perkutorisch und auskultatorisch ein Erguss in der Lunge feststellbar; die ausführliche Auskultation des Herzens ergibt einen Sinusrhythmus mit vereinzelten Extrasystolen, die sich auch im EKG verifizieren lassen. Der Bauchraum ist stark gebläht, palpatorisch keine Druckschmerzen, der Dickdarm ist massiv gefüllt tastbar. Ausgeprägte Unterschenkel-Ödeme beidseits, Blutdruck 105 mmHg/55 mmHg; Puls arrythmisch mit 84 pro Minute.

Da der Patient über massive Rückenschmerzen klagt, die seine Bewegungsfähigkeit deutlich einschränken, untersuche ich die Wirbelsäule. Dabei gibt der Patient starke Schmerzen im Lendenwirbelbereich an. Neurologisch zeigen sich an den Beinen keine Auffälligkeiten. Auf intensive Nachfrage gibt der Patient an, bereits vor „einiger Zeit“ gestürzt zu sein, ohne dem Ereignis eine Bedeutung zu geben.

Aus den mitgebrachten Untersuchungsbefunden der Klinik ergibt sich als besonders relevant ein deutlich erhöhtes Gamma-GT von 284 U/l (Norm: < 60) sowie ein mit der Herzinsuffizienz assoziierter NT-proBNP-Wert von 7115 pg/ml (Norm: > 900), Erythrozyten mit 4,01 T/l (Norm: 4,5 bis 6,2) und Hämoglobin mit 12,0 g/dl (Norm: 14,0 bis 18,0) sind jeweils erniedrigt.

Konventionelles Prozedere

Nach Besprechung der Gesamtsituation im Hinblick auf die Schmerzsymptomatik weise ich den Patienten noch am selben Tag stationär in das Klinikum ein. Bei den daraufhin durchgeführten Untersuchungen zeigen sich im MRT multiple Wirbelkörper-Frakturen (Th 12, L 3 bis 5) sowie eine frische Deckplattenimpression im ersten Lendenwirbelkörper. Im Hinblick auf den Allgemeinzustand und die Kardiomyopathie kann die angezeigte chirurgische Versorgung der Wirbelsäule nicht vorgenommen werden.

Unter stationärem Verbleib wird die bisherige Medikation (Tab. 1.1) um ein hochdosiertes NSAR (Celecoxib 200 mg 1-0-0) erweitert sowie zusätzlich Vigantoletten® 1000 IE (1-0-0) eingesetzt. Aufgrund des nächsten (sechsten) Chemotherapie-Zyklus verbleibt der Patient in der Klinik für insgesamt fünf Tage. Unmittelbar nach seiner Entlassung stellt er sich erneut in Begleitung seiner Frau in meiner Praxis vor; insbesondere die Schmerzen am Rücken seien trotz der Medikamente nicht wesentlich besser, inzwischen könne er sich nicht mehr allein ankleiden. Das ist auch dem anhaltend schlechten Allgemeinzustand geschuldet, der sich im Vergleich zum ersten Termin noch weiter verschlechtert hat.

Bei diesem zweiten Termin fällt auf, dass der Patient Anzeichen einer Desorientiertheit hat und angibt, das „zutreffende Wort“ oft nicht mehr zu finden. Erstmals spricht der Patient auch an, „ob denn die Behandlung für ihn noch Sinn mache: einschlafen und sterben sei doch das Beste für ihn“.

Komplementärmedizinisches Prozedere

In der Zusammenschau der jetzigen (konventionellen) Medikation bietet die Komplementärmedizin durchaus therapeutische Ansätze. Neben den Hinweisen zur Ernährung (häufige, kleine Mahlzeiten) und der ausreichenden Flüssigkeitszufuhr verordne ich:

  • Zur Lokalbehandlung der Beinödeme Sabdariffa-Salbe® DHU, zweimal täglich erst das rechte, dann das linke Bein von unten nach oben einmassieren.
  • Durch die Wirbelkörper-Frakturen kommt es zu dem reflektorischen, schmerzhaften Hartspann der Rückenmuskulatur, weshalb Aconitum Schmerzöl® Wala verordnet wird, zweimal täglich von oben nach unten die Rückenmuskulatur einreiben.

Beide Maßnahmen werden von seiner Frau durchgeführt.

Die konventionelle Medikation (Tab. 1.1) modifiziere ich durch:

  • Reduzierung von Ramipril auf 2,5 mg bei abendlicher Anwendung, deshalb
  • zusätzliche Verordnung von Crataegutt® (Weißdornblätter mit Blüten) 600 mg 1-1-1,
  • Absetzen von Movicol® und Laxoberal®, deshalb
  • Verordnung von Pascomucil® (Flohsamen-Schalen).

Die Schmerztherapie wird wie folgt umgestellt:

  • Reduzierung von Celecoxib auf 100 mg/Tag,
  • Verordnung von Bryonia D6, viermal täglich fünf Globuli
  • einmal wöchentlich eine subkutane Behandlung („Quaddel-Therapie“) paravertebral im LWS-Bereich mit einer Mischinjektion von Procain 2% und APXII® (enthält Calcium fluoratum D8, Silicea D10, Acidum formicicum D6), wozu der Patient in meine Praxis kommt.

Verlauf Rückenschmerzen

Innerhalb eines Monats kommt es zu einem Rückgang der Schmerzsymptomatik bei zunehmender Mobilität des Patienten; er hat von sich aus (!) Celecoxib abgesetzt und Novalgin® auf abends eine Tablette reduziert. Die Quaddel-Therapie wird fortgesetzt, jeweils mit einwöchiger Unterbrechung bedingt durch die Chemotherapie.

Die Atemnot und auch das Allgemeinbefinden haben sich gebessert, der Appetit ist jetzt wieder vermehrt, der Stuhlgang ist nahezu regelmäßig, der zuvor massiv geblähte Bauchraum ist rückläufig. Bei den Folgeterminen zeigt sich eine stetige Besserung der Rückenschmerzen. Inzwischen kann sich der Patient wieder selbst ankleiden und kommt nunmehr allein in die Praxis. Die subkutane Wirbelsäulentherapie wird deshalb beendet, auch Bryonia war zuvor abgesetzt und durch Hekla lava D6, dreimal täglich eine Tablette ersetzt worden; Novalgin® hatte der Patient nicht mehr eingenommen. Die Lokalbehandlung wird fortgesetzt.

Verlauf Herzinsuffizienz

Nach Abschluss der neun Chemotherapie-Zyklen (Juni 2013 bis März 2014) wird im Abschlussbericht des Klinikums die Therapie des multiplen Myeloms mit „Ansprechen“ auf das VCD-Schema beurteilt und eine Fortsetzung als „derzeit nicht indiziert“ beschrieben. Deshalb empfiehlt das kardiologische Zentrum des Klinikums die bisherige Therapie fortzusetzten (Tab. 1.1). Das Gamma-GT ist weiterhin mit 312 U/l unverändert erhöht, Erythrozyten und Hb-Wert erniedrigt, der Rückgang des NT-proBNP-Wert von 7115 pg/ml auf inzwischen 4656 pg/ml wird im Abschlussbericht positiv vermerkt.

Zusammen mit dem stabileren Allgemeinzustand sieht der Verfasser hierbei einen Zusammenhang mit dem hochdosierten Weißdorn-Extrakt-Präparat. Insofern steht die kardiale Amyloidose im Mittelpunkt der weiteren Behandlung. Dies ist auch die zentrale Frage des Patienten und seiner Ehefrau, ob sich die „Herzerkrankung“ vergleichbar behandeln lasse wie die inzwischen abgeklungenen Wirbelsäulenschmerzen. Aktuell ist die kardiale Situation besser als noch vor Wochen. Für den Patienten weiterhin belastend ist die Dyspnoe, die Nykturie hat sich auf zwei- bis dreimal reduziert, die Beinödeme sind morgens geringer, verstärken sich zum Nachmittag und Abend hin; eine probatorische Erhöhung des Diuretikums war ohne wesentlichen Einfluss. Der Blutdruck liegt bei 110 mmHg/75 mmHg, Puls 76 pro Minute, vereinzelt Extrasystolen.

Den komplementärmedizinischen Medikationsanteil zeigt Tabelle 1.2; zusätzlich erhält der Patient einmal wöchentlich eine Injektion von Cor GI® Wala (Organpräparat) Serienpackung I und Cor-Injektopas® (enthält Cactus-Urtinktur, Strophantus D2, Aurum metallicum D6). Die Verordnung von Hepatodoron® erfolgt im Hinblick auf den erhöhten Gamma-GT-Wert und der aus naturheilkundlicher Sicht notwendigen Nachbehandlung der Chemotherapie. Unter dem in den Tabellen 1.1 und 1.2 aufgeführten Therapiekonzept und der wöchentlichen Injektion der beiden genannten Ampullen-Präparate stabilisiert sich der Patient zunehmend, sowohl somatisch wie auch psychisch. Inzwischen arbeitet er wieder in seinem eigenen Handwerksbetrieb mit. Selbst bei raschem Gehen, was wieder möglich ist, kommt es nur zu einer leichten Belastungsdyspnoe; die Nykturie hat sich auf ein- bis zweimal pro Nacht reduziert. Auffallend ist auch der Rückgang der Ödeme, die sich als diskrete Knöchelödeme nur noch am Abend zeigen. Die pathologischen Laborwerte sind weiter rückläufig; das Gamma-GT hat sich auf 164 U/l (zuvor: 284 U/l) reduziert; angestiegen ist der Hb-Wert auf 13,5 g/dl (zuvor: 12,0 g/dl), die Erythrozyten sind inzwischen mit 4,78 T/l im Normbereich (zuvor: 4,01 T/l). Die Lebensqualität des Patienten ist trotz der Vorbehandlung und der Prognose eines multiplen Myeloms derzeit stabil, zumal unter Berücksichtigung von Lebensalter und Schwere der Erkrankung. Die Fortführung der Behandlung respektive eine eventuelle Modifikation orientiert sich deshalb am Befinden wie auch am Befund.

Personalisierte Medizin

In der aktuellen Diskussion um Aufgaben des Apothekers, hier insbesondere die Arzneimitteltherapiesicherheit, wird bislang das Thema Komplementärmedizin völlig ausgeblendet. Wenn es angesprochen wird, dann allenfalls mit Blick auf mögliche Interaktionen pflanzlicher Arzneimittel; der therapeutische Benefit bleibt weitgehend unberücksichtigt. Demgegenüber bildet die ambulante Patientenversorgung jedoch ein ganz anderes Bild ab, wie die Inanspruchnahme komplementärmedizinischer Methoden bei chronischen Erkrankungen immer wieder zeigt [3, 4]. Personalisierte Medizin kann sich jedoch nicht ausschließlich auf die Anwendung chemisch-synthetischer Medikamente beschränken [5]. Vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen nicht als Alternative sondern als eine Add-on-Medikation die Verträglichkeit und Dosierung der notwendigen chemisch-synthetischen Medikation optimiert. Dadurch lässt sich ein nachvollziehbarer Beitrag für die Lebensqualität erzielen; der Fokus kann nicht nur auf die Überlebensdauer bei unheilbar Kranken gerichtet werden im Sinne eines quantitativen Merkmals.

Integrative Onkologie

Die Evidenz zur integrativen Onkologie beschränkt sich zumeist auf die Bewertung von Einzelmaßnahmen in definierten Settings. Die Routineversorgung findet aber in einem komplexen Kontext mit sehr individuellen Patienten statt. Benötigt werden demnach Studien, die Therapiealternativen direkt vergleichen, patientenrelevante Ergebnisparameter verwenden und unter meist weniger standardisierten Alltagsbedingungen ablaufen [6]. Im angelsächsischen Raum hat sich in den letzten Jahren für diese Art von Forschung die Bezeichnung „CER“ etabliert: Comparative Effectiveness Research, deren Plausibilität Witt et al. am Beispiel der Komplementärmedizin bei Brustkrebs dargestellt haben [6]. Eine Brustkrebs-Therapie führt bei vielen Patientinnen zu Einschränkungen in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht. Abhängig von Alter, Operationsmethode und systemischer Behandlung sind die Patientinnen unterschiedlich stark betroffen, wie eine Befragung von Mammakarzinom-Patientinnen zu den Langzeitfolgen ergab. Jüngere Patientinnen litten stärker unter psychischen Folgen als ältere. 25% erlebten eine Veränderung in ihrer Partnerschaft; vor der Erkrankung konsultierten 9% einen Psychiater/Psychotherapeuten, nach der Erkrankung 19%; vor der Brustkrebs-Diagnose nahmen 14% Psychopharmaka ein, nachher 26% [7].

Multimodales Behandlungskonzept

Aus Sicht der Komplementärmedizin ist gerade bei Erkrankungen mit infauster Prognose ein multimodales Behandlungskonzept notwendig. Besonders beim onkologischen Patienten und seinen Angehörigen wird die Anwendung der Mistel am häufigsten thematisiert. Die Hauptindikation der Mistel in der komplementären Krebstherapie ist jedoch die Begleitbehandlung zur konventionellen Therapie mit dem Ziel, ihrer Verträglichkeit zu verbessern, ihre Nebenwirkungen zu mindern und die Lebensqualität der Patienten zu optimieren. Einem Review der Cochrane Collaboration zur Mistel-Therapie zufolge konnte dies in der Mehrzahl der hierzu durchgeführten Therapiestudien zumindest in Teilbereichen erzielt werden. Wenn dabei auf die methodischen Schwächen bei einem Teil der Studien hingewiesen wird, so muss einschränkend festgestellt werden, dass das Review bereits 2008 publiziert wurde [8].

Aktuell wurde von Tröger et al. eine Publikation zur Lebensqualität von Patienten mit fortgeschrittenem Pankreaskarzinom unter Mistel-Therapie veröffentlicht. Die Autoren schlussfolgern aus der randomisierten Phase-III-Studie, dass die Mistel-Therapie bei Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Pankreaskarzinom im Vergleich zur alleinigen „best supportive care“ die Lebensqualität signifikant verbessert. Die Mistel-Therapie erwies sich als wirksame Zweit-Linien-Therapie [9]. Diese Publikation veranlasste einen klinisch-wissenschaftlich tätigen Onkologen zu einem Editorial, in dem er sich wie folgt äußert: „Werden diese Ergebnisse zur Mistel-Therapie bei Pankreaskarzinom meine Gespräche und Empfehlungen für Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung beeinflussen? Ich denke, nein.“ [10].

Aus Sicht der Hausarztmedizin mit ihrer Schnittstelle zur öffentlichen Apotheke würde die Antwort ganz anders lauten, anders lauten müssen. Der Betroffene, der mit seinen Angehörigen in meinem Sprechzimmer sitzt, erwartet eine auf Erfahrung basierende Antwort; sie gipfelt häufig in der konkreten Frage: „Was würden Sie an meiner Stelle tun?“

Es gibt eine Praxiserfahrung, die nicht publik gemacht wird, denn nicht selten handelt es sich dabei um einen ärztlichen oder pharmazeutischen Kollegen, der in seiner jetzigen Rolle als Patient – also der Leidende – vielmehr auf die ärztliche Erfahrung baut als auf die Datenlage. Für den Betroffenen zählt in einer solchen Situation das, was der Therapeut in vergleichbaren Situationen erfahren und beobachtet hat und welche Schlussfolgerungen er für sein therapeutisches Handeln daraus zieht. Und so gehört die Mistel-Therapie als ein wesentliches Element zu einem multimodalen Behandlungskonzept bei onkologischen Patienten dazu. Dies gilt bei lokaler und allgemeiner Verträglichkeit der Mistel grundsätzlich, aus meiner Sicht insbesondere nach Abschluss der Chemo- und Radiotherapie, sowie während einer endokrinen Therapie, was gerade für Patienten mit einem Mamma- oder Prostatakarzinom zutrifft [11]. Die Publikationsreihe „Die Mistel in der Tumortherapie“ ist aufgrund der medizinischen und pharmazeutischen Interdisziplinarität hervorzuheben [12].

Homöopathie in der Supportivtherapie [2]

  • Zeitpunkt der Diagnosestellung
  • prä- und postoperative Behandlung
  • Bestrahlungsbehandlung
  • Chemotherapie
  • endokrine Therapie (Hormontherapie)
  • Metastasen-Begleitbehandlung
  • Nachsorge, Schmerztherapie, Palliativtherapie

Homöopathie in der supportiven Therapie

Ein komplementärmedizinischer Ansatz in der supportiven Therapie ist auch die Homöopathie. Ihre Inanspruchnahme auch und gerade bei schweren oder infausten Erkrankungen ist vielfältig dokumentiert, wobei auf die Untersuchung von Witt et al. beispielhaft hingewiesen wird [13]. Nicht nur in der Onkologie erweist sich die Homöopathie in den unterschiedlichen Phasen, die der Patient durchlaufen muss, als therapeutisch hilfreich (siehe Kasten „Homöopathie in der Supportivtherapie“ und Tab. 2). Dabei kann die Homöopathie im Sinne einer Add-on-Therapie sowohl mit konventionellen wie auch mit anderen komplementärmedizinischen Verfahren kombiniert werden.

Anforderung an Medizin und Pharmazie

Anforderung – oder korrekterweise Herausforderung – an Medizin und Pharmazie ist die Implementierung der Komplementärmedizin. Das sollte sich nicht nur auf unheilbare Krankheiten begrenzen, sondern das gesamte Spektrum an akuten und chronischen Krankheiten umfassen. Schaut man sich die Forschungsprojekte der universitären Abteilungen der Allgemeinmedizin an, dann steht die Versorgungsforschung generell im Fokus, auch unter Berücksichtigung der Komplementärmedizin. Dies zeigen auch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), die im Übrigen eine AG Komplementärmedizin installiert hat. Beispielhaft sind auch die Datenbank PhytoVIS zu nennen, die als Plattform für die Langzeiterfassung von Phytopharmaka-Nutzungsdaten etabliert wurde [14], sowie S3-Leitlinien zu unterschiedlichen Indikationen. Dabei werden teilweise auch Phytopharmaka mit einem hohen Empfehlungsgrad bewertet. So auch in der Leitlinie „unipolare Depression“, die explizit die Anwendung von Johanniskraut-Extrakt nennt.

Für die Pharmazie ist in diesem Zusammenhang die curriculare Weiterbildung „Naturheilkunde und Homöopathie“ zu nennen, die unverändert zu der am meisten nachgefragten Zusatzbezeichnung der Approbierten gehört [15]. Diese Postgraduate-Ausbildung beinhaltet die Patientenversorgung aus Sicht der Komplementärmedizin mit ihren Anwendungs- und Empfehlungsmöglichkeiten, was sich aus dem von der Bundesapothekerkammer (BAK) formulierten Weiterbildungsziel ergibt: „Die Zusatzbezeichnung „Homöopathie und Naturheilkunde“ umfasst den Bereich der Beratung zu Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen. Ziel ist es, die Beratung der Bevölkerung zu Fragen der Naturheilkunde und Homöopathie durch Apothekerinnen und Apotheker zu optimieren. Sie dient der Gesunderhaltung im Sinne einer Vorbeugung und der Behandlung von Krankheiten im Rahmen der Selbstmedikation. Dem zunehmenden Interesse der Bevölkerung an Naturheilmitteln ist durch sachkundige Information und Beratung in den Apotheken Rechnung zu tragen.“ 

Quellen

[1] Huber R, Michalsen A (Hrsg.). Checkliste Komplementärmedizin, Haug-Verlag Stuttgart 2014

[2] Wiesenauer M. Homöopathie für Apotheker und Ärzte. Loseblattwerk mit 16. Erg. Deutscher Apotheker Verlag Stuttgart 2014

[3] Canaway R, Manderson L. Quality of life, perceptions of health and illness and complementary therapy use among people with type 2 diabetes and cardiovascular disease. J Altern Complement Med (2013)19(11):882-890

[4] Murthy V, Sibbritt D, Adams J, Broom A, Kirby E, Refshauge K.M. Consultations with complementary and alternative medicine practitioners amongst wider care options for back pain. Clin Rheumatol (2014)33(2):253-262

[5] Kraft K. Editorial: Personalisierte Medizin – das Rad wurde neu erfunden. Forsch Komplementmed (2014)21:152-153

[6] Witt M et al. Effectiveness of an additional individualized multi-component complementary medicine treatment on health-realted quality of life in breast cancer patients: A pragmatic randomized trial. Forsch Komplementmed (2014)21(suppl. 1):45

[7] Feiten S, Dünnebacke J, Heymanns J, Köppler H, Thomalla J, van Roye C, Wey D, Weide R. Breast cancer morbidity – questionnaire survey of patients on the long term effects of disease and adjuvant therapy. Dtsch Arztebl Int (2014)111:537-544

[8] Horneber M, Bueschel G, Huber R, Linde K, Rostock M. Mistletoe therapy in oncology. Cochrane Database Syst Rev 2008;CD003297

[9] Tröger W et al. Quality of life of patients with advanced pancreatic cancer during treatment with mistletoe – a randomized controlled trial. Dtsch Arztebl Int (2014)111:493-502

[10] Lordick F. Mistletoe treatment for cancer – promising or passe? Dtsch Arztebl Int (2014)111:491-492

[11] Rostock M. Das Potenzial der Phytotherapie bei Erkrankungen der Prostata mit Schwerpunkt Prostatakarzinom. Forsch Komplementmed (2014)21(suppl.1):2-18

[12] Scheer R, Alban S, Becker H, Blaschek W, Kemper F.H, Kreis W, Matthes H, Schilcher H, Stange R (Hrsg.). Die Mistel in der Tumortherapie Band 3. KVC-Verlag Essen (2013)

[13] Witt CM, Lüdtke R, Baur R, Willich SN. Homeopathic medical practice: long-term results of a cohort study with 3981 patients.BMCH Public Health (2005)Nov.3;5:115

[14) Meng G. Versorgungsforschung – ein wichtiges Instrument der Zukunft zum Beleg des Nutzens von (pflanzlichen) Arzneimitteln. Forsch Komplementmed (2014)21(suppl.1):19-28

[15] Wiesenauer M. Weiterbildung Homöopathie und Naturheilkunde - eine Bestandsaufnahme. Dtsch Apoth Ztg (2013)12:1212-1214

 

Autor

Foto: DAZ/Reimo Schaaf

Dr. med. Markus Wiesenauer

Facharzt für Allgemeinmedizin

Homöopathie – Naturheilverfahren – Umweltmedizin

An der Glockenkelter 14

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