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- DAZ 49/2014
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Quergedacht
Am Tiefpunkt
Nachdenkliches über das Verhältnis der Apotheker zu den Krankenkassen
Ungeachtet dessen, dass an etlichen Stellen dringender Handlungsbedarf auch und gerade im Hinblick auf die Patientenversorgung und nicht nur zum Wohle der „Leistungserbringer“ besteht – folgende Fakten sollten wir nicht außer Acht lassen:
- Mit den gesetzlichen Krankenkassen werden insgesamt inzwischen fast 75 Prozent des Umsatzes gemacht, Tendenz steigend. Lässt man die Spezialversorgung (z.B. Parenteralia) weg, sind es für die typische Offizinapotheke immer noch rund 70 Prozent, auf dem Land und in Randlagen deutlich mehr. So betrachtet ist die GKV der größte Apothekenkunde.
- Das Allermeiste wird taggenau pünktlich bezahlt, und zwar zu centgenau kalkulierbaren, festen Preisen ohne Nachverhandlungen, „Kick-Backs“ und anderen Überraschungen.
- Das Ausfall- und Insolvenzrisiko geht bislang und absehbar gegen Null.
Das sind Randbedingungen, von denen man in der sonstigen, „freien“ Wirtschaft nur träumt. Nicht bezahlte Rechnungen wegen geringer Mängel, Ausfälle durch bisweilen sogar bewusst in Kauf genommene Pleiten auftraggebender Zwischenfirmen, harte Nachverhandlungen und Mengen- sowie Qualitätsdiktate – gerade, wer große Auftraggeber beliefert, muss sich „draußen“ warm anziehen.
In dieser „freien Wirtschaft“ mit ihren rauen Bedingungen von A wie Automobilindustrie über H wie Handwerk bis Z wie Zulieferindustrien aller Art wird hingegen ein Großteil der Beiträge erwirtschaftet, über welche unsere gut ausgebaute „Sozialindustrie“ über die Köpfe der Beitragszahler hinweg immer noch recht generös verfügt.
So betrachtet sind unsere Probleme mit Retaxationen und Formalitäten-Irrsinn zwar höchst ärgerlich, treffen aber wirtschaftlich in der Summe noch kaum – alle Rechnungskürzungen zusammen bewegen sich unter 1 Prozent des Gesamtumsatzes mit den Kassen. Man muss sogar die Frage stellen, ob sich der Aufwand für die Krankenkassen überhaupt rechnet. Schließlich dürfte mittlerweile bundesweit eine vierstellige Zahl an „Rezeptprüfern“ tätig sein, und das heute vor allem in privaten „Dienstleistungsfirmen“, also womöglich gar erfolgshonorierten Subunternehmen, was sicher ein nicht unproblematisches Detail ist. Und so können sich im, wenn auch praktisch seltenen Einzelfall nicht bezahlte „Hochpreiser“ existenziell auswirken. Unter dem Strich gilt jedoch hier eher der Grundsatz: „Bestrafe einen – erziehe Tausende“ (nach Mao Tse-tung). Der Eindruck bleibt, dass es gar nicht so sehr ums Geld geht. Man kann sich mit solch albernen Rechnungskürzungen nicht gesund sparen, allein ein einzelnes Krebs- oder Hepatitismittel macht das schon wieder vielfach zunichte! Es geht um Disziplinierung, „Erziehung“, Vertragstreue, die Munitionierung für Verhandlungen, vielleicht um Macht.
Und damit kommen wir zum Kern der nicht wegzuleugnenden Probleme: Die Atmosphäre liegt im Argen, die Stimmung ist schlechter als die Lage. Und an der Basis wächst die Wut weiter. Dabei werden auf beiden Seiten Fehler gemacht.
Seit Jahren sind bereits die Anzeichen einer Depersonalisation auszumachen: Die Kassen reden von „Leistungserbringern“ und „Marktbeteiligten“, das Wort „Rabattpartner“ klingt da fast höhnisch. Kühle Institutionalisierung, auch Professionalisierung, legt sich wie Mehltau über die Branche. Es scheint geradezu egal zu sein, ob die Firma X oder Y liefern, wo diese sitzen, ob dahinter lokale Unternehmer oder fernöstliche Kapitalgesellschaften stehen: Es zählen Preis und das Erfüllen gewisser Kriterien, die in EDV-verarbeitbaren Listen niedergelegt sind. Eigentlich könnten Roboter die Aufträge vergeben. Depersonalisation ist übrigens ein typisches Merkmal autoritärer Strukturen, in denen man nicht mehr von Herrn oder Frau XY, sondern von „Objekten“ spricht.
Es ist diese professionalisierte, unpersönliche Art, die sich in Kleinigkeiten wie automatisierten Anschreiben („sehr geehrte(r) Teilnehmer(in)“, „ohne Unterschrift gültig“) fortsetzt. Umklammert wird das durch die Macht der Rechner, auf dem Weg in die „digitale Diktatur“: Totalkontrolle pur.
Das führt zu Ohnmacht und Hilflosigkeit, irgendwann zu Wut. Richtig durchblicken tut in diesem regulatorischen Overkill schon lange niemand mehr. Damit schwingt bei allem und jedem die Unsicherheit mit: Habe ich alles richtig gemacht? So etwas zerstört auf Dauer jede Motivation. Und dabei kann man nicht einmal die Vertreter der Kostenträger persönlich verantwortlich machen, auch wenn dies viele versuchen: Sie sind ebenfalls Gefangene des Systems mit erstaunlich geringen Handlungsfreiheiten.
Und so macht man sich andererseits keine Freunde, wenn man seine größten Kunden als „KraKas“ oder „kranke Kassen“ bezeichnet und ständig die überhöhten Gehälter der Führungsebene anprangert. Für das Gehalt eines Kassenvorstandes besetzen Sie in der Großindustrie nicht mal eine Position auf höherer Bereichsleiterebene, von Vorständen und Geschäftsführern ganz zu schweigen! Auch der Verweis auf die hohen Verwaltungskosten ist wenig zielführend: 5 Prozent des Gesamtbudgets sind im Vergleich zu anderen Ländern oder anderen Sozialinstitutionen nicht allzu viel, zumal angesichts der Fülle gesetzlich definierter Aufgaben. Sicher gibt es dort Optimierungsmöglichkeiten, doch saniert man damit das System nicht.
Ertragreichere Ansatzpunkte liegen viel mehr in den gefolgten, mehrfach höheren Verwaltungskosten, also der Bürokratie, welche die „Leistungserbringer“ zu schultern haben. Leider ist viel von dieser Bürokratie der stets unüberschaubareren, gesetzlichen Regulierungswut geschuldet, was seinerseits seinen Niederschlag in immer komplizierteren Lieferverträgen und Lieferantenbeziehungen aller Art findet. Das System steckt in einer Komplexitätsfalle, eine Konsequenz des Prinzips: „Für alles eine Regel, für nichts Vernunft und Eigenverantwortung“. Dummerweise stehen bei derart eingeengten Spielräumen die Kostenträger selbst unter Druck: Halten sie die Regeln nicht ein, machen sie sich ihrerseits angreifbar. Das sind keine guten Entwicklungen, doch sind sie bislang so gewollt. Schließlich soll ja alles „transparent“ sein, das schafft man vermeintlich durch eine zunehmende Verrechtlichung. Aus einem sinnvoll umzäunten Gelände ist inzwischen jedoch ein unüberschaubares Dickicht geworden.
Naheliegende Lösungsansätze
Komplexitätsfallen zu lösen ist seinerseits ein komplexer Prozess, solange nicht die politische Bereitschaft besteht, „mit der Machete“ im Dickicht aufzuräumen. Dazu funktioniert das Ganze jedoch (noch) zu gut. Auf Machete und Bulldozer wird man noch Jahre warten müssen. Praktisch können daher nur clevere Detaillösungen eine spürbare Entlastung bringen.
Obenan steht sicher eine atmosphärische Entspannungspolitik. So wäre zu überlegen, auf erfahrene Mediatoren zurückzugreifen und das Instrument der Schlichtung zu beleben. Vielleicht bedarf es einfach kluger Köpfe aus anderen Branchen, die wohl erst einmal fassungslos wären in Anbetracht der vielen Kleinkriege. Aufwendige Logistikstrukturen und komplexe, kleinteilige Wertschöpfungsketten gilt es auch andernorts zu beherrschen, in Branchen, in denen ganz anderer Preisdruck herrscht. Es gibt also sicher Lösungen, von denen sich unser System etwas abschauen kann.
Die Konsequenz sollte eine ernsthaft betriebene Entschlackung und Begradigung der Lieferverträge sein, denn diese hat die „Selbstverwaltung“ auch ohne Gesetzgeber in der Hand. Das verlangt allerdings auf allen Seiten nach einer Abkehr vom kleinkarierten Pfennig- und Cent-Denken – mit einer souveränen und stilvollen Verhandlungsführung. Das erfordert Übersicht, ein Erkennen der Auswirkungen für jeweils beide Verhandlungsseiten, wenn an gewissen „Stellschrauben“ gedreht wird, ein Beherrschen von Szenario-Techniken. Hier kommen bislang gewisse Zweifel auf – es entsteht ein Bild der Unbeholfenheit, vieles scheint in der Sackgasse zu stecken. Auch das ein Grund, vielleicht echte Verhandlungsprofis heranzulassen.
Daneben geht es darum, für die Basis wieder mehr Berechenbarkeit und Risikominimierung zu erzielen und den heutigen Motivationskiller Nummer 1 – Kontroll- und Prüfwahn – auf das gebotene Maß zurückzustutzen. Kleinste Formfehler dürfen nicht den „Kopf“ kosten. So etwas ist einer freiheitlichen, kultivierten Gesellschaft, die selbst Gewaltexzesse noch mit Sozialstunden ahndet, schlicht unwürdig. Im Grunde ist es doch ganz einfach: Ist der Wille des Arztes hinsichtlich Wirkstoff, Dosierung und Applikationsart eindeutig, hat die Versorgung und Gesundheit des letztlich ja mit seinen Beiträgen zahlenden Patienten im Vordergrund zu stehen. Die Krankenkasse steht damit in jedem Falle in der Leistungspflicht, allenfalls sollten sich Differenzbeträge des abgegebenen zum vertraglich gebotenen Präparat geltend machen lassen. Idealerweise regelt man das in den erwähnten Lieferverträgen, aber es gibt hier Grenzen. Doch es gäbe eine weitere Lösung.
Zwar ist der Autor nicht unbedingt ein Freund von Umverteilungstöpfen und neuen Strukturen mit steter Tendenz zum „Hydrocephalus administraticus“, dennoch ist bei der gegebenen Sachlage über einen weiteren Fonds nachzudenken, nennen wir ihn „Reklamationsfonds“.
Gespeist wird er analog zum Notdienstfonds über einige Cent aus dem Packungshonorar. Betrieben wird er ebenso analog vom Berufsstand selbst. Die „Reklamationen“ der Kassen (als solche sollte man diese bezeichnen) laufen mit der jeweiligen Begründung bei diesem Reklamationsfonds auf. Juristische und fachliche Profis kümmern sich darum. Der einzelne Apotheker haftet nur bis zu einer festgelegten Summe. Auch andere Modelle beispielsweise mit Selbstbeteiligung sind denkbar und im EDV-Zeitalter rasch umsetzbar. Um eine Überflutung mit Kleinstbeträgen zu vermeiden, können Mindestsummen definiert werden, ab denen der Fonds tätig wird. Das wäre eine Vorstufe zur „kassenapothekerlichen Vereinigung“. Bei den Ärzten laufen Honorarkürzungen auch bei der jeweiligen KV auf, diese setzt sich dann mit dem Arzt auseinander.
Weitergehende Ansätze
Eine „harte Tour“, den zunehmenden Versorgungsproblemen beizukommen, bestünde in der Stärkung der Patientenrechte weit über das heutige Maß hinaus. Nehmen wir einmal an, Patienten würden ihre Krankenkasse, unterstützt von findigen Anwälten, konsequent belangen, wenn z.B. ein Rabattvertragsarzneimittel zu vermeidbaren Nebenwirkungen führt, oder wenn Gesundheitsschäden durch eine verzögerte Versorgung und durch vermeidbare Bürokratie zu beklagen sind – bis hin zu Anklagen der persönlich Verantwortlichen wegen fahrlässiger Körperverletzung. Heute schützt ein ganzer Wirrwarr von Sozialgesetzen und daraus abgeleiteten Verträgen davor. Doch was zählt mehr: Ein Leben oder ein richtiges Kreuz auf einem Formular?
Dreh- und Angelpunkt wäre, nicht nur einen Anspruch auf „ausreichende, wirtschaftliche, zweckmäßige Versorgung“ zu definieren, sondern konsequent auf den Schutz von Leben und Gesundheit abzustellen – der Patient hat Anspruch auf eine Versorgung, die sein Leben und seine Gesundheit bestmöglich nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erhält und schützt. Grundgesetzlich wäre das wohl gedeckt, allerdings würde dies alle bisherigen Kostengrenzen sprengen. Andererseits lässt sich unsere Gesellschaft heute selbst einen Krötentunnel mal einen Millionenbetrag kosten, in der „Energiewende“ (... ins Nichts?) stecken Jahr für Jahr zweistellige Milliardenbeträge, und rund 80 Milliarden geben die Deutschen allein für neue Autos aus. Da stellen sich schon spannende Verteilungsfragen im Hinblick auf die „Ressourcenallokation“.
Das wäre ein gewaltiger Schritt hin zu amerikanischen Verhältnissen, die uns im Zuge des geplanten TTIP-Abkommens (Transatlantic Trade and Investment Partnership) womöglich sowieso drohen – und würde als Nebenwirkung aber auch das Prozessrisiko für alle „Leistungserbringer“ dras-tisch erhöhen. Soll man sich das wünschen?
Ähnliches gilt für grundsätzliche Systemfragen. Viele Probleme unseres Gesundheitswesens resultieren schlicht daraus, dass Leistungsempfänger (Patient) und Zahler nicht identisch sind, sondern die Leistungen über eine dritte Partei (die „Kassen“) abgewickelt werden. Diese dritte Partei ist aber nicht nur ein Zahlungsdienstleister, sondern gleichzeitig Verwalter, Rationierer, Erzieher und Disziplinierer, Datensammler und Inkasso-Institution, das alles mehr oder weniger gebremst bzw. ermuntert durch den Gesetzgeber.
Ginge das nicht einfacher mit mehr Eigenverantwortung, zumindest für die 90 Prozent der Vorgänge, die nicht existenzbedrohend für die Patienten sind?
Der Leidensdruck für einen solchen grundlegenden Systemwechsel ist bei Weitem noch nicht hoch genug! Eine klare Mehrheit der Bevölkerung steht im Grundsatz hinter dem Prinzip, mittels wenn auch nicht immer effizienter Umverteilungsmaschinerien die „soziale Sicherheit“ zu gewährleisten. Und am Ende fahren auch die Leistungserbringer nicht so schlecht damit. Echte, bisweilen schmerzhafte Eigenverantwortung: Meist Fehlanzeige! Ein weiterer Indikator mag sein, dass liberale Parteien zurzeit kaum eine Chance haben. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass wir uns auf längere Sicht mit diesem System zu arrangieren haben – ein Grund mehr, in die „Beziehungspflege“ zu den Kostenträgern zu investieren.
Autor
Dr. Reinhard Herzog ist Apotheker, Apothekenberater und Autor diverser Fachbücher und -artikel.
Dr. Reinhard Herzog, 72076 Tübingen,
E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
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