Arzneimittel und Therapie

Metformin auch bei verminderter Nierenfunktion?

Grenzwert bei Diabetikern infrage gestellt

In einem aktuelle Review in der amerikanischen Fachzeitschrift JAMA wurde untersucht, ob die Gabe von Metformin bei Diabetikern mit einer reduzierten Nierenfunktion das Risiko für die gefürchtete Nebenwirkung Lactat-Azidose erhöht – was nicht gezeigt werden konnte. Experten diskutieren nun auch, ob der großen Gruppe von Diabetikern mit eingeschränkter Nierenfunktion aufgrund der bestehenden Kontraindikation ein wichtiger Wirkstoff vorenthalten wird.
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Wenn nicht-medikamentöse Maßnahmen nicht ausreichen, ist bei der Neueinstellung von Typ-2-Diabetikern Metformin die erste Wahl. Die Substanz bietet zahlreiche Vorteile: Gewichtszunahme und Hypoglykämien sind nicht zu befürchten, in Studien sank unter der Therapie die Mortalitätsrate. Kontraindiziert ist Metformin jedoch bei akuten oder chronischen Erkrankungen, die zu einer Gewebe-Unterversorgung mit Sauerstoff führen können (z. B. bei Herzinsuffizienz), bei Leberinsuffizienz und Alkoholismus sowie bei Nierenversagen oder chronischer Nierenfunktionsstörung (glomeruläre Filtrationsrate, GFR, unter 60 ml/min). Der Grund: Da Metformin renal eliminiert wird, kann es bei eingeschränkter Nierenfunktion akkumulieren. Dies kann die zwar seltene, aber schwerwiegende und lebensbedrohliche Nebenwirkung Lactat-­Azidose zur Folge haben (s. Kasten „Lactat-Azidose“). Deren Inzidenz wird bei Patienten unter Metformin mit ca. 1 pro 23.000 bis 30.000 Patientenjahren angegeben, im Vergleich zu 1 pro 18.000 bis 21.000 Patientenjahren bei Typ-2-Diabetikern, die andere Wirkstoffe einnehmen. Diese Erkenntnisse und die klinischen Erfahrungen haben in einigen Ländern (z. B. in Großbritannien, Kanada, Australien) bereits zu weniger restriktiven Empfehlungen bezüglich der Anwendung von Metformin bei eingeschränkter Nierenfunktion geführt – jedoch nicht in den USA und auch nicht in Deutschland. Wegen der bestehenden Kontraindikation müsste Metformin daher abgesetzt werden, wenn die glomeruläre Filtrationsrate unter den Grenzwert 60 ml/min abfällt.

Nierenfunktion engmaschig kontrollieren

Erst 2013 hat die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) aufgrund einer Zunahme von Spontanberichten über Metformin-assoziierte Lactat-Azidosen betont, dass sie keine Empfehlungen zur Anwendung von Metformin geben kann, die von den aktuellen Fachinformationen abweichen. Stattdessen wies sie darauf hin, dass bei Behandlung mit Metformin anhand der Nierenfunktionswerte regelmäßig überprüft werden sollte, ob die Therapie weitergeführt werden kann. Besonders wichtig sei dies bei älteren und/oder multimorbiden Patienten. Bei normaler Nierenfunktion sollten die Werte mindestens einmal pro Jahr kontrolliert werden, bei einer Nierenfunktion an der unteren Grenze des Normbereiches (GFR knapp über 60 ml/min) sowie bei älteren Patienten mindestens zwei- bis viermal jährlich.

Andere Länder, andere Empfehlungen

Auch die Autoren eines aktuellen JAMA-Reviews plädieren dafür, bei Metformin-Gabe die Nierenfunktion sorgfältig zu überwachen und gegebenenfalls Dosisanpassungen vorzunehmen. Doch ihrer Ansicht nach sollte der Einsatz des Biguanids auch auf Patienten mit milder bis moderater Nierenfunktionsstörung ausgeweitet werden können. Sie stützen ihre Empfehlung auf die Analyse von 65 Artikeln, darunter retrospektive Studien, pharmakokinetische Untersuchungen und eine klinische Studie. Dabei zeigte sich, dass auch bei Patienten mit mild bis moderat eingeschränkter Nierenfunktion (geschätzte GFR 30 bis 60 ml/min/1,73 m2) die Metformin–Blutspiegel im therapeutischen Bereich blieben und die Lactat-Konzentrationen nicht substanziell erhöht waren. Die Gesamtinzidenz der Lactat-Azidose lag zwischen 3 und 10 pro 100.000 Patientenjahre und unterschied sich nicht vom „Grundrauschen“ in der Gesamtmenge der Diabetiker.

Die Sicht der deutschen Diabetologen

Zunächst einmal ist festzustellen, dass das Thema so neu nicht ist; bereits 2011 wurde von derselben Arbeitsgruppe ein entsprechender Artikel veröffentlicht [1].

Sicherlich teilen auch Spezialisten in Deutschland die Auffassung, dass aufgrund der Datenlage, wie sie Inzucchi und Mitarbeiter aktuell noch einmal zusammengefasst haben, Metformin gegebenenfalls auch bis zu einer GFR von 45 ml/min verabreicht werden könnte. Sie gehen sogar noch weiter und sagen: bei Anwendung der halben Metformin-Standarddosierung, das heißt zweimal täglich 500 mg, wäre auch eine Gabe bei einer GFR zwischen 30 und 45 ml/min bei sorgfältiger Überwachung der Nierenfunktion vertretbar. Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) hat übrigens bereits im Mai 2009 eine Empfehlung [2] publiziert, die genau diese Möglichkeiten beinhaltet. Daher dürfen die britischen Fachkollegen jetzt auf diese Weise verfahren. Doch unabhängig davon, was in anderen Ländern praktiziert wird, gilt in Deutschland laut der Zulassung der Metformin-Präparate weiterhin eine Kontraindikation für Patienten mit einer GFR unter 60 ml/min. Eine Anwendung unterhalb dieses Grenzwertes wäre deshalb nicht rechtens.

Quelle

[1] Lipska KJ et al. Use of metformin in the setting of mild-to-moderate renal insufficiency. Diab Care 2011;34(6):1431-1437, doi: 10.2337/dc10-2361

[2] National Institute for Health and Clinical Excellence: Type 2 diabetes: The management of type 2 diabetes. NICE clinical guideline 87. Developed by the National Collaborating Centre for Chronic Conditions and the Centre for Clinical Practice at NICE. London, März 2010

Prof. Dr. med. Dirk Müller-Wieland

Pressesprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG); Asklepios Klinik St. Georg; Abteilung für Innere Medizin I, Lohmühlenstr. 5; 20099 Hamburg

Die Autoren argumentieren auch, dass gerade Patienten mit renalen Kontraindikationen von der potenziellen Schutzwirkung von Metformin vor makrovaskulären Spätkomplikationen profitieren können.

Trotz dieses Reviews ist die Datenlage zum Lactat-Azidose-Risiko bei Patienten, die mit Metformin behandelt werden, insgesamt begrenzt. Randomisierte klinische Studien zur Sicherheit des Wirkstoffs bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion sind bisher noch nicht durchgeführt worden. Daher fordern die Autoren größere Datenmengen, um die Zusammenhänge zwischen Metformin-Gabe, Nierenfunktion und dem Risiko für Hyperlactatämie besser abschätzen zu können.

Lactat-Azidose

Eine Lactat-Azidose ist definiert als eine Plasma-Lactat-Konzentration über 5 mmol/l und einen Blut-pH-Wert unter 7,35. Sie äußert sich mit Symptomen wie Stupor, Krämpfen, Koma, Hypotension und Kammerflimmern. Zu den unspezifischen Symptomen zählen Muskelkrämpfe in Verbindung mit Verdauungsstörungen (z. B. Abdominalbeschwerden) und schwere Asthenie. Bei Verdacht auf eine metabolische Azidose sollte Metformin abgesetzt und der Patient sofort stationär aufgenommen werden, da eine verspätete Behandlung tödlich enden kann.

Wenn die Kontraindikation ignoriert wird …

Zwei amerikanische Epidemiologen haben in einer anderen Fachzeitschrift kürzlich die Ergebnisse einer Analyse des National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) vorgestellt. Danach betrug zwischen 2011 und 2012 der Anteil von Typ-2-Diabetikern mit einer GFR > 90 ml/min, die mit Metformin behandelt wurden, 90%. Im Bereich 60 bis 90 ml/min lag dieser Anteil bei 81%, im Bereich 30 bis 60 ml/min immerhin noch bei 49% bis 57%. Sogar bei einer GFR unter 30 ml/min wurden noch 18% mit Metformin behandelt. Diese beiden Autoren argumentieren daher, dass Tausenden von Typ-2-Diabetikern in den USA der gut verträgliche Wirkstoff Metformin vorenthalten wird. Ihrer Ansicht nach könnten rund 425.000 zusätzliche Patienten mit Metformin behandelt werden, wenn eine Therapie ohne Einschränkungen auch im Bereich GFR 60 bis 90 ml/min erlaubt wäre. Eine Revision der Kontraindikation für Metformin bezüglich der Nierenfunktion vonseiten der FDA halten sie für längst überfällig. Randomisierte klinische Studien zur besseren Abschätzung des Sicherheitsrisikos Lactat-Azidose sind ihrer Ansicht nach allerdings nicht praktikabel. Da die Lactat-Azidose sehr selten vorkommt, müssten Hunderttausende Patienten über viele Jahre beobachtet werden. |

Quelle

Inzucchi SE et al. Metformin in patients with type 2 diabetes and kidney disease. A systematic review. JAMA 2014;312(24):2668-2675, doi:10.1001/jama.2014.15298

Flory JH, Hennessy, S. Metformin use reduction in mild to moderate renal impairment: possible inappropriate curbing of use based on Food and Drug Administration contraindications (Research Letter), JAMA Intern Med, online publiziert am 5. Januar 2015

Lactat-Azidose selten: Experten halten Metformin bei milder Niereninsuffizienz für sicher. Deutsches Ärzteblatt online, www.aerzteblatt.de

Fachinformation Glucophage® Filmtabletten, Stand Oktober 2010

National Institute for Health and Clinical Excellence: Type 2 diabetes: The management of type 2 diabetes. NICE clinical guideline 87. Developed by the National Collaborating Centre for Chronic Conditions and the Centre for Clinical Practice at NICE. London, März 2010

Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft – Aus der UAW-Datenbank: Zunahme von Spontanberichten über Metformin-assoziierte Lactat-Azidosen. Dtsch Ärztebl 2013;110(10):A-464/B-412/C-412

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

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