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Mittelschicht mit deutlichem Abstiegsrisiko

Neuer WSI-Verteilungsbericht

Arm bleibt arm, und reich bleibt reich – die Schere wird lediglich größer. Die Spreizung der Einkommen in Deutschland liegt nach den letzten auswertbaren Daten von 2012 wieder fast auf dem Höchstwert. Das berichtet das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in seinem aktuellen Verteilungs­bericht.

Für die Mittelschicht sei das Risiko ­gewachsen, finanziell abzusteigen. WSI-Autorin Dr. Dorothee Spannagel konstatiert zwar für die oberen und unteren Ränder der Einkommens­stufen eine Verfestigung: So müssen „sehr reiche“ Haushalte, die mehr als das Dreifache des mittleren verfügbaren Einkommens verbuchen können, heute eher selten einen Abstieg befürchten. Für die armen Haushalte mit 60 Prozent oder weniger des Medianeinkommens ist umgekehrt der Aufstieg in eine höhere Einkommensgruppe weniger wahrscheinlich geworden.

2012 betrug dieser Medianwert für einen Einpersonenhaushalt 1666 Euro. Als „sehr reich“ gilt folglich ein Single mit mehr als 5000 Euro pro Monat oder auch eine vierköpfige Familie mit mehr als 10.350 Euro. Arm ist nach dieser Definition ein Einpersonenhaushalt unter 1000 Euro Einkommen oder die Familie mit zwei Kindern mit weniger als 2070 Euro.

Zwar ist die Beweglichkeit für Menschen in der unteren und oberen Einkommensmitte größer – aber die Tendenz geht eher nach unten als nach oben! Wer über 60 bis 150 Prozent des Medianeinkommens verfügt, hat ein deutliches Abstiegsrisiko; dies gilt besonders für die „untere Mitte“, so Spannagel.

Foto: Markus Bormann – Fotolia.com

Staat soll Ungleichheit ­begrenzen

Um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die daraus re­sultierenden sozialen Verwerfungen in Deutschland zu bekämpfen, hält die WSI-Verteilungsexpertin den Mindestlohn für einen wichtigen ersten Schritt. Dieses Instrument wieder aufzuweichen, wie manche Kritiker aufgrund der aktuellen Flüchtlingszahlen fordern, sei daher der falsche Weg.

Um die Ungleichheit zu reduzieren, sei außerdem eine höhere Besteuerung der „superreichen“ Haushalte nötig. Dies könnte zum Beispiel durch die Abschaffung der pauschalen Abgeltungssteuer für Kapitalerträge sowie Reformen bei der Erbschaftsteuer erreicht werden. Wenn die Politik nicht gegensteuert, befürchtet die Forscherin eine „bedenkliche Entkoppelungstendenz“. Spannagel: „Die sehr Reichen schweben regelrecht über den konjunkturellen Krisen, während ­viele Arme auch von einem länger ­andauernden wirtschaftlichen Aufschwung kaum profitieren.“

Soziale Kluft macht Reiche geizig

In diesem Zusammenhang ist eine ­aktuelle Studie von Wissenschaftlern der Universitäten Toronto und Stanford interessant, die in der renommierten amerikanischen Zeitschrift PNAS veröffentlicht wurde. Sie haben beobachtet, dass in Gesellschaften mit einer ­besonders ungleichen Einkommens­verteilung – wie in Kalifornien – die Reichen egoistischer sind als weniger wohlhabende Menschen. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich besonders groß ist, verstärkt dies das Anspruchsdenken der Reichen und mindert ihre Großzügigkeit. Noch scheint Deutschland hier unauffällig abzuschneiden, weil die Ungleichheit noch nicht das hohe Niveau des US-Bundesstaates angenommen hat. Die Studienergebnisse sollten der deutschen Politik aber eine Warnung sein. |

Quellen

Hans-Böckler-Stiftung, Pressemitteilung vom 26.11.2015

Spannagel D. Trotz Aufschwung: Einkommens­ungleichheit geht nicht zurück. WSI-Verteilungsbericht 2015. WSI-Report Nr. 26, November 2015

Côté S, House J, Willer R. High economic inequality leads higher-income individuals to be less generous. PNAS; Epub 23.11.2015; http://bit.ly/1Ie6iFt

Dr. Sigrid Joachimsthaler


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