DAZ aktuell

Ein Armutszeugnis

Offener Brief an ABDA-Präsident Friedemann Schmidt

STUTTGART (daz) |Mitte Dezember rückte Florian Schulze vom Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) das Thema pharmazeutische Evidenz in der Beratung in den Fokus. Zum Jahreswechsel haben Apothekerin Kerstin Kemmritz und Viktoria Mühl­bauer, ebenfalls Vorstand des VdPP, nachgelegt – mit einem offenen Brief an ABDA-Präsident Friedemann Schmidt, den wir hier im Wortlaut abdrucken:

Sehr geehrter Herr Präsident Schmidt,

sehr geehrte Damen und Herren des geschäftsführenden Vorstands der ABDA,

der DAZ.online vom 18. 9. 2015 entnehmen wir: „Statt einer Datenbank mit evidenzbasierten Ergebnissen zu Nutzen und Schaden der am häufigsten abgegebenen OTC-Arzneimittel könnte es künftig einen Newsletter geben, der Übersichts- und Originalarbeiten zum Thema für die Apothekenpraxis aufbereitet. Der geschäftsführende Vorstand der ABDA hat entschieden, den Govi-Verlag zu bitten, eine entsprechende Aufwand-Nutzen-Analyse zu erarbeiten“… „Darüber hinaus soll geprüft werden, ob zusätzlich eine Datenbank mit Kasuistiken und einem Datenbankindex geschaffen wird, in die Fälle aus der Beratungspraxis von den Nutzern eingegeben und von allen Abonnenten recherchiert werden können.“

Dieses Vorgehen ist aus unserer Sicht schwer nachvollziehbar.

Im Perspektivpapier „Apotheke 2030“ steht: „Die öffentlichen Apotheken versorgen ihre Patienten individuell und grundsätzlich evidenzbasiert.“ (Punkt 11, „Näher am Patienten“). Diese richtige Aussage auch als Aufgabe verstehend, hat der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) in Kooperation einen Antrag zur Aufarbeitung der Evidenz gängiger OTC-Präparate formuliert, den die Berliner Delegierte Dr. Kerstin Kemmritz auf dem Deutschen Apothekertag 2014 eingebracht und begründet hat. Er wurde mit großer Mehrheit angenommen. Der Vorschlag war, die Evidenzlage beispielsweise durch eine unabhängige, apothekereigene und fachlich kompetente Organisation wie die AMK aufarbeiten zu lassen und die Ergebnisse der Apothekerschaft so zur Verfügung zu stellen, dass diese sie auch alltagstauglich nutzen kann, idealerweise durch eine Einbettung in die ABDA-Datenbank.

Von diesem Grundgedanken ist nun nichts mehr zu erkennen. Durch einen Newsletter, der aktiv abonniert werden muss, kann nicht geregelt werden, dass die aktuell benötigten Informationen für alle Kolleginnen und Kollegen im entscheidenden Moment verfügbar sind. Zudem sprechen grundsätzliche Bedenken gegen eine Beauftragung des Govi-Verlags: Als Herausgeber der Pharmazeutischen Zeitung, die sich über Werbung der pharmazeutischen Industrie zu OTC-Produkten mitfinanziert, hat er erheb­liche Interessenkonflikte, welche die erforderliche Unabhängigkeit des Projektes gefährden könnten.

Während den Ärztinnen und Ärzten evidenzbasierte Behandlungshilfen etwa in Form von Leitlinien zur Verfügung stehen, hat die Apothekerschaft hinsichtlich der Selbstmedikation wenig Vergleichbares in der Hand. Im praktischen Apothekenalltag ist es für die einzelnen Apotheker nur schwer möglich, auf allen Gebieten der Selbstmedikation die jeweilig erforderlichen Kenntnisse über die aktuelle wissenschaft­liche Datenlage zu Nutzen und Schaden der OTC-Präparate zu erlangen und zu nutzen. Allerdings wird von den Patientinnen und Patienten vollkommen zu Recht erwartet (und vom Gesetz so formuliert!), dass wir in unserer heilberuflichen Tätigkeit den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zugrunde legen. Soll dazu eine Sammlung von Fallbeispielen beitragen?

Ein richtiges Armutszeugnis für die Apothekerschaft ist daher die Überlegung, ersatzweise eine Kasuistik-Datenbank zu erstellen. Sie wäre geradezu das genaue Gegenteil von evidenzbasierter Arbeit! Um die Evidenzlage zu einer bestimmten Fragestellung aufzuarbeiten, sind methodische Kenntnisse und systematisches Arbeiten notwendig. Beides ist weder im Apothekenalltag nebenher zu leisten noch im Pharmaziestudium bisher ausreichend fundiert vermittelt worden und auch nicht durch Fortbildungen schnell zu erarbeiten! (wenngleich hier natürlich der Erfahrungsaustausch wichtig ist). Daher muss bezweifelt werden, dass in einer von den Nutzern mit Beiträgen bestückten Datenbank das zwingend erforderliche wissenschaftliche Qualitätsniveau erreicht werden kann, das im Sinne des Antrags benötigt wird. Natürlich können Informationen und Informationsaustausch wie in einem Newsletter oder einer Fallbeispielsammlung ergänzend hilfreich sein, aber sie können nicht die offizielle Informationsbasis eines ganzen Berufsstandes sein!

Es ist klar, dass es sich bei der Aufarbeitung und Aktualisierung der für OTC-Präparate bestehenden Evidenz um ein Langzeitprojekt handeln würde, das nicht ohne die Bereitstellung finanzieller Mittel zu realisieren ist. Dieses Projekt trotzdem in Angriff zu nehmen und jetzt einen Anfang zu machen, würde jedoch ein deutliches Signal senden, wie ernst die Apothekerschaft die evidenzbasierte Pharmazie und die heilberufliche Verantwortung auch in der Selbstmedikation nimmt. Die momentan angedachte Umsetzung lässt jedoch nur den Schluss zu, dass in der ABDA der politische Wille zu einer konsequenten Evidenzbasierung fehlt und deren Bedeutung für das pharmazeutische Kerngebiet „Selbstmedikation“ verkennt. Immer wieder in der Öffentlichkeit erhobene Angriffe gegen die Qualität der Beratung sollten vom Berufsstand sehr ernst genommen werden. Wer das Expertentum auf diesem Gebiet aus der Hand gibt, braucht sich nicht zu wundern, wenn Apotheker im Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung verlieren. Und dies ginge nicht zuletzt sehr zulasten der Patientinnen und Patienten!

Auf dem Deutschen Apothekertag 2014 haben Sie, sehr geehrter Herr Schmidt, betont: „Wir sind Naturwissenschaftler und keine Künstler, und wollen es auch bleiben.“

Wir nehmen Sie beim Wort und bitten Sie um Klärung im geschäftsführenden Vorstand, wie die ABDA gedenkt, den Inhalt des Antrags umzusetzen oder ob dieser tatsächlich nur in das eingangs von DAZ.online zitierte Vorgehen münden soll. Dazu gehört auch, im Kontakt mit den Antragsstellern die Vorgehensweise zu diskutieren und zu kommunizieren, zumal wenn der Antrag in einer deutlich anderen, vom Inhalt und Hintergrund des Antragstextes abweichenden Form umgesetzt werden soll.

Wir fordern Sie daher dringend auf, im Sinne der Glaubwürdigkeit der Apotheker als Arzneimittelfachleute mit dem Antrag nicht irgendetwas zu tun, sondern die Zielsetzung des Antrags zu verfolgen im Sinne der Übernahme von Verantwortung für eine evidenzbasierte Beratung in den deutschen Apotheken.

In diesem Sinne stehen Ihnen nicht nur die Unterzeichner, sondern auch eine Vielzahl weiterer Kolleginnen und Kollegen mit weitreichenden Erfahrungen auf dem Gebiet der evidenzbasierten Pharmazie jederzeit auch für ein gemeinsames Gespräch oder eine weitere Projektplanung zur Verfügung. Ergreifen Sie diese Chance!

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