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Wem nützt die Flexibilisierung?

Weißbuch „Arbeiten 4.0“ und weitere Studien

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) plant ein „Wahlarbeits­zeitgesetz“. In einem zweijährigen Experiment will sie eine größere ­betriebliche Flexibilität bei den Arbeitszeiten mit den Wünschen der Beschäftigten austarieren. Voraussetzung soll sein, dass es zu einer Einigung der jeweiligen Tarifpartner kommt. Betriebe ohne Tarif­bindung würden also nicht an der Testphase teilnehmen.
Foto: Pathfinder – Fotolia.com

Flexibel – das klingt erst einmal gut. Im Zeitalter der Digitalisierung soll ­alles immer flexibler werden, u. a. weil es der Kunde so will. Darauf wiederum müssen sich die Unternehmen einstellen. Und die Arbeitnehmer? Sie wollen ihre Arbeitszeiten flexibel an ihren familiären bzw. privaten Bedürfnissen ausrichten. Eine Balance, bei der alle zufrieden sind und niemand überfordert wird, ist nicht leicht zu finden. Ministerin Nahles will sie mit ihrem jüngst vorgestellten Weißbuch Arbeit 4.0 fördern und etablieren [1].

Das Weißbuch (s. Kasten) basiert auf einem Dialogprozess mit 30 Leitfragen zur künftigen Gestaltung von Erwerbstätigkeit, an dem Bürger, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Experten seit 2015 teilgenommen haben. „Mein Ziel ist ein fair ausgehandelter Kompromiss zwischen den Erfordernissen der Arbeitgeber nach mehr Flexibilität und den Bedürfnissen der Arbeitnehmer“, so Nahles bei der Vorstellung in Berlin.

Folgendes ist geplant:

Wahlarbeitszeitgesetz und Erörterungsrecht

Für zwei Jahre sollen in tarifgebundenen Betrieben die gesetzlichen Arbeitszeitregelungen gelockert werden, wenn sich Gewerkschaft und Arbeitgebervertretung auf ein gemeinsames Modell einigen können. Dabei sollen die Schutzmechanismen für Arbeitnehmer aber nicht völlig ausgehebelt werden: Dazu gehören neben Ruheregelungen auch die durchschnittliche wöchentliche Höchst­arbeitszeit von 48 Stunden. Das geht dem Branchenverband Bitkom nicht weit genug: Das Arbeitsrecht müsse konsequent an die Bedingungen der Digitalisierung angepasst werden. So sei die gesetzlich vorgeschriebene elfstündige Ruhepause nicht mehr zeitgemäß.

Außerdem plant Nahles ein Erörterungsrecht für Mitarbeiter. Das be­deutet, dass Arbeitgeber und -nehmer miteinander über die Arbeitszeiten verhandeln sollen. Wünsche wie einen späteren Arbeitsbeginn, um vorher das Kind noch zur Kita bringen zu können, sollten dabei möglichst berücksichtigt werden.

Wie bereits in der Koalitionsverein­barung von Union und SPD festgeschrieben, will die Ministerin auch ein Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit umsetzen.

Kleine Farbenlehre: Was ist ein Weißbuch?

Ein Weißbuch ist eine Sammlung mit Vorschlägen zum Vorgehen in einem bestimmten Bereich. Im ursprüng­lichen Sinn bezeichnet es eines der internationalen politischen „Farb­bücher“. Darunter versteht man Dokumentensammlungen, die die Regierung eines Staates veröffentlicht, um Orientierung über politische Fragen zu geben. Die Veröffentlichung erfolgt nach einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition in Büchern mit bestimmten farbigen Umschlägen: in Deutschland weiß, in den USA und Österreich rot, in Großbritannien blau, in Italien grün, in Frankreich gelb und in den Niederlanden orange. In dieser Tradition wurden später auch von anderen Organisationen Farbbücher verfasst:

  • Weißbücher werden u. a. von der Europäischen Kommission veröffentlicht.
  • Grünbücher fassen den Diskussionsstand bzw. Fragen zu einem Thema zusammen und bereiten ein Weißbuch vor.
  • Schwarzbücher stellen bestimmte Missstände dar (Schwarzbuch des Kommunismus; Schwarzbuch Kapitalismus; Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler).

  • Als Rotbuch werden technische Dokumentationen bezeichnet.

Quelle: Wikipedia

Homeoffice: Räumlich flexibel

Wichtig für die zeitliche Flexibilität ist für viele Beschäftigte auch, dass sie ihren Arbeitsort frei wählen können, sofern dies ihre Tätigkeit zulässt. So könnten junge Eltern sich früher aus dem Büro verabschieden als ihre Kollegen ohne Kinder, dafür aber im Homeoffice noch am Abend oder Wochenende die eine oder andere Stunde nacharbeiten. An dieser Stelle wird allerdings auch Kritik laut: Es sei keine Entlastung, wenn man sich von 20 bis 24 Uhr noch einmal an den Computer setzen müsse, sobald der Nachwuchs im Bett liegt, so die stellvertretende Ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis.

„Für den Apothekenbereich sind Heimarbeitsplätze derzeit nur in ganz geringem Umfang möglich und sinnvoll“, sagt dazu ADEXAs Erste Vorsitzende Barbara Stücken-Neusetzer. „Perspektivisch könnte dies jedoch zunehmen, denn im Rahmen von Medikationsmanagement und evidenzbasierter Pharmazie wird die Recherche­arbeit am PC oder Tablet wichtiger – und die könnte man auch von Zuhause aus durchführen, wenn die Vernetzung mit Datenbanken und der Datenschutz gewährleistet wären.“

Erwerbstätigenkonto

Ein weiterer Plan von Nahles ist das persönliche Erwerbstätigenkonto für die berufliche Qualifizierung, aber auch für Pflegezeiten. Angedacht ist ein Startguthaben, mit dem solche Phasen finanziert werden können und das Arbeitnehmer in ihrer beruflichen Laufbahn auch aufstocken können. Hier besteht allerdings noch Klärungsbedarf, aus welchem Topf dieser Grundstock genommen werden soll.

Qualifizierungsberatung für Erwerbstätige

Die Bundesagentur für Arbeit soll aus Sicht der Ministerin eine weitere Aufgabe übernehmen und auch Beschäftigte zu Weiterbildungen beraten. Ein Punkt, bei dem sich die Koalitionspartner allerdings nicht einig sind.

Gesetzliche Rentenversicherung für Solo-Selbstständige

Mit der Digitalisierung der Wirtschaft hat die Zahl der Freiberufler und selbstständigen Einzelunternehmer zugenommen – und viele können sich keine ausreichende private Altersvorsorge leisten. Nahles will diese Gruppe als Pflichtmitglieder in die gesetz­liche Rentenversicherung integrieren.

Studien belegen Handlungsbedarf

Dass Beschäftigte unter einer schlechten Arbeitszeitgestaltung leiden, zeigt auch eine Studie mit 32.500 Deutschen und 18.700 Australiern [2]: Wenn die Arbeitszeiten länger sind als vom Arbeitnehmer gewünscht, hat dies sowohl bei Vollzeitbeschäftigten als auch bei teilzeitbeschäftigten Frauen negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Die krankmachenden Effekte einer fremdbestimmten Überbeschäftigung waren bei den Deutschen größer als bei den Australiern und bei Frauen stärker als bei Männern.

Eine weitere Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Wer seine Arbeitszeit vorübergehend reduzieren möchte, stößt oft auf Widerstand. Dies gilt besonders für Männer – Stichwort Elternzeit –, aber auch für Hochqualifizierte beider Geschlechter. Als Gründe führen die Autorinnen die fehlende Akzeptanz von Vorgesetzten und mangelndes Verständnis im Kollegenkreis an, dazu eine häufig rigide Arbeits­organisation und nicht zuletzt ein (durch Personalknappheit) übergroßes Arbeitspensum, das schon in Vollzeit nur schwer zu schaffen ist. Hier seien Führungskräfte und Betriebsräte gefragt, um Teilzeit und familienfreundliche Arbeitszeiten zu ermöglichen [3].

Unternehmen: Kein Grund zum Klagen

Dagegen sind die Gestaltungsspiel­räume, die die aktuellen Tarifverträge den Unternehmen in puncto Flexibilität bieten, schon sehr umfangreich. Zu diesem Ergebnis kommt der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Dr. Reinhard Bispinck, in einer neuen Analyse der bundesdeutschen Tariflandschaft. „Die Auswertung zeigt, dass pauschale Forderungen nach noch mehr Flexibilisierung und einer Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes nicht nur unnötig sind. Sie würden die Probleme von Beschäftigten, die Arbeit und Familien­leben unter einen Hut bringen müssen, weiter verschärfen“, warnt Bispinck [4]. |

Quellen

[1] www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a883-weissbuch.html

[2] Steffen Otterbach, Mark Wooden, Yin King Fok. Working-Time Mismatch and Mental Health, SOEPpaper 843, März 2016

[3] Christina Klenner, Yvonne Lott. Arbeitszeit­optionen im Lebensverlauf. Bedingungen und Barrieren ihrer Nutzung im Betrieb. WSI Study 4

[4] Reinhard Bispinck: Arbeitszeit – Was bietet der tarifvertragliche Instrumentenkoffer? Eine Analyse von 23 Branchen und Tarifbereichen. Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 82, November 2016

sjo

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