Die Seite 3

Ein ganz anderes Kaliber

Foto: DAZ/Kahrmann
Dr. Benjamin Wessinger, Chefredakteur der DAZ

Als Ende der 1990er-Jahre der amerikanische Buchversender Amazon auf dem deutschen Markt auftauchte, gab man sich in manchen deutschen Verlagen betont abgebrüht: Deutschland sei schon immer ein Land des Versandhandels gewesen – man denke nur an Neckermann, Otto-Versand und den Bertelsmann Buchclub – und doch gebe es keine Branche, in der der Versand zweistellige Marktanteile erreiche. Außerdem wollen die Menschen doch die Bücher in die Hand nehmen, sich von der Buchhändlerin ihres Vertrauens beraten lassen – und die Buchpreisbindung biete ja auch wirtschaftlichen Schutz.

Seither hat Amazon den Buchhandel (inklusive der Verlage) genauso grundlegend verändert wie den Elektronikhandel, die Musik-, Film- und Fernsehbranche – um nur einige Beispiele zu nennen. Heute ist Amazon nach eigenen Angaben der weltweit größte Online-Einzelhändler, der im vergangenen Jahr einen Umsatz von 136 Milliarden (!) US-Dollar gemacht hat. (Den Club Bertelsmann dagegen gibt es nicht mehr. Neckermann, der einstmals größte Versandhändler Europas, ist nach der Insolvenz heute eine Marke der Otto-Gruppe, der Nummer Zwei hinter Amazon im deutschen Online-Handel.)

Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis der Internet-Handelsriese seine Fühler auch nach dem deutschen Arzneimittel- und Gesundheitsmarkt ausstreckt, der seit jeher eine große Attraktivität auf branchenfremde Handelsgesellschaften auszuüben scheint (s. dazu „Amazon will Arzneimittel liefern“ auf S. 18 dieser DAZ).

Dabei sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass Amazon ohne jede Rücksicht auf bestehende Strukturen und Geschäftsmodelle vorgeht. Der Gründer Jeff Bezos wollte seine Website nicht ohne Grund ursprünglich relentless.com nennen – erbarmungslos. Laut Gründungsmythos mussten seine Freunde all ihre Überredungskunst aufwenden, um ihn von dieser Idee abzubringen. Und selbst heute noch leitet diese URL ihre Besucher auf die US-amerikanische Amazon-Website um.

Dass sich der Konzern inzwischen offenbar mit der deutschen Preisbindung für Bücher abgefunden zu haben scheint, kann dabei genauso wenig beruhigen wie die Tatsache, dass er sich von einem „klassischen“ Online-Händler mit eigenem Lager immer mehr zu einer Vermittlungsplattform entwickelt hat, die „nur“ den Kontakt zwischen dem Kunden und dem Händler herstellt (und dafür eine Provision erhält). Denn eines sollte man nicht vergessen: Hier drängt ein neuer Mitspieler auf den deutschen Apothekenmarkt, neben dem die heutigen Herausfor­derer – seien es nun Versandapotheken im EU-Ausland oder bundesweite Drogeriemarktketten – eher schmalbrüstig wirken.

Benjamin Wessinger


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