Kongresse

Schnelligkeit vor Sicherheit?

Kongress Armut und Gesundheit 2017 diskutierte Arzneimittelzulassungverfahren

BERLIN (Esther Luhmann/cae) | Am 16. und 17. März fand an der TU Berlin der Kongress Armut und Gesundheit 2017 statt. Im Jahr 1993 aus einer studentischen Bewegung entstanden, zählt er inzwischen etwa 2000 Teilnehmer, 500 Referenten und über 100 Veranstaltungen.

Zulassung 2.0

Florian Schulze, Vorstandsmitglied des Vereins demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP), führte in das Fachforum „Zulassung 2.0 – Angriff auf die Arzneimittelsicherheit?“ ein. In der Europäischen Arzneimittelagentur EMA gibt es Bestrebungen, einen Paradigmenwechsel in der Zulassung einzuleiten: durch „adaptive pathways“ oder beschleunigte Zulassungen. Neue Wirkstoffe sollen schon sehr früh, noch in der Phase der Prüfungen am Menschen und für wenige eng definierte Patientengruppen auf den Markt kommen. Das hört sich Patienten-orientiert an, ist es aber nach Meinung des VdPP nicht.

Über die Chancen einer effizienten Zulassung von Arzneimitteln mit hohem Bedarf referierte Dr. Matthias Wilken vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Er betonte, dass das Konzept „adaptive pathways“ kein neuer Zulassungsprozess sei, sondern auf anderen Zulassungsverfahren aufbaue. Zudem gelte es nur für Arzneimittel mit einem hohen medizinischen Bedarf („high medical need“). Die EMA habe in ihrem Report vom Dezember 2016 alles Wichtige veröffentlicht und sorge somit für Transparenz. Sehr kranken Patienten sei es nicht zuzumuten, lange auf neue Arznei­mittel zu warten, bis diese ein aufwendiges Zulassungsverfahren durchlaufen haben; auch „compassionate use“ (Einsatz vor Zulassung in besonders schweren Fällen) könne dieses Pro­blem nicht lösen. Eine frühzeitige Versorgung sei eine Chance für die Patienten.

Registerdaten statt Phase-III-Studien?

Dr. Thomas Kaiser vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im ­Gesundheitswesen (IQWiG) kritisierte am Konzept „adaptive pathways“ vor allem das Studiendesign: Die Studien sind häufig einarmig, d. h. ohne Kon­trollgruppe; in ihnen dienen meist Surrogatparameter (z. B. Laborwerte) als Kriterien, ein Methodenpapier zur Surrogatvalidierung fehlt jedoch. Im Konzept „adaptive pathways“ ist eine Zulassung schon nach einer Phase-II-Studie möglich. Weitere Bewertungen sollen dann nach der Zulassung folgen (z. B. anhand von Registerdaten, „real world data“). Laut Kaiser sind Registerdaten aber gänzlich ungeeignet zur Beurteilung des therapeutischen Nutzens.

Langzeitwirkungen genauer erforschen

Dr. med. Edeltraut Faßhauer von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), die selbst seit vielen Jahren an MS erkrankt ist, kritisierte ebenfalls die Verwendung von Surrogatparametern in klinischen Studien. So bedeuten weniger Schübe bei MS nicht unbedingt eine bessere Lebensqualität. Laut Faßhauer fehlen bei ­vielen Arzneimitteln – vor allem zur Therapie chronischer Krankheiten – Daten zu Langzeit-(Neben)wirkungen. Sie forderte längere Studienzeiten mit klinisch relevanten Endpunkten, eine frühe und späte Nutzenbewertung sowie die Publikation aller Studien und eine staatlich geförderte Forschung. Aus ihrer Sicht geht Sicherheit in der Arzneimitteltherapie unbedingt vor Schnelligkeit der Zulassung.

Durch eine harte Schule zur Unbestechlichkeit

Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen veranstaltete ein Fachforum „Wie kann die Selbsthilfe ihre Unabhängigkeit wahren?“ Dort stellte Dr. Ulrike Faber, Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), klar, wie problematisch eine Kooperation von Patienten mit der Pharmaindustrie sei. Denn die Industrie habe die Patienten „im Visier“: Um als Patientenvertreter seine Unabhängigkeit zu bewahren, müsse man sich von der Illusion der Unverwundbarkeit und Unbeeinflussbarkeit verabschieden. Patientenorganisationen kümmern sich zwar um dieses Thema, aber die Patientenvertreter müssen in fortlaufender Auseinandersetzung geschult werden, damit sie eine grundsätzlich kritische Haltung entwickeln, so Faber.

Weitere Vorträge aus Patientensicht (Rolf Blaga, Psoriasis Selbsthilfe) und aus Ärztesicht (Dr. Rolf Kühne, „Mein Essen zahl ich selbst – MEZIS“) haben durch die Schilderung von Erfahrungen und allerlei Zitate das Publikum teils erstaunt, teils amüsiert, aber jedenfalls deutlich gemacht, dass eine kritische Distanz zur Pharmaindustrie unverzichtbar ist.

Weitere Informationen zum Kongress: www.armut-und-gesundheit.de. |

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