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- DAZ 15/2017
- Stiefkind Dyslipidämie
Arzneimittel und Therapie
Stiefkind Dyslipidämie
Ein Gastkommentar von Olaf Rose
Die Dyslipidämie fristet im Schatten der großen Volkskrankheiten Hypertonie und Diabetes ein klägliches Dasein. Warum dies so ist, darüber kann nur spekuliert werden, denn auch die beiden ‚Geschwister im Metabolischen Syndrom‘ führen ja zunächst meist nicht zu spürbaren Beschwerden oder erhöhtem Leidensdruck. Der ESC-SCORE muss sich als Risikorechner mit den anderen Skalen (z. B. Framingham oder PROCAM-Score) messen und immer wieder an die aktuellen Populationsdaten angepasst werden, was ein sehr aufwändiges Unterfangen ist. Leider findet der ESC-SCORE in der Praxis aber dennoch kaum Anwendung, was einerseits an der analogen Handhabung liegen kann, andererseits daran, dass er nicht direkt ersichtlich die nötigen Interventionen vorschlägt. Übersehen wird häufig, dass bei Vorliegen bestimmter Indikationen eine Berechnung des ESC-SCORES gar nicht erforderlich ist. Dies gilt für kardiovaskuläre Vorerkrankungen, Diabetes, Niereninsuffizienz, familiäre Hypercholesterolämie oder bei besonders hohen Risikofaktoren in der Anamnese – und somit für die Mehrzahl der infrage kommenden Patienten. Hier ist per se eine Therapie mit Ziel LDL-C < 100 mg/dl (hohes Risiko) oder < 70 mg/dl /sehr hohes Risiko) erforderlich. Lebensstiländerungen sind zwar präventiv erstaunlich effektiv, bei Vorliegen dieser Risikofaktoren aber alleine nicht mehr ausreichend. Trotz einer neuen und schönen ESC-Tabelle zu den Risikoeinteilungen sind Therapieziel und Intervention nicht immer klar ersichtlich: Für Typ-2-Diabetiker ohne Endorganschäden oder hohe Risikofaktoren und einem LDL-C-Wert zwischen 70 und 100 mg/dl wird in den Interventionstabellen z. B. angegeben, dass Lebensstiländerungen und in unkontrollierten Fällen eine medikamentöse Behandlung erfolgen sollen. Für weniger spezialisierte Pharmakotherapeuten bleibt also weiterhin viel Spielraum (= Unsicherheit) in der Bewertung. Zudem spuken in vielen Köpfen die Statin-assoziierten Muskel-Symptome als Schreckgespenst herum, obwohl erhöhte Kreatininkinase-Werte nur äußerst selten vorkommen und sich die häufigeren leichten Beschwerden durch Ausweichen auf andere Statine oder eine Kombination eines niedrig dosierten Statins mit Ezetimib oder Gallensäurebindern in fast allen Fällen vermeiden ließen. Gerne wird angeführt, dass es kaum Studien mit älteren Patienten gebe oder dass die Lebenserwartung für die Effekte nicht mehr ausreiche, obwohl in Metaanalysen selbst moderate Statin-Dosierungen zu einer 22%igen Mortalitätssenkung bei 65- bis 82-Jährigen über 5 Jahre führten [Afilalo et al. J Am Coll Cardiol 2008]. In Anbetracht der Tatsache, dass Statine unkompliziert, preiswert und bei richtiger Anwendung nebenwirkungsarm sind und zudem um bis zu 40% – und somit klinisch äußerst effektiv – das kardiovaskuläre Risiko und die Mortalität senken, sollte man sich die Frage stellen, ob eine in speziellen Fällen verhinderte Überversorgung die häufige Unterversorgung aufwiegt. Es ist wohl nur der verklausulierten Veranschaulichung von ESC-Leitlinie und -SCORE geschuldet, dass erneut die Translation der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Praxis in vielen Fällen ausbleiben wird. Dem groß gewordenen Stiefkind Dyslipidämie – und somit der Volksgesundheit – wird das Update der Leitlinie somit nur bedingt gerecht. Eine für alle Therapeuten klare und verbindliche Anweisung wäre hilfreicher gewesen. Unterdessen wendet sich die klinische Forschung vom über Jahrzehnte bearbeiteten Feld der Statine ab und den hipperen PCSK-9 Hemmern zu. Die Zeche der ausbleibenden Wissenstranslation zahlen am Ende aber nicht die debattierenden Spezialisten, sondern die betroffenen Patienten.
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