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Hintergrund

Ein Lieferengpass und kein Mangel

In den Kliniken fehlt Remifentanil, und in Sachsen lagern große Mengen

Nicht erst in den letzten Wochen wurde von Glaxo-Smith-Kline ein Lieferengpass von Remifentanil an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeldet. Schon Mitte letzten Jahres gab es Mitteilungen über Engpässe bei gleich zwei Opioiden, Remifentanil von GSK und Sufentanil von Janssen-Cilag. Ohne nun alle Ereignisse im Detail aufzuzählen, soll aber festgestellt werden, dass sich die Situation im Januar aufgrund weiterer Engpässe verschlechterte und Ende April dann nur noch wenige Kliniken beliefert werden konnten. | Von Ulrike Holzgrabe und Helmut Buschmann

Remifentanil ist ein hochpotentes Opioid mit hoher agonistischer Selektivität für den µ-Opiatrezeptor; seine Wirkung ist rund 200-mal stärker als die von Morphin. Remifentanil hat einen sehr schnellen Wirkeintritt, wird aber auch sehr schnell im Serum durch unspezifische Organesterasen metabolisiert. Daher kann es sicher bei Patienten mit Leberschäden eingesetzt werden. Die Anwendung erfolgt meistens durch kontinuierliche intravenöse Infusion. Zu den möglichen unerwünschten Wirkungen gehören wie bei anderen Opioiden niedriger Blutdruck, langsamer Puls und Atemdepression [1]. Remifentanil findet in der Hauptsache als Kurzzeitanästhetikum bei der Einleitung und Aufrechterhaltung einer Narkose Anwendung und gilt wegen der Kurzzeitwirkung als besonders gut steuerbares Narkose­mittel. Deshalb wird es insbesondere für ambulante Operationen eingesetzt.

Abb. 1: Remifentanil gehört wie Fentanyl, Sufentanil, Carfentanil und Alfentanil strukturell zur Klasse der 4-Anilidopiperadine.

Nicht lieferbar trotz mehrerer Produktionsstätten

Es stellt sich die Frage, woran dieser erneut aufgetretene Engpass liegt. Im Gegensatz zum Piperacillin-Mangel, der erst kürzlich zu Problemen bei der Antibiotika-Versorgung führte, ist hier keine Produktionsstätte im fernen Osten explodiert. Ganz offensichtlich gibt es sogar mehrere Produktionsstätten weltweit. Den Pressemitteilungen zufolge lässt GSK, die trotz des Ablaufs der Basispatente nach wie vor 80% der Marktanteile hält, den Rohstoff Remifentanil in Italien produzieren. Es gibt weitere nicht benannte Produktionsstätten für den Wirkstoff in Osteuropa und Indien. Und außerdem gibt es einen Hersteller in Dresden, die Arevipharma, einen Lohnhersteller, der eine ganze Reihe von hochpotenten Opioiden als aktive pharmazeutische Wirkstoffe (APIs) synthetisiert. Da der Patentschutz bereits im Jahre 2011 ausgelaufen ist, gibt es mehrere Arzneimittelhersteller, die Remifentanil als Konzentrat/Lyophilisat zur Herstellung von Injektions- und Infusionslösungen produzieren. Dazu gehören neben dem Marktführer GSK auch TEVA, Fresenius Kabi, Hameln Pharma Plus und Braun Melsungen. Auch die Hexal AG zählte zu den Remifentanil-Herstellern; der Konzern hatte sich aber bereits 2015 entschlossen, Remifentanil nicht weiter zu vermarkten. Auch andere Hersteller wie Pfizer, Mylan, Hospira, Noridem, Orion und Biokanol sowie die auf Anästhetika spezialisierte Biotechfirma Paion hatten sich wegen der niedrigen Preise von dem Wirkstoff verabschiedet. Die noch verbleibenden Remifentanil-Hersteller neben GSK teilen sich aber lediglich einen Marktanteil von rund 20% im Vergleich zur Marktdominanz des Originalpräparates. Dennoch haben wir hier nicht die Situation, dass die ganze Produktion der Darreichungsform nur auf einer oder zwei Schultern ruht. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass GSK den Vertrieb von seinem Produkt Ultiva® an die südafrikanische Firma Aspen verkauft hat. GSK bestätigt zwar den Verkauf, bestreitet aber jeglichen Zusammenhang mit dem Lieferengpass, da die Übertragung noch nicht stattgefunden haben soll.

Ein Qualitätsproblem?

Immer wieder kommt die Bemerkung auf, dass der Lieferengpass auf die Nichtverfügbarkeit von geeigneter Qualität des hochpotenten Wirkstoffs zurückzuführen sei. Ist denn Remifentanil so schwierig herzustellen? Ein Blick in das Europäische Arzneibuch [2] zeigt, dass für Remifentanil die beachtliche Zahl von 14 Verunreinigungen dokumentiert ist, wobei für die einzelnen Verunreinigungen zum Teil hohe Grenzwerte von 0,5, 0,2 und 0,15 Prozent erlaubt sind (siehe Abb. 2), allerdings mit einem Grenzwert für alle Verunreinigungen zusammen von 1%. Dies ist für eine synthetische Substanz und ein verhältnismäßig einfaches Molekül ungewöhnlich hoch. Deshalb soll die Synthese etwas näher betrachtet werden.

Abb. 2: Verunreinigungen von Remifentanil, die durch den Test auf verwandte Substanzen begrenzt werden können.

Die Synthese und ihre Schwachstellen

Im Laufe der Jahre wurde die ursprüngliche Synthese von 1991 [3] immer weiter verbessert, wie aus der Patentliteratur zu entnehmen ist (eine Übersicht findet sich in [4]). Der wohl am meisten genutzte einfache Syntheseweg ist in Abbildung 3 gezeigt. Die im Arzneibuch genannten potenziellen Verunreinigungen sind im Syntheseschema gekennzeichnet. Das kommerziell erhältliche Startmaterial N-Benzylpiperidon wird mittels Streckersynthese zum Nitril umgesetzt und das Nitril zum Amid (Verunreinigung) und weiter zur Säure (Hauptverunreinigung 0,5%) hydrolysiert, die in einem weiteren Syntheseschritt verestert wird. Das intermediäre Amid kann eine Cyclisierung mit dem verwendeten Lösungsmittel DMF eingehen, was zur spiroverknüpften Verunreinigung L führt (Abb. 2, [5]). Anschließend wird der Anilinstickstoff der Aminosäure mit Propionsäureanhydrid oder -säurechlorid acyliert. Da offensichtlich falsche oder verunreinigte Anhydride benutzt werden, resultieren die zwei Verunreinigungen B und D (Abb. 2). Reduktiv wird dann die N-Benzylgruppe abgespalten (Verunreinigung mit 0,2%) und mit Acrylsäuremethylester Remifentanil erhalten. Eine anfängliche N-Alkylierung von Piperidon mit Acrylsäuremethylester und anschließende Streckersynthese ergibt ein Zwischenprodukt von Remifentanil, das als potenzielle Verunreinigung M gelistet ist [4].

Abb. 3: Synthese von Remifentanil nach Patent WO200140184A2 [7]

Normalerweise sind Verunreinigungen die Edukte und Nebenprodukte des letzten, evtl. auch des vorletzten Syntheseschritts, da nach jedem Syntheseschritt eine Aufreinigung und Qualifizierung erfolgen, die durch strenge Prozesskon­trollen überprüft und dokumentiert werden. Hier werden offensichtlich Zwischenprodukte schon von den ersten Synthesestufen mitgeschleppt, da anscheinend keine effiziente Abreicherung durch Reinigungsschritte erfolgt und falsche oder stark verunreinigte Acylierungsreagenzien eingesetzt werden. All dieses lässt auf eine nicht ganz einfache Reak­tionsführung schließen.

Stabilität – nicht das Problem

Um aus dem hergestellten Wirkstoff (in der regulatorischen Nomenklatur auch Drug Substance genannt) die finale Darreichungsform (das sogenannte Drug Product) herzustellen, wird Remifentanil schlussendlich aus einer wässrigen Lösung mit Natriumchlorid und Salzsäure lyophilisiert, um als lagerstabiles Pulver im Gebrauchsfall schnell rekonstituiert werden zu können [6]. Damit liegt Remifentanil in der finalen Darreichungsform als Hydrochloridsalz vor. Übrigens wird die Stabilität des Lyophilisats mit 2 Jahren ohne spezielle Einschränkung der Lagerbedingungen in der Fachinformation angegeben, so dass Stabilitätsprobleme der Darreichungsform für den vermeintlichen Lieferengpass ebenfalls nicht verantwortlich gemacht werden können.

Wirkstoff für mehrere Tausend Dosen auf Lager

Nun wird in der Presse immer wieder von einem Produk­tionsengpass berichtet (den GSK bestreitet). Interessant ist die Tatsache, dass auf Nachfrage Arevipharma berichtet, dass sie den Wirkstoff in ausreichender Menge auf Lager haben, überraschenderweise aber keine verstärkte Nachfrage zu verzeichnen war. Bedenkt man, dass die für die Anästhesie notwendige Dosis nur 1, 2 oder 5 mg beträgt und dass Remifentanil zumeist in Ambulanzen für kurze Narkosen gebraucht wird, dann sollte Arevipharma mit den eingelagerten Mengen einen Vorrat des Wirkstoffs ausreichend für mehrere Tausend Dosen bereitstellen können.

Welches Spiel wird gespielt?

Fasst man all diese Fakten zusammen, so ist weder aus der relativ simplen Synthese noch aus der Stabilität [6] ein Grund für den Lieferengpass abzuleiten. Im Gegenteil, es gibt eine Menge Remifentanil auf dem Markt, die aber nicht nachgefragt wird. Welches Spiel wird also hier gespielt? Wird hier künstlich eine Verknappung vorgegaukelt, um den Preis von Ultiva® in Deutschland hoch zu halten oder andere profitablere Märkte zu bedienen? Aber warum nutzt man dann als Hersteller der Darreichungsform die Vorräte der Wirksubstanz bei Arevipharma nicht, um den Umsatz konstant zu halten oder gar noch zu steigern, da solche Engpässe immer wieder zu einer erhöhten Vorratshaltung führen?

Alternativen sind vorhanden

Zum Schluss sei noch angemerkt, dass es vielleicht – wenn überhaupt – einen Lieferengpass gibt, aber keinen Versorgungsengpass, denn man kann das sehr häufig bei ambulanten Operationen eingesetzte Remifentanil, das in der Narkose gut extrem gut steuerbar ist, gegen andere Fentanylderivate austauschen. Mit diesen ist die Anästhesie zwar nicht so komfortabel, aber eine Operation muss wegen Remifen­tanil-Mangels nicht unbedingt verschoben werden. |

Literatur

[1] Mutschler E et al. Arzneimittelwirkungen, 10. Auflage, Wiss. Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 2013.

[2] Europäisches Arzneibuch, Monographie 07/2017:2644, European Directorate for the Quality of Medicines and HealthCare (EDQM), Strasbourg, 2013

[3] Feldman PL, James MK, Brackeen MF, et al. J. Med. Chem. 34(1991)2202-08

[4] Mathia F, Marchalin S, Vegh D, et al. Acta Chim. Slov. 5(2012)145-152.

[5] Walz AJ, Hsu F-L, Tetrahedron Lett. 55(2014)501-2

[6] Galante LJ, Heiman SA, Igo DH et al. WO/2000/051603

[7] Jacob M, Killigore K, WO200140184A2

Autoren

Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe

hat Chemie und Pharmazie studiert und ist seit 1999 Lehrstuhlinhaberin für Pharmazeutische und Medizinische Chemie in Würzburg.

Dr. Helmut Buschmann

hat in Aachen Chemie studiert. Nach Stationen bei Grünenthal und Esteve ist er Leiter der Chemie und Pharmazeutischen Entwicklung bei AiCuris in Wuppertal und Mitinhaber der Research, Development & Consultancy GmbH in Wien.

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