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Cannabis und Endocannabinoide

Die pharmakologische Perspektive

Seit Kurzem sind Cannabisblüten als von den Krankenkassen erstattetes Rezepturarzneimittel in der Apotheke erhältlich. Die einen sehen darin eine sinnvolle Erweiterung des Therapiespektrums, andere hingegen bewerten diese Entwicklung aufgrund mangelnder Standardisierungsmöglichkeiten und begrenzter Erfahrung eher negativ. In dieser Debatte kommt häufig der pharmakologisch-wissenschaftliche Gesichtspunkt zu kurz. Deshalb fand am 1. Juni im Rahmen der Vortragsreihe der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft in Hannover eine Veranstaltung statt, in der Prof. Erich Schneider (Institut für Pharmakologie der Medizinischen Hochschule Hannover) die Wirkungen von Cannabis auf das Endocannabinoidsystem erläuterte.

Schneider wies darauf hin, dass Cannabis schon vor über 2000 Jahren in China sowie im Mittelalter besonders in der arabischen Welt medizinisch eingesetzt wurde. In Europa wuchs seine Bedeutung im 19. Jahrhundert, schwand aber wieder mit der Entwicklung wirksamerer Arzneimittel.

Cannabidiolsäure und Δ9 -Tetrahydrocannabinolsäure sind die Vorläufer der pharmakologisch am besten erforschten Cannabinoide Cannabidiol (CBD) und Δ9 -Tetrahydrocannabinol (THC). Sie werden durch Erhitzen (z. B. beim Rauchen) decarboxyliert.

Das psychoaktive THC wirkt als Partialagonist an CB1 - und CB2 -Rezeptoren. CBD hingegen stimuliert andere Zielstrukturen und wird nicht als Betäubungsmittel eingestuft. Der THC-Gehalt der Droge hat sich durch Züchtung und optimierte Kulturbedingungen seit den 1970er-Jahren mehr als verdoppelt, was das Gefahrenpotenzial möglicherweise erhöht.

Cannabis wirkt akut kreativitätssteigernd, euphorisierend und entspannend. Die Wirkqualität (anregend oder sedierend) hängt von der Unterart (z. B. sativa oder indica) ab. Beim Rauchen fluten die Wirkstoffe (v. a. THC) innerhalb von zehn Minuten an, während die Pharmakokinetik peroraler Zubereitungen (z. B. Kekse) langsamer und schwerer vorhersagbar ist (45 – 120 min).

Cannabis macht süchtig, allerdings in geringerem Ausmaß als Alkohol oder Nicotin. Der Konsum korreliert mit einer doppelt so hohen Inzidenz von Psychosen und verschlechtert deren Prognose.

Foto: Haramis Kalfar – Fotolia.com
Cannabis zur Inhalation. Die wichtigsten Informationen zur Lagerung, Abgabe und Beratung in der Apotheke finden Sie in der DAZ 2017, Nr. 13, S. 8.

Droge, Extrakte, Reinsubstanzen

Der Nutzen von THC bzw. Cannabis ist zurzeit für die Therapie der Spastizität bei Multipler Sklerose belegt, außerdem zur Therapie von neuropathischen Schmerzen, von Chemotherapie-induziertem Erbrechen sowie (mit geringerer Evidenz) zur Appetitanregung bei HIV/Aids-Patienten. In den vergangenen Jahren standen THC (Dronabinol), THC-Derivate (Nabilon) oder standardisierte Cannabis-Extrakte (Nabiximols, 1 : 1 THC : CBD) zur Verfügung. Nun wird das Sortiment durch zahlreiche Cannabis-Sorten mit unterschiedlichen THC : CBD-Verhältnissen erweitert. Durch pharmakologische Interaktionen der verschiedenen Cannabis-Inhaltsstoffe könnte die Pflanzendroge durchaus andere Wirkungen besitzen als die beiden Reinsubstanzen (Entourage-Effekt). Ein hoher CBD-Anteil reduziert möglicherweise die THC-vermittelte appetitanregende und suchterzeugende Wirkung von Cannabis. CBD kann aber auch die Psychose-fördernden Effekte von THC antagonisieren. Die Forschung zu diesen Wechselwirkungen steht erst am Anfang, sodass Ärzte die Cannabis-Sorten noch nicht nach evidenzbasierten Empfehlungen auswählen können. Dies macht die Kritik am Gesetz „Cannabis als Medizin“ durchaus verständlich.

Therapeutische Aspekte des ECS

Schneider erläuterte auch das Endocannabinoidsystem (ECS) des Menschen und ging auf die unterschied­liche Expression der beiden Cannabinoid-Rezeptor-Subtypen CB1R und CB2R im zentralen Nervensystem und in der Peripherie ein, denn sie hat spannende Auswirkungen. So könnte der CB2R aufgrund seiner immunologischen Rolle in Zukunft zu einer wichtigen Zielstruktur für die Therapie von rheumatoider Arthritis oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen werden. Darüber hinaus gab Schneider interessante Beispiele für Quervernetzungen des ECS mit anderen Systemen; es könnte z. B. an der Wirkung von NSAR beteiligt sein.

Das ECS in der Urzeit

Evolutionsgeschichtliche und physio­logische Aspekte des ECS bildeten den Abschluss dieses umfassenden und mitreißenden Vortrages: Der CB1R ­fördert die Geruchswahrnehmung, steigert den Appetit und unterstützt Faktoren, die bei unseren jagenden Vorfahren für die Nahrungssuche ­essenziell waren (z. B. Angst- und Schmerzreduktion oder Erholung nach traumatischen Erlebnissen). Außerdem stimuliert der CB1R die Fett­synthese und die Gluconeogenese. Mithilfe des CB1R konnten unsere ­Vorfahren in „fetten Zeiten“, die allerdings selten waren, über das Sättigungsgefühl hinaus Nahrung auf­nehmen und sich somit Fettpolster für Notzeiten zulegen. Beim heutigen Nahrungsüberfluss in den Industrienationen fördert der CB1R hingegen die Entwicklung von Adipositas, kardiovaskulären Erkrankungen und Diabetes Typ 2.

Im Gegensatz zum CB1R könnte der CB2R eine kardiovaskuläre Schutzfunktion ausüben. Viele Pflanzen – darunter Gemüsearten und Gewürze – enthalten Stoffe, die den CB1R blockieren (z. B. Falcarinol in der Karotte oder Petersilie) oder den CB2R aktivieren (z. B. β-Caryophyllen im schwarzen Pfeffer); insofern könnten sie durch die „Stärkung der CB2R-Seite“ zu einer gesunden Diät beitragen. Dagegen stellt das CB1R-aktivierende THC in der Cannabis-Pflanze eher eine Ausnahme im Pflanzenreich dar. |

Dr. Gisela Sperling

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