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Deutscher Apothekertag 2017
Gordischer Knoten
Ein Kommentar von Christian Rotta
Es ist ein argumentatives Dilemma, das auch bei den Debatten in Düsseldorf immer wieder deutlich wurde: Die Beantwortung der Frage, ob in Deutschland aktuell die flächendeckende und optimale Arzneimittelversorgung (noch) gewährleistet ist. Ist sie es nicht, so sieht man sich regelmäßig mit dem Einwand konfrontiert, dass doch zumindest in solchen unterversorgten Gebieten Arzneimittelautomaten à la Hüffenhardt und der Versandhandel mit Arzneimitteln im wohl verstandenen Patienteninteresse liegen könnten.
Sieht man dagegen aktuell nirgends Versorgungslücken, so lautet der naheliegende Einwand der Freunde des Versandhandels: „Was wollt Ihr denn? Offensichtlich gefährdet der geringe Versandhandelsanteil das bestehende Apothekennetz in Deutschland ja doch nicht – auch ein Jahr nach dem EuGH-Urteil zur Freigabe der grenzüberschreitenden Preisbindung bei Arzneimitteln ist die Umsatzverschiebung in Richtung ausländischer Versender überschaubar.“
Auf die letztgenannte Argumentationsschiene setzen insbesondere DocMorris/Zur Rose und ihre Lobbyverbände. Allerdings – und das ist ihr Dilemma – konterkarieren sie damit die eigene These, dass es fast 13 Jahre nach Einführung des Arzneimittelversandhandels in Deutschland eine rechtlich verbürgte Existenzgarantie für „Versandapotheken“ geben müsse. Dieser Einwand ist aus zwei Gründen obsolet: zum einen, weil dem geltenden Apothekenrecht das Konstrukt reiner „Versandapotheken“ fremd ist; zum anderen, weil es für einen so geringen Versandhandelsanteil beim Betreiben einer öffentlichen Apotheke weder einen verfassungsrechtlichen noch einen unionsrechtlichen Bestandsschutz geben kann. Ein Land, in dem es politisch und rechtlich möglich ist, aus der Atomkraft auszusteigen, dürfte auch in der Lage sein, den Ausstieg aus dem Rx-Versandhandel rechtssicher umzusetzen und auszugestalten (wenn es nur will) …
Wie kann der gordische Knoten durchschlagen werden? Die Wahrheit ist: Auch heute schon gibt es Landstriche, in denen die wohnortnahe Arzneimittelversorgung suboptimal ist, das heißt Medikamente nicht persönlich in der Apotheke an Kunden ausgehändigt werden, sondern anderweitig entweder mittels Apothekenboten (bei Bestellung via Rezeptsammelstelle) oder sogar nur durch Fremdboten (bei Bestellung via Versandapotheke) ausgeliefert werden. Zwischen diesen drei Varianten besteht unter Versorgungs- und Sicherheitsaspekten ein qualitatives Stufenverhältnis: Im gesetzlichen Regelfall wird ein Arzneimittel im Zuge einer persönlichen Face-to-Face-Gesprächsinteraktion zwischen Apotheker und Patient/Kunde in den Apothekenbetriebsräumen durch pharmazeutisches Personal ausgehändigt. Dieser Regelfall gewährleistet eine optimale Arzneimittelversorgung. Nur dann, wenn in abgelegenen Orten oder Ortsteilen ohne Apotheke eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung nicht gesichert ist und es der Bevölkerung aufgrund örtlicher oder verkehrsmäßiger Verhältnisse unzumutbar ist, ihren Bedarf an Arzneimitteln unmittelbar aus Apotheken über größere Entfernungen hinweg zu decken, dürfen Rezeptsammelstellen eingerichtet werden. Nach der Rechtsprechung handelt es sich bei ihnen um – im Vergleich zur Arzneimittelaushändigung in der Apotheke – „subsidiäre Notbehelfe“, die zwar eine ordnungsgemäße, jedoch keine optimale Arzneimittelversorgung gewährleisten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Verordnungsgeber das System der Rezeptsammelstellen auch nach Einführung des Versandhandels mit Arzneimitteln weiterhin aufrechterhält. Er bringt damit zum Ausdruck, dass allein mit der Möglichkeit, Arzneimittel per Versand zu bestellen, eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung, z. B. in ländlichen Regionen, nicht gesichert werden kann.
Vor diesem Hintergrund kann zweierlei festgestellt werden:
Auch heute ist die Arzneimittelversorgung in Deutschland durch ein engmaschiges Netz von öffentlichen Vor-Ort-Apotheken und Rezeptsammelstellen mit Botendiensten flächendeckend gewährleistet. Allerdings verschiebt sich durch sinkende Apothekenzahlen in ländlichen Regionen das Verhältnis von optimaler Arzneimittelversorgung (unmittelbare Beratung und Aushändigung in Apothekenbetriebsräumen) und ordnungsgemäßer Arzneimittelversorgung (Bestellung via Rezeptsammelstellen, Beratung/Auslieferung per Botendienst). Der Versandhandel, bei dem Arzneimittel ausschließlich von pharmazeutisch unkundigen Fremdboten ausgeliefert werden, vermag weder das eine noch das andere zu ersetzen. DocMorris & Co. sind deshalb ungeeignet, eine qualitativ anspruchsvolle flächendeckende Arzneimittelversorgung zu gewährleisten. Sie können weder die Versorgungsfunktion von Vor-Ort-Apotheken noch von Botendiensten/Rezeptsammelstellen hinreichend ersetzen.
Wahr ist aber auch: Der Versandhandel nimmt Fahrt auf. Die wettbewerbsverzerrende preisrechtliche Privilegierung ausländischer Arzneimittelversender zersetzt auf Dauer die wirtschaftlichen Grundlagen des bestehenden Apothekensystems. In allen Bundesländern nehmen Apothekenschließungen zu – wobei in ländlichen Regionen damit eine steigende Zahl von Rezeptsammelstellen korrespondiert. Dieser erodierende Prozess, der das bestehende optimale Versorgungsniveau senkt, dürfte sich dramatisch beschleunigen, wenn es der Gesetzgeber weiterhin unterlässt, auf das EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2016 zu reagieren. Wie in dem auch von Minister Gröhe in seiner Rede in Düsseldorf angesprochenen Gutachten von May/Bauer/Dettling plausibel belegt wird, werden aufgrund von Umsatzverlagerungen zu ausländischen Versandapotheken in Deutschland dann mindestens 1700 Apotheken, die die einzige Apotheke im Umkreis von fünf Kilometern sind, aus wirtschaftlichen Gründen schließen müssen. Über 1700 Ortschaften oder Ortsteile wären dadurch ihrer Solitär-Apotheke beraubt und müssten von weiter entfernt liegenden Vor-Ort-Apotheken über Rezeptsammelstellen und per Botendienst mit Arzneimitteln versorgt werden. Spätestens dann müsste von einer Durchlöcherung des Apothekennetzes gesprochen werden – einer Durchlöcherung, die auch Auswirkungen auf das Niveau der Versorgungsqualität hätte.
Hiermit dürfen wir uns gerade in einer „alternden Gesellschaft“ jedoch nicht abfinden. Das gesundheitspolitische Ziel muss es sein, auch im ländlichen Raum und in abgelegenen Orten und Ortsteilen eine optimale Arzneimittelversorgung zu gewährleisten. Dass Päckchenpacken und der Versandhandel hierzu nicht in der Lage sind, ist offensichtlich. Aber auch das bestehende System der Errichtung von Rezeptsammelstellen einschließlich ihrer rechtlichen Zulassungsvoraussetzungen ist optimierbar. Es geht darum, das Konzept von Vor-Ort-Apotheken mit ihren Dienstleistungen und Home-Services neu zu denken und weiterzuentwickeln, damit Vor-Ort-Apotheken auch in Zukunft eine pharmazeutisch und persönlich grundierte Arzneimittelversorgung insbesondere alter, immobiler und multimorbider Patienten gewährleisten können. Denkverbote sollte es dabei nicht geben.
Es ist erfreulich, dass ein Antrag der Landesapothekerkammer Rheinland-Pfalz, der genau dies einfordert, von der Hauptversammlung nahezu einmütig angenommen wurde. Auf die neuen Konzepte darf man gespannt sein.
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