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Deutscher Apothekertag 2017
Unaufhaltsam auf Deregulierungskurs?
„Themenforum Europa und Gesundheitspolitik“ übt grundsätzliche Kritik an EU-Vorhaben
wes | Es hätte ein Höhepunkt des Apothekertags werden können: Das „Themenforum Europa und die Gesundheitspolitik“. Zu diskutieren hätte es genug gegeben vom Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der in Überschreitung seiner Zuständigkeit eiskalt das deutsche Arzneimittel-Versorgungssystem kippt, bis zum drohenden Dienstleistungspaket, das eine Deregulierungsspirale in Gang setzen könnte, an deren Ende vom freien Heilberuf wie wir ihn heute kennen nicht viel übrig bleiben würde. Doch an drei Einführungsvorträge über den aktuellen Zustand Europas schloss sich eine wenig ergiebige Diskussion an, in der es um die Ökodesign-Richtlinie, die Bankenkrise und das Verhältnis der Bundes- zu den Europarichtern ging. Nur um das Gesundheitswesen ging es nicht.
Dabei hatte der Donnerstagnachmittag verheißungsvoll angefangen. Prof. Dr. Klaus Rennert, Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, legte die Latte hoch: In seinem Vortrag erklärte er die Rolle der freien Berufe und die Kritik, der sich das deutsche Konzept der Regulierung dieser Berufe aus Europa ausgesetzt sieht. Zwar hätten die allermeisten EU-Mitgliedstaaten Regeln für die Heil-, Rechts- und höheren technischen Berufe, nur seien diese in den nord- und osteuropäischen Ländern eben deutlich weniger ausgeprägt als in Deutschland, Österreich und den romanischen Ländern.
Rennert gab zu bedenken, dass jede berufsrechtliche Regulierung immer eine Einschränkung von Freiheit sei, die der Rechtfertigung bedarf. Die deutschen Regelungen seien dies aber durchaus, da die freien Berufe in unserem Sozialleben eine besondere, hervorgehobene Stellung einnähmen, z. B. der Anwalt in der Rechtspflege oder Ärzte und Apotheker im Gesundheitswesen, würden sie für die Belange der Allgemeinheit besonders in die Pflicht genommen – weil der Gesellschaft nicht egal sein könne, wie diese Belange ausgeführt werden.
Regulierung ist gerechtfertigt
Als weitere Begründung führte Rennert den Mandanten- bzw. Patientenschutz an. Dieser gehe über den „normalen“ Verbraucherschutz hinaus, da die Betroffenen zum einen eine höhere Schutzbedürftigkeit hätten. Ein Patient befindet sich in einer Ausnahmesituation – er ist krank – und ist existenziell auf die Leistung des Freiberuflers angewiesen. Gleichzeitig ist er ihm aber in der Qualifikation stark unterlegen, er kann weder die Qualität der Leistung noch den dafür verlangten Preis kompetent beurteilen – oft kann der Patient nicht einmal einschätzen, ob er die Leistung wirklich benötigt oder auch darauf verzichten könnte. Dieser Asymmetrie zwischen dem Leistungsanbieter und dem Nutzer dürfe, ja müsse der Staat regulierend begegnen.
Jede Regulierung müsse aber verhältnismäßig und zielführend sein, sie dürfe nicht „überschießend“ sein und müsse sich grundsätzlich dazu eignen, das gewünschte Schutzziel auch zu erreichen. „Genau hier scheiden sich die Geister“, so Rennert, darüber, was verhältnismäßig ist, könne man trefflich streiten. Wichtig sei aber: „Nach deutschem Recht obliegt diese Einschätzung der Politik, nicht der Rechtsprechung.“ Das aber sehe mit dem nun absehbaren neuen Europarecht anders aus: Jede Regulierung sei der EU-Kommission ein Dorn im Auge, gemäß dem Credo „Deregulierung schafft Wettbewerb, und mehr Wettbewerb schafft mehr Wohlstand“. Dieses Credo könne aber nicht für das Berufsrecht gelten, so Rennert, und die Kommission habe in dieser Frage eigentlich auch keine Regelungskompetenz.
Die Kommission, das betonte Rennert sehr, darf nur prüfen, ob eine bereits bestehende Regulierung die Berufsausübung (durch Berufsangehörige aus einem anderen Mitgliedstaat) nicht „unzulässig“ beschränke. Das Problem sei dabei, dass, was nach deutschem Recht verhältnismäßig sein mag, es nach europäischem noch lange nicht sein muss.
Verschiebung zur Kommission
Im Fall der freien Berufe erkenne die Kommission den ursprünglichen Regelungsgrund durchaus an, so der Bundesrichter. Die heutigen Regulierungen betrachte sie aber als zu stark einschränkend. Deshalb überziehe sie insbesondere Deutschland, Österreich und Frankreich mit einer großen Zahl an Vertragsverletzungsverfahren. Dabei belasse sie es aber nicht, in einer „Doppelstrategie“ verfolge die Kommission eine Reihe von politischen Vorhaben, um die „regulierten Berufe“ zu deregulieren. Dafür habe die Kommission Anfang des Jahres neue Richtlinien vorgeschlagen. Eine davon würde die Verhältnismäßigkeitsprüfungen, die Mitgliedstaaten für neue Berufsregeln durchführen müssten, bis ins kleinste Detail „buchstabieren“. Eine zweite Richtlinie würde die EU-Staaten verpflichten, jede neue berufsrechtliche Regelung zu notifizieren, sie also der Kommission im Voraus zur Bewertung zuzuleiten.
Rennert kritisierte diese Vorhaben der EU-Kommission scharf. So achte die Kommission die Regelungshoheit der Mitgliedstaaten gering. Die Organe der EU dürften nationale Regelungen erst angreifen, wenn sie schlechterdings unhaltbar sind. Dann aber, so Rennert, wären sie wohl auch verfassungswidrig. Auch gehe die Beweislast nicht so weit, dass der Mitgliedstaat beweisen müsste, dass das angestrebte Ziel mit keiner anderen Maßnahme als der geplanten zu erreichen wäre – und schon gar nicht im Vorfeld.
Dazu komme, dass die Kommission ihre Argumentation auf untaugliche Grundlagen stütze. Die angeführten Studien, die zeigen sollen, dass Deregulierung quasi zwangsläufig zu mehr Wachstum führe, bezögen sich gar nicht auf die freien Berufe, sondern auf andere Branchen wie das Handwerk.
Außerdem stelle die Kommission die Gewaltenteilung infrage, und zwar zwischen Gerichten und der Politik genauso wie zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union. Die Einschätzungsprärogative der Mitglieder stehe im Unionsrecht zunehmend infrage, nicht nur bei den freien Berufen. In der Konsequenz führe das zu einer doppelten Kompetenzverschiebung: Zum einen von den Mitgliedstaaten zu den Organen der EU, ohne dass dafür das geschriebene EU-Vertragsrecht geändert würde. Zum anderen zu einer gleichzeitigen Verschiebung von den politischen Organen hin zu den Gerichten und der Kommission als „Hüter der Verträge“. Diese seien aber zur Beantwortung genuin politischer Fragen gar nicht legitimiert.
Auswirkungen der Initiative
Welche Auswirkungen die von der EU-Kommission vorangetriebene „Transparenzinitiative“ mit dem geplanten Dienstleistungspaket haben könnte, erläuterte im Anschluss der ABDA-Syndikus Michael Jung. Das Paket enthalte für alle Dienstleistungsberufe verschärfte Rahmenbedingungen, etwa eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits vor Erlass neuer Berufsregelungen. Jung warnte, dass die geplanten Regelungen auch für die Heilberufe gelten sollen, für die es bisher eine pauschale Ausnahme gab. Außerdem sollen nicht nur neue, sondern auch bereits bestehende Regulierungen in regelmäßigen Abständen überprüft werden. Die Ergebnisse dieser unter der Einbeziehung nicht näher definierter „unabhängiger Kontrollstellen“ durchgeführten Prüfungen sollten dann in einer Datenbank veröffentlicht werden – „perfekte Munition für die nächsten Vertragsverletzungsverfahren“, warnte Jung.
Der ABDA-Anwalt hat aber Hoffnung, dass der Ministerrat und das Europäische Parlament die Kommission noch in ihre Schranken weisen könnten. So habe der Rat zu weit gehende Vorgaben an die nationalen Gesetzgeber kritisiert und den eigenen Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten betont. Diesen Spielraum betone auch das Europaparlament in seinen Stellungnahmen. Anders als der Rat, der die Heilberufe und den Gesundheitsschutz nicht explizit erwähnt, fordern die zuständigen Berichterstatter im Binnenmarktausschuss und im Gesundheitsausschuss des Parlaments eine sogenannte Bereichsausnahme für die Heilberufe, berichtete Jung. Diese würden dann gar nicht vom Dienstleistungspaket erfasst, erklärte er.
Europäische Allgemeinplätze
Eher allgemein mit der zunehmenden Europaskepsis setzte sich der Journalist Rolf-Dieter Krause auseinander, von 2001 bis 2016 Leiter des ARD-Studios Brüssel. Es bleibe aber das große Verdienst Europas, für siebzig Jahre Frieden und Wohlstand gesorgt zu haben. Krause plädierte für eine Konsolidierung der EU, das in Brüssel verbreitete Bild von der Europapolitik als Fahrrad, das umkippe, sobald man anhalte, sei schlichtweg falsch. Manchmal sei es sinnvoll oder gar notwendig, anzuhalten und einen Fuß auf den Boden zu setzen – „nicht zuletzt an roten Ampeln.“
Die anschließende Diskussion, an der neben den Vortragenden noch ABDA-Vize Mathias Arnold und der Leiter der ABDA-Europavertretung, Dr. Jens Gobrecht, teilnahmen, drehte sich dann ebenfalls stark um allgemeine europapolitische Themen wie die Auswirkungen der Bankenkrise, die griechischen Schulden oder die Klimapolitik. Zur Gesundheitspolitik oder gar Apothekenfragen kam die Runde unter der Moderation von ABDA-Sprecher Dr. Reiner Kern nicht mehr. |
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