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Nach dem EuGH-Urteil

Mord an der Apotheke – Teil 2

Überlegungen zum EuGH-Urteil und zum geplanten Rx-Versandverbot

Bereits vor dem unsäglichen EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2016 hat der ehemalige BfArM-Präsident Professor Harald G. Schweim vor dem „Mord an der öffentlichen Apotheke“ gewarnt (DAZ 2016, Nr. 27, S. 20). Täter wäre die Politik, konstatierte Schweim, unter tätiger Mithilfe der Apotheker selbst. Nun kommt mit dem Europäischen Gerichtshof ein weiterer Komplize dazu, meint Schweim im zweiten Teil seines Meinungsbeitrags. | Von Harald Schweim

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist ein Schlag ins Kontor. Viele Fachleute sagen, dass der EuGH damit seine Kompetenzen weit überschritten hat. Er habe in ein Politikfeld eingegriffen, das gemäß den Europäischen Verträgen den Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Als Erstes müsste dem deutschen Gesetzgeber doch eigentlich daran gelegen sein, diese Bestreitung seiner Zuständigkeit zur Regulierung des deutschen Sozial- und Gesundheitswesens zurückzuweisen. Immerhin wurde gerade mit einem Taschenspielertrick ein vierzig Jahre altes, zentrales Element der deutschen Gesundheitspolitik unter Berufung auf den Binnenmarkt gekippt, und das, obwohl gerade der deutsche Arzneimittel- und Apothekenmarkt offener und wettbewerbsgeprägter ist als die meisten anderen europäischen Systeme.

Der Tragödie nächster Akt

Tödlich ist der jetzige Schlag eigentlich noch nicht – zumindest nicht sofort. Der Gesamtanteil des Versandhandels am Rx-Handel beträgt derzeit maximal 5 Prozent, je nach Quelle. Nicht nur wegen dieses geringen Marktanteils war und ist der inländische Versandhandel kein Problem, sondern auch weil hier deutsches Recht gilt und durchgesetzt wird. Probleme machen eigentlich nur ausländische Versandapotheken, die vor allem aus den Niederlanden nach Deutschland liefern – sprich Europa Apoteek Venlo und DocMorris. Dazu kommt, dass das wahre Ziel der Kapitalgeber Fremdbesitz und Apothekenketten sind. Dieses langfristige Ziel verlieren sie auch nicht aus den Augen. Es droht also kein schneller Tod der Präsenzapotheke, sondern eher das langsame Ersticken durch die Garrotte.

Die „Schlachtlinie im Rx-Versand Krieg“ ist dabei aktuell nicht klar erkennbar. Zwar streitet Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe vehement für das Rx-Versandverbot, doch wie soll es umgesetzt werden? Der Koalitionspartner SPD ist immer noch uneins, ob bzw. unter welchen Bedingungen er Gröhes Gesetzentwurf zustimmen soll. Eine Verabschiedung mit den Stimmen von Union und Linken scheint selbst im Wahljahr 2017 undenkbar. Es wäre wohl zumindest das Ende der Koalition aus CDU und SPD.

Denkbare Alternativen

Aber was wären die Alternativen zum Rx-Versandverbot? Dafür bieten sich verschiedene Ansatzpunkte an:

1) Die Kassen. Mit dem EuGH-Urteil eröffnen sich für gesetzliche Krankenkassen neue Einsparmöglichkeiten. Boni auf zulasten der Krankenkassen abgegebene Arzneimittel gehören der Solidargemeinschaft, nicht dem einzelnen Patienten. Solche Boni privat zu kassieren ist Betrug an der Versichertengemeinschaft. Nach meinem Rechtsverständnis müssten die Kassen auch ohne Änderung der Gesetzeslage nach dem SGB gegen Versicherte, die Boni einbehalten, vorgehen. Die Krankenkassen könnten sich endlich einmal auf die Seite der Apotheker stellen und den Kollektivvertrag verteidigen – und sei es nur aus Eigeninteresse. Im Moment sieht es jedoch eher danach aus, als würden die Kassen nur darauf warten, endlich Selektivverträge über Rabatte mit einzelnen Apotheken abschließen zu können. Das könnte dazu führen, dass die Krankenkassen ihre Versicherten ermuntern, veranlassen oder gar zwingen müssen (Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V), verschriebene Arzneimittel wegen der günstigeren Preise nur noch bei ausländischen Versandapotheken zu bestellen.

2) Der Rahmenvertrag. Boni und Preisbindung regelt der Rahmenvertrag. Als ausländischer Marktteilnehmer hatte DocMorris zunächst keinen Anspruch auf Erstattung des Herstellerrabatts nach Sozialgesetzbuch. Mit dem Beitritt zum Rahmenvertrag über die Abwicklung der Herstellerabschläge nach § 130a SGB V zum 1. August 2010 zog DocMorris die Konsequenzen aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bzw. des Bundesverfassungsgerichts [1]. Fakt ist, DocMorris hat sich diesem Vertrag unterworfen, verstößt mit den Bonuszahlungen auf Rx-Arzneimittel zurzeit aber fortlaufend dagegen. Als Konsequenz wären alle Rezepte auf „Null“ zu retaxieren – wie dies bei deutschen Apotheken seit Jahren bei kleinsten Verstößen gegen Abgabevorschriften des Rahmenvertrags auch getan wird. Außerdem wäre DocMorris von der Belieferung auszuschließen, weil sich diese Verstöße fortgesetzt wiederholen (§ 11 Rahmenvertrag).

3) Die Rechtslage in Deutschland und den Niederlanden. Angesichts der zweifelhaften Rechtsgrundlage für Versandapotheken, die von den Niederlanden nach Deutschland liefern, ist es durchaus bemerkenswert, dass sich staatliche Stellen beiderseits der Grenze wenig bis gar nicht für diese interessierten. Den niederländischen Behörden war das Treiben offenbar nicht so wichtig, weil zum einen der Versandhandel mit Arzneimitteln dort erlaubt ist und zum anderen ohnehin nur deutsche Kunden beliefert wurden. Innerhalb der Niederlande hat der Versandhandel mit Arzneimitteln keine Bedeutung. Doch auch in Deutschland zeigten die früheren Bundesregierungen wenig Ambitionen, der systematischen Umgehung deutscher Gesetze und Verordnungen etwas entgegenzusetzen. Ein wichtiger Grund für die ungewohnte Freizügigkeit war offensichtlich das von der Politik geteilte Interesse der Krankenkassen, die Versicherten kostengünstiger mit Arzneimitteln zu versorgen. Seit 2011 gelangten die niederländischen Versandapotheken ins Visier der eigenen Aufsicht [2]. Sie will jetzt durchsetzen, dass sich auch die Versandapotheken grundsätzlich an die niederländische Apothekennorm (NAN) halten [3]. Bei einem Treffen mit den Versendern informierte die Behörde darüber, dass in Zukunft alle niederländischen Gesetze zu beachten sind. Das ist für die Versandapotheken durchaus ein Problem, denn manche Regelungen lassen sich bei Rezepten aus Deutschland nicht einhalten [4]. In den Niederlanden sind Apotheker verpflichtet, Rezeptangaben zur Indikation und der Dosierung auf die Arzneimittelpackung zu schreiben. Auf deutschen Rezepten sind Angaben jedoch nicht vorgeschrieben und zumindest im Fall der Indikation auch eher die Ausnahme. Außerdem müssen niederländische Apotheken die Originalrezepte archivieren. Deutsche Krankenkassen rechnen jedoch ohne Rezept nicht ab. Jetzt bleibt abzuwarten, ob die Verantwortlichen von DocMorris, Europa-Apotheek Venlo und den anderen Versandapotheken die neuen Vorgaben ohne Weiteres hinnehmen. Faktisch können die Versender sie gar nicht erfüllen. Hier müsste die Rechtslage und ggf. eine Klagemöglichkeit in den Niederlanden geprüft werden.

4) Verkehrsfähigkeit der gelieferten Arzneimittel. Die holländischen Versender liefern deutsche Arzneimittel mit deutschen Patienteninformationen („Packungsbeilage“) nach Deutschland. Sind diese Produkte in den Niederlanden überhaupt verkehrsfähig? Müsste nicht – siehe niederländisches Recht – in den Niederlanden zugelassene Ware geliefert werden? Und was wäre dann mit den in Deutschland vorgeschriebenen Angaben inklusive der deutschen Patienteninformation? Für die Einfuhr solcher niederländischen Produkte wäre wohl eine Parallelimportzulassung erforderlich und eine (kleine) Herstellererlaubnis sowie entsprechende QM-/QS-Systeme. Wenn es sich aber um für den deutschen Markt bestimmte Ware handelt, die vom Großhandel oder pharmazeutischen Unternehmer („Hersteller“) legal erworben wurde, wäre Sorge dafür zu tragen, dass kein Inverkehrbringen in den Niederlanden stattfindet. Da beispielsweise DocMorris sein Lager und Logistikzentrum im deutsch-holländischen Grenzgebiet unterhält (s. Abb.) könnte es sein, dass die Ware tatsächlich nicht ins sonstige niederländische Territorium gelangt, so dass Leistungs- und Erfüllungsort faktisch in Deutschland liegen. Dies hätte Konsequenzen für den nächsten Punkt.

Screenshot: DAZ/Google Earth
Standort des DocMorris-Logistikzentrums an der deutsch-niederländischen Grenze.

5) Umgehungsgeschäft. Sollte es sich tatsächlich so verhalten, dass deutsche Arzneimittel die Grenze nur überqueren, um danach wieder nach Deutschland eingeführt zu werden, ist es äußerst fraglich, ob es sich noch um einen Export handelt. Nach den Regeln des europäischen Binnenmarkts würde ein solches Vorgehen wohl als „Umgehungsgeschäft“ angesehen werden müssen, da es ausschließlich der Umgehung der nationalen deutschen Preisverordnung dient. Solche Geschäfte unterliegen aber eben gerade nicht dem Schutz der Warenverkehrsfreiheit [5].

6) Rechtsgrundlage für den Versand aus Holland. Die rechtliche Grundlage für den Versand aus den Niederlanden ist schwach, weil faktisch nur durch eine Bekanntmachung des damaligen Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung (BMGS) ermöglicht. Deutsche Gerichte haben aber bereits 2004 angemahnt, dass die in der Bekanntmachung genannten Gleichheitskriterien in den Niederlanden nicht erfüllt werden: Keine Pflicht zur Präsenzapotheke, kein Qualitätssicherungssystem, keine vorgeschriebenen Versandlaufzeiten, keine kostenlose Zweitzustellung, keine Sendeverfolgung, keine Transportversicherung [6, 7, 8]. Am 16. Juni 2005 allerdings änderte sich die Situation, denn das BMGS gab eine „Länderliste“ zu § 73 AMG bekannt. Danach wurde Großbritannien und den Niederlanden – letzteren dann, wenn auch eine Präsenzapotheke unterhalten wird – attestiert, dass dem deutschen Recht vergleichbare Bedingungen für den Versand von Arzneimitteln vorliegen. Der Versand aus diesen beiden Ländern in die BRD wurde damit ministeriell für zulässig erklärt (über die Kriterien und die Durchführung der der Länderliste zugrunde liegenden europaweiten Erhebung durch das Ministerium sind bis heute keine Auskünfte zu erzielen). Das BMG müsste nur die alte Bekanntmachung ändern und im Lichte der neuen Fakten, z. B. der „neuen“ Apothekenbetriebsordnung von 2012 die Niederlande aus der „Länderliste“ streichen, weil z. B. das wesentliche Qualitätsmanagement oder die Pflicht, einen schriftlichen Hygieneplan aufzustellen, in der alten Fassung gar nicht vorkamen [9]. Eine solche Änderung der Bekanntmachung wäre ohne Befassung des Bundestages oder ein Gesetz möglich.

Fazit

Den nächsten Akt der Tragödie „Tötung der deutschen Inhaber-geführten Präsenzapotheke“ erleben wir gerade. Die an Fremdbesitz und Kettenapotheken Interessierten stehen – mithilfe willfähriger Helfer von ihre Kompetenzen überschreitenden Richtern über den Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen bis zu SPD, Grünen und FDP – eisern zu ihrem „Marsch durch die Institutionen“ [10]. Sollte die „ultima ratio“, das Rx-Versandverbot, wie zu befürchten, nicht kurzfristig umsetzbar sein, muss man die Krankenkassen, den deutschen und den niederländischen Gesetzgeber „nur“ dazu bringen, die geltenden Rechtsvorschriften anzuwenden. Ein Sieg in dieser Abwehrschlacht würde den Druck der „Garrotte“ zumindest mildern und die Erdrosselung verzögern, vielleicht sogar verhindern. Es sei denn, die Apotheker oder ihre Standesführung legen sich das Halseisen erneut selbst um. |

Autor

Prof. Dr. Harald G. Schweim ist Professor für Drug Regulatory Affairs an der Universität Bonn. Von 2001 bis 2004 war er Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

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