DAZ aktuell

Versandapotheken beschwören „Staatshaftung“

BVDVA-Auftragsgutachten soll Politik vom Rx-Versandverbot abhalten

BERLIN (ks/cr) | Während die ABDA mit ihrer Kampagne für ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln wirbt, kämpft der Bundesverband Deutscher Versandapotheken (BVDVA) dafür, diesen Vertriebsweg auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Oktober 2016 aufrechtzuerhalten. Der jüngste Coup des Mini-Verbands: Das von Professor Christian Koenig erstellte Auftragsgutachten. Danach soll der Plan von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), den Versand verschreibungspflichtiger Arzneimittel in Deutschland zu verbieten, gegen geltendes Europarecht verstoßen. Koenig malt ein düsteres Bild: Sogar exorbitanten „Staats- und Amtshaftungsrisiken“ sieht der umtriebige Freund von Versand und Fremdbesitz die Bundesrepublik ausgesetzt.
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Nicht haltbar? Der BVDVA will die Politik mithilfe eines Gutachtens davon überzeugen, dass ein Rx-Versandverbot nicht mit Europarecht vereinbar sei. Es drohten Haftungsrisiken für die Bundesrepublik, so der BVDVA.

Mit Koenig hat der BVDVA für die Erstellung des Kurzgutachtens einen ­„alten Bekannten“ beauftragt: Professor Christian Koenig, seines Zeichens Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) an der Universität Bonn, stand schon seit den Gründungstagen von DocMorris Seit’ an Seit’ der niederländischen Kapitalgesellschaft und seines „kreativen Zerstörers“ Ralf Däinghaus und seines politischen Protegé Josef Hecken, seinerzeit Justiz- und Gesundheitsminister im Saarland. Das ist lange her, aber unvergessen. In bleibender Erinnerung sind auch noch die emotional aufgeladenen Auftritte des Bonner Rechtsprofessors vor den Richtern des Europäischen Gerichtshofs in den beiden DocMorris-Verfahren zum Versandverbot (Urteil vom 11. Dezember 2003) und Apothekenfremdbesitz ­(Urteil vom 19. Mai 2009). In beiden Fällen waren DocMorris/Koenig nur zweite Sieger. Im Fall des Versand­handels kam den Niederländern allerdings zugute, dass Rot-Grün unter Ulla Schmidt – mit Unterstützung von CDU/CSU – die umfängliche Erlaubnis des Versandhandels bereits beschlossen hatte. Drei Wochen nach dem Luxemburger Urteil, Anfang 2014, trat die Gesetzesänderung, mit der der Arzneimittelversandhandel in Deutschland legalisiert wurde, in Kraft.

Nun also wagt sich Koenig abermals aufs gutachterliche Terrain – dieses Mal mit dem Versuch, dem Rx-Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministers im Lichte der EuGH-Entscheidung vom 19. Oktober 2016 seine unionsrechtliche Tauglichkeit abzusprechen. Verfassungsrechtliche Fragen bleiben dabei außen vor. Das wenig überraschende Ergebnis: Da es keine „statistisch-empirischen Befunde“ gebe, die eine Gefährdung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung nachzuweisen geeignet sind, ­lasse sich ein „kategorisches Rx-Versandverbot“ europarechtlich nicht rechtfertigen.

In seiner Argumentation stützt sich Koenig dabei ausschließlich auf die Ziele, die das Bundesgesundheitsministerium in seinem Gesetzentwurf aufführt, nämlich die nach dem EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2016 bestehende Ungleichbehandlung in- und ausländischer (Versand-)Apotheken zu beseitigen, die bestehende Struktur der flächendeckenden, wohnortnahen und gleichmäßigen Arzneimittelversorgung zu gewährleisten und die Steuerungsfunktion der sozialversicherungsrechtlichen Zuzahlungsregelungen zu sichern. Ausgeblendet bleiben in der Auftragsexpertise da­gegen die Aspekte des Gesundheitsschutzes, die für ein Rx-Versandhandelsverbot sprechen, wie z. B. Arzneimittelfälschungen oder die Vermeidung von Arzneimittelmissbrauch. Koenigs These: Als Rechtfertigungsgründe für ein Rx-Versandhandelsverbot dürften nur solche Argumente herangezogen werden, die ausdrücklich in der amtlichen Begründung des Referentenentwurfs genannt würden.

Ein „Missverständnis“ sei es, anzunehmen, dass der EuGH mit seinem Urteil vom 19. Oktober 2016 die komplette Systematik der Arzneimittelpreisverordnung infrage stelle. Vielmehr habe das Gericht nur die ­EU-rechtliche Unvereinbarkeit der ­Geltung des einheitlichen Apothekenabgabepreises für Versandapotheken mit Sitz im EU-Ausland festgestellt. Koenigs These: Die Urteilsgründe seien so zu interpretieren, dass die Apotheken auf Teile ihrer Handelsmarge verzichten könnten – ein sogenanntes Höchstpreissystem wäre als milderes Regulierungsmittel ohne Weiteres mit dem EuGH-Urteil vereinbar.

Keine „carte blanche“

Ferner erklärt der Jurist, dass der EuGH schon 2003 keinesfalls pauschal ein Verbot des Versandhandels im Sinne einer „carte blanche“ zugebilligt habe. Vielmehr beschränke das erste DocMorris-Urteil die Rechtfertigung eines solchen Verbotes ausschließlich auf die Gesundheitsschutzziele im engeren Sinne. „Gründe des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit oder die Intaktheit des nationalen Gesundheitswesens“, die ein Versandhandelsverbot rechtfertigen könnten, habe der EuGH mangels entsprechender mitgliedstaatlicher Nachweise nicht anerkannt.

Nach der EuGH-Rechtsprechung (speziell dem Urteil vom 19. Oktober 2016) müsse im Rahmen der Rechtfertigungsgründe für ein grenzüberschreitendes Rx-Versandverbot ein komplexes „Eignungs-, Kohärenz und Nachweisprogramm“ beachtet werden. ­Erforderlich sei die Erhebung „zuverlässiger wissenschaftlicher Daten“, auf deren Grundlage eine „konkrete Risikoanalyse und Risikobewertung“ vorgenommen werden müsse. Letztlich müssten die Zusammenhänge gerade zwischen Rx-Versand und spezifischen Gesundheitsgefahren ausgemacht werden. Koenig beruft sich auf ABDA-Zahlen, denen zufolge nicht zu erkennen ist, dass der seit 13 Jahren bestehende Versandhandel einen ­signifikanten Rückgang der absoluten Apothekenzahl bewirkt habe. Erfahrungswerte sprächen dafür, dass selbst bei Boni-Gewährung oder ­Zuzahlungsnachlass die Preisvorteile einer EU-Versandapotheke durch ­deren „strukturelle Wettbewerbsnachteile“ gegenüber „Präsenzapotheken“ auch künftig aufgewogen würden. Als unionsrechtlich zulässige „mildere Mittel“ sieht Koenig: eine finanzielle Aufstockung des Nacht- und Notdienstfonds, eine Höchstpreisverordnung oder apothekenindividuelle Handelsspannen.

Das Auftragsgutachten endet mit dem dramatischen Szenario, dass sich die Bundesrepublik bei Einführung eines Rx-Versandverbots dem Risiko der „Staatshaftung“ aussetzen würde, da das „legislative Unrecht“ einer Beschränkungsregulierung „ins Blaue hinein“ als „hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die Freiheit des Warenverkehrs“ gewertet werden könne.

Kritik an „empirischen Befunden“ Koenigs

Schon vor der geplanten öffentlichkeitswirksamen Präsentation des ­Auftragsgutachtens stößt Koenig mit seinen rechtlichen Thesen auf deutlichen Widerspruch: Professor Dr. Hilko Meyer, der sich an der Frankfurt University of Applied Sciences mit europäischem Gesundheitsrecht befasst, überzeugen die Ausführungen Koenigs nicht. Das Gutachten zitiere „ausgiebig das aktuelle EuGH Urteil, enthält darüber hinaus aber wenig Substanzielles“, erklärte Meyer gegenüber der DAZ. So unterschlage der ins Feld ­geführte „statistisch-empirische Befund“, dass es in den letzten Jahren trotz Rx-Versandhandels nicht zu einer Gefährdung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung gekommen sei, den entscheidenden Aspekt der Arzneimittelpreisbindung, die jetzt für ausländische Versandapotheken weggefallen ist. Zudem widerspreche Koenig der eigenen „kontrafaktischen Behauptung“, ohne Versandhandel sei in Deutschland die Versorgung von Menschen mit eingeschränkter Mobilität, insbesondere in dünn besiedeltem ländlichen Raum mit einer geringen Apotheken-Versorgungsdichte gefährdet. Ferner lasse das Gutachten das klare Plädoyer des ansonsten ausführlich zitierten Generalanwalts unter den Tisch fallen, wonach ein Rx-Versandhandelsverbot wie es in den meisten EU-Ländern gilt, europarechtlich unbedenklich sei.

Und Meyer kritisiert weiter: Wer, wie Koenig, erkläre, es sei ein „Missverständnis“, dass das EuGH-Urteil die komplette Systematik der Arzneimittelpreisverordnung und damit die ­fundamentalen deutschen sozialrechtlichen Regulierungsansätze infrage stelle, „verharmlose die Marktdynamik, die kapitalstarke Versandapotheken entfesseln können, wenn erst die Apotheken auf Teile ihrer Handelsmarge verzichten können“.

Für abwegig hält Meyer schließlich das Schreckensszenario einer Staatshaftung, auch weil das Auftragsgutachten kein plausibles Argument für einen „hinreichend qualifizierten und haftungsbegründenden Verstoß“ benenne. Allerdings räumt Meyer ein: Angesichts der fortgesetzten Generalangriffe der EU-Kommission auf die Wertungsspielräume der Mitglied­staaten im Gesundheitsbereich und ihr Drängen auf verschärfte Darlegungspflichten sei es durchaus nützlich, wenn in nächster Zukunft um­fassende ökonomisch-empirische ­Studien zu Funktionsweise und Nutzen des deutschen Arzneimittelver­sorgungs- und -preissystems erstellt würden. |

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