Aus den Verbänden

Apotheker und Selbstmedikation sind unverzichtbar

„BAH im Dialog“ – Diskussionsrunden zur Arzneimittelversorgung 2025

BERLIN (diz) | Die Selbstmedikation hat für den Einzelnen und die Gesellschaft auch in Zukunft entscheidende Vorteile. Deshalb gilt es, sie zusammen mit dem Apotheker auszubauen und zu stärken. Bei der Versorgung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sollten mehr die Interessen der Patienten im Mittelpunkt stehen. Welche Auswirkungen das EuGH-Urteil haben wird, vor allem hinsichtlich Rx-Boni und Versandhandel, ist noch offen. Mit der Arzneimittelversorgung der Zukunft befassten sich drei Diskussionsrunden auf einer Veranstaltung des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller (BAH) am 28. September in Berlin.

Die Patientenbedürfnisse der Zukunft sieht Trendcoach Corinna Mühlhausen angesiedelt „zwischen High-Tech und High-Touch“. Einerseits schätzen und nutzen die Patienten die Errungenschaften der Medizintechnik, von Telemedizin bis hin zur Selbstvermessung und Selbstoptimierung, andererseits suchen sie persönliche Zuwendung und Ansprache. Gesundheit wird als Synonym gesehen für persönliches Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit und Schönheit. Zu den großen Zukunfts­trends rechnet Mühlhausen die Digitalisierung, die Urbanisierung, die Individualisierung und die Nachhaltigkeit. Aus diesen Trends lassen sich für den Gesundheitsmarkt verschiedene Szenarien ableiten. Betrachtet man Urbanisierung und Digitalisierung, so kann daraus ein „E-Health-Paradies“ entstehen, die Menschen sind bereit, sich gesundheitlich überwachen zu lassen. Trifft Urbanisierung auf Nachhaltigkeit, rücken Tradition und Moderne enger zusammen. Bei Betrachtung der Trends Nachhaltigkeit und Individualisierung spielt die Beziehung zur Natur, zu Personen, denen man vertrauen kann, eine große Rolle („mein“ Arzt, „mein“ Apotheker). Und die Trends Individualisierung und Digitalisierung führen zum „vernetzten Gesundheitsdorf“, wie es die Trendforscherin bezeichnete: Aus Social Media wird Local Media – wenn man online einkauft, dann nur bei bekannten Anbietern. Die neue Lebensqualität heißt in Zukunft Selbstbestimmtheit.

Foto: BAH/Svea Pietschmann
Den Bürger zu mehr Gesundheitskompetenz befähigen und den Apotheker für die Beratung honorieren, auch fürs Abraten – ein Ergebnis der BAH-Diskussionsrunde. Die Teilnehmer (v.l.): Stefan Meyer, Prof. Dr. Gerd Glaeske, Dr. Traugott Ullrich, Prof. Dr. Klaus Weckbecker, Stefan Fink, Corinna Mühlhausen.

Nicht ohne den Apotheker

Zur Einführung ins Diskussionsthema Selbstmedikation 2025 stellte BAH-Vorstandsmitglied Stefan Mayer, Bayer Vital GmbH, heraus, was Selbstmedikation heute leistet:

  • sie schafft z. B. Freiräume für die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen,
  • sie führt zu Entlastungseffekten von 21 Milliarden Euro für die GKV,
  • sie entlastet z. B. Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch weniger Arztbesuche,
  • sie vermeidet Produktivitätsminderung von sechs Milliarden Euro infolge von Abwesenheit am Arbeitsplatz.

Wie Untersuchungen gezeigt hätten, könne 1 Euro für die Selbstmedikation zu Ressourceneinsparungen von 17 Euro im Gesundheitswesen führen.

Vor diesem Hintergrund hat der BAH unter der Überschrift „Selbstmedikation 2025“ ein Perspektivpapier erstellt mit fünf Thesen:

  • Die Bevölkerung wird immer älter, chronische Erkrankungen nehmen zu. Deshalb ist die Kompetenz zur Selbstmedikation bei leichteren Beschwerden zu stärken, um Ressourcen für die Therapie schwererer Erkrankungen freizusetzen.
  • Die Urbanisierung nimmt zu zulasten ländlicher Gebiete, das heißt längere Wege zu Ärzten, Apotheken und Einkaufsmöglichkeiten auf dem Lande. Eine stärkere Selbstmedikation wird Patienten entlasten, da sie Wege nicht antreten müssen oder ihnen Wartezeiten erspart bleiben.
  • Selbstmedikation wird helfen, die Lebensqualität und Gestaltung des Alltags in Familie und Beruf zu ver­bessern.
  • Die Weiterentwicklung von Systemen zur intelligenten Vernetzung von Informationen, Daten und Akteuren wird gerade bei der Selbstmedikation von zentraler Bedeutung für die Verbesserung der Versorgungs­qualität sein.
  • Die Lebenswelten werden sich mehr und mehr individualisieren, kleinere Haushalte nehmen zu. Selbstmedikation kann in der Gesundheitsversorgung dieser Menschen, insbesondere im Zusammenwirken mit den Heilberufen und unter Anwendung der Informations- und Kommunikationstechnologien, eine leicht zugängliche und wirksame Hilfe sein.

Das Fazit aus Sicht des BAH: Selbstmedikation wird zukünftig als zentrale Säule der Gesundheitsversorgung an Stellenwert gewinnen. Und die Apotheke vor Ort wird als niedrigschwellige Beratungs- und Gewährleistungsinstanz größere Bedeutung erhalten. Sie bietet Orientierung in einer immer flexibler werdenden Gesundheitswelt und wird eine Lotsenfunktion übernehmen.

In der sich anschließenden Diskussionsrunde zu diesem Thema machte Stefan Meyer auf die aktuelle Empfehlung der G20-Staaten zum Gesundheitswesen aufmerksam: Die Staaten sollen ihre Bürger zu „self-care“ und „health literacy“ ermutigen – zu Selbstmedikation und Gesundheitskompetenz. Nicht zuletzt auch vor diesem Hintergrund zeigt sich der BAH überzeugt, dass Selbstmedikation weiter an Bedeutung zunehmen wird. Schon jetzt, so Meyer, führe jeder zweite Kundenkontakt in der Apotheke zur Abgabe eines Arzneimittels für die Selbstmedikation.

Ein wichtiges Thema dabei: Wie kann man die Gesundheitskompetenz der Bürger weiterentwickeln? Die Industrie selbst würde gerne mehr über ihre Arzneimittel informieren, darf es aber wegen des Heilmittelwerberechts nicht, das für Patientenschutz sorgen soll. Die Unternehmen setzen daher auf eine gute Zusammenarbeit mit Ärzten und Apothekern. Auch Professor Gerd Glaeske, sozialpolitisches Forschungszentrum Bremen, sieht die Vorteile der Selbstmedikation und Apotheker als „unverzichtbare“ Ratgeber. Kritisch wertet er allerdings den Wunsch der Industrie, dass Apotheker zur Stärkung von Arzneimittelmarken beitragen sollten. Patienten sollten in der Apotheke nicht nach konkreten Produkten und Marken fragen, sondern eher ihre Symptome und Krankheitsbilder schildern, dann würden sie besser beraten, so Glaeske. Auch von einer vermehrten Information durch die Hersteller hält Glaeske nichts: Er verwies auf ein neues Buch der Stiftung Warentest zur Selbstmedikation, das im Oktober erscheinen wird. In diesem würden 29 Prozent der viel verkauften Selbstmedikationsarzneimittel abgewertet. Kritik brachte auch der Mediziner Professor Klaus Weckbecker, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Bonn, an. Er habe die Erfahrung gemacht, dass Patienten mit leichten Erkrankungen oft in die Apotheke gingen und dann mit mehreren Arzneimitteln herauskämen. „Viele Apotheken machen das, aber nicht alle“, schränkte Weckbecker ein.

Stefan Fink, Vorsitzender des Thüringer Apothekerverbands und Apothekeninhaber in Weimar, betonte die wichtige Rolle der Apotheker in der Selbstmedikation. Sie könnten Hausmittel empfehlen, ein rezeptfreies Arzneimittel anbieten oder den Patienten zum Arzt schicken. Weckbecker gab allerdings zu bedenken: „Welches Interesse hat denn ein Apotheker in der jetzigen Systematik, ein Arzneimittel nicht zu verkaufen?“. Er forderte daher ein Beratungshonorar für Apotheker, unabhängig vom Verkauf eines Arzneimittels. Glaeske schloss sich dem an. Er hätte zudem gerne eine unabhängige Informationsplattform für rezeptfreie Arzneimittel.

EuGH-Urteil, Rx-Boni, Versand­handel – und die Apotheke vor Ort

Eine weitere Diskussionsrunde setzte sich mit der Versorgung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln im Jahr 2025 auseinander. Die Experten dieser Runde wünschten, die Interessen des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen, beispielsweise einen rascheren Zugang zu Innovationen. Der Vertreter der Krankenkassen, Prof. Dr. Christoph Straub, Chef der Barmer, sieht Probleme in der Allokation der vorhandenen Mittel, Bereiche von Unterversorgung und Überversorgung, die es auszugleichen gilt. Als Lösungsansätze begrüßt er daher Preisverhandlungsverfahren, wie sie das AMNOG eingeführt hat. Die Forderung, neue Arzneimittel schneller zum Patienten zu bringen, könne auch Nachteile haben, so Straub, der auf die Gefahr unbekannter Nebenwirkungen hinwies. Die Industrievertreter dagegen wünschten sich, die Nutzenbewertung neuer Arzneimittel von den Preisverhandlungen abzukoppeln, man sollte auch Arzneimitteln mit geringerem Nutzen eine Chance geben.

Eine dritte Diskussionsrunde nahm sich die möglichen Folgen des EuGH-Urteils vor mit Blick auf die Bedrohung des Versandhandels für die Apotheken. Wenn sich ausländische Versender nicht mehr an die Arzneimittelpreisverordnung halten müssen, können sie Preisnachlässe bieten, die den inländischen (Versand-)Apotheken verwehrt sind.

Auch wenn er in seinen Apotheken noch keine unmittelbare Bedrohung durch ein Abwandern von Rezepten hin zu Versandapotheken spüre, so Hans-Peter Hubmann, Chef des Bayerischen Apothekerverbands, würden einige Kollegen bereits davon berichten. Er machte deutlich, dass sich sogar von der Zuzahlung befreite Patienten Vorteile bei ausländischen Versandapotheken verschaffen könnten, wenn sie ihre Rezepte dort einreichten: „Das ist doch nicht solidarisch“, so Hubmann.

Der Chef des Versandapotheken-Verbandes BVDVA, Christian Buse, ist allerdings überzeugt: „Es wird keine Rolle rückwärts zum Zustand vor dem EuGH-Urteil geben. Das Zuwarten und Festhalten an der Preisbindung ist sinnlos und wird perspektivisch dazu führen, dass Apotheker nach Holland abwandern und von dort aus beliefern.“ Er plädierte erneut dafür, dass Apotheker 16 Cent aus der eigenen Marge in den Nacht- und Notdienstfonds pro abgegebener Packung einzahlen sollten. Die ausgezahlte Notdienstpauschale würde sich dann verdoppeln, wovon laut Buse insbesondere kleinere Apotheken profitieren würden.

Buses Forderung nach einem Höchstpreismodell erteilte Hubmann eine Absage: „Ein Euro Preisnachlass kostet eine Apotheke bereits ein Sechstel ihres Rohertrages. Fünf Euro Nachlass, wie von DocMorris gefordert, würden das Apothekenhonorar vernichten.“

Unterstützung erhielt Hubmann vom Gesundheitsökonomen Professor Uwe May, der erst vor Kurzem gemeinsam mit der Politologin Cosima Bauer und dem Juristen Hein-Uwe Dettling ein wettbewerbsökonomisches Gutachten zum Apothekenmarkt verfasste. Dieses Gutachten zeigt, dass schon kleinste Änderungen an der Rx-Preisbindung das Aus für viele, insbesondere kleine Apotheken auf dem Land bedeuten würde. May machte klar: „Wir sollten weder die Entwicklung seit 2004 im Versandhandel noch das letzte Jahr für eine Prognose der Marktanteile heranziehen. Ich habe auch nicht erwartet, dass der Marktanteil der Versender gleich im ersten Jahr schnell zunimmt.“ Außerdem ändere sich das Patientenverhalten nur langsam. „Der Patient ist kein souveräner Konsument,“ so May, „er kann selbst nicht einschätzen, wie groß der Beratungsbedarf in der Apotheke überhaupt ist. Und genau deswegen brauchen wir ein niederschwelliges Angebot.“

Bemerkenswerte Äußerungen machte Sabine Richard, Versorgungs-Chefin beim AOK-Bundesverband. Richard erklärte, dass man ein Höchstpreismodell sehr differenziert sehe. Die Apotheke vor Ort sei ein verlässlicher Versorgungspartner für die Versicherten: „Man kann so ein gut funktionierendes Angebot nicht einfach über Bord werfen.“ Allerdings wünscht sich Richard auch Vielfalt auf dem Markt: „Sehr gerne“ würde sie ein „attraktives Paket für Versicherte“ inklusive Rx-Boni mit einer Versandapotheke aushandeln. Die politische Lage dafür sei aber schwierig und unklar, weswegen man davon Abstand nehme. Aus ihrer Sicht diskutieren die Marktteilnehmer mit der Politik zu wenig über die Zukunft der Apothekenstruktur und die sinkende Apothekenzahl. |

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