- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 42/2017
- Trügerische Ruhe
Ein Jahr EuGH-Urteil
Trügerische Ruhe
Ein Kommentar von Dr. Timo Kieser
Ein Jahr nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes ist die aktuelle Ruhe trügerisch und gefährlich. Dass der Gesetzgeber in absehbarer Zeit im Sinne der öffentlichen Apotheken in Deutschland tätig wird, ist unwahrscheinlich. Die Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag lassen es nicht leichter werden. Wenn die Seifenblase Rx-Versandverbot im März bei klareren Verhältnissen schon politisch zerplatzt ist, ist jetzt eine Mehrheit für ein Rx-Versandverbot kaum denkbar. An die sich zwingend anschließenden rechtlichen Themen will ich noch gar nicht denken.
Die öffentlichen Apotheken in Deutschland sitzen nach wie vor zwischen allen Stühlen: Geringste wirtschaftliche Vorteile für Kunden im Dunstkreis von Rezepteinlösungen werden von Kammern geahndet – mit Billigung der Rechtsprechung, wie die OVG-Entscheidungen aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zeigen. Der Anteil der ausländischen Apotheken am Rx-Versand sei gering, spürbare Auswirkungen auf das Inland, die es notwendig machten, über eine Inländerdiskriminierung nachzudenken, gebe es (noch) nicht.
Dass diese Wertungen bei allem Verständnis für die Zurückhaltung bei der Inländerdiskriminierung eher blauäugig sind, zeigt die anhaltende, zunehmende Goldgräberstimmung bei ausländischen Versandapotheken. Es kommt zu Aufkäufen, Fusionen und Investitionen. Der Rx-Versandmarkt in/nach Deutschland hat nach deren Analyse ein massives Wachstumspotenzial. Ein Blick z. B. in die regelmäßigen Medienmitteilungen der Zur Rose Group sagt hierzu viel: Die Zahl neugewonnener Kunden für rezeptpflichtige Arzneimittel im ersten Quartal 2017 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum hat sich verfünffacht. 20 Millionen chronisch Erkrankter im deutschen Markt stellen substanzielle Expansionsmöglichkeiten dar und es gab eine Umsatzerhöhung im Bereich der rezeptpflichtigen Medikamente. Verlagerungen sind also massiv im Gange!
Gerade die schleichende, längerfristige Entwicklung ist besonders gefährlich. Es wird keinen Stichtag geben, an dem auf einen Schlag 25% der Patienten ihre Rezepte aufgrund (kurzfristiger) wirtschaftlicher Vorteile im Ausland einlösen. Hier würden Gesetzgeber und Rechtsprechung sofort reagieren. Die langfristige Entwicklung mit ihrem in mittlerer Zukunft liegenden Höhepunkt und die deshalb heute notwendigen Prognoseentscheidungen sind das tatsächliche Problem. Heute müsste entschlossen gehandelt werden, um auch in zehn, 15, 20 Jahren noch eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in Deutschland zu haben!
Umso erfreulicher sind dabei die verstärkten Aktivitäten und Maßnahmen im vergangenen Jahr, um den vermeintlichen Mangel in der Nachweisführung zur angeblich fehlenden Geeignetheit der Arzneimittelpreisverordnung zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln, den der Europäische Gerichtshof entdeckt haben will, zu beheben.
Sempora hat schon im letzten Jahr in einer Untersuchung belegt, dass nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung den Verlockungen, eigene wirtschaftliche Vorteile zu erhalten und dafür Verschreibungen im Wege des Versandes einzulösen, sicher widerstehen wird. Ein schlüssiges und vom gesunden Menschenverstand ohne weiteres nachvollziehbares Ergebnis.
Auch das IFH Köln hat die Bedeutung der Apotheke vor Ort, gerade auch in kleineren Ortschaften herausgearbeitet. Schließlich ist es mit dem Gutachten von May/Bauer/Dettling, Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel, gelungen, die „Lücke im Tatsächlichen“, wie Herr Müller-Bohn zutreffend formuliert hat, zu schließen. Da gleichzeitig der Bundesgerichtshof mit seiner Freunde-werben-Freunde-Entscheidung erfreulicherweise die Chancen auf ein Wiedersehen in Luxemburg erhöht hat, bin ich zuversichtlich, dass es gelingt, die auch nach einem Jahr immer noch Kopfschmerzen auslösende Entscheidung des EuGH vom 19.10.2016 bald zu korrigieren. Spannend bleibt es bis zum zweiten Geburtstag auf jeden Fall!
Dr. Timo Kieser ist Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz und Partner bei Oppenländer Rechtsanwälte, Stuttgart. Er ist Autor des Buchs „Apothekenrecht“ sowie Mitherausgeber des „Apothekengesetz Kommentar“, beide erschienen beim Deutschen Apotheker Verlag.
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.