Schwerpunkt Digitalisierung

Das beste Rezept gegen digitale Disruption? Lieferfähigkeit!

Wie Pharmatechnik die Apotheken digitalisiert(e)

Von Armin Edalat | Vor 40 Jahren hatte Dr. Detlef Graessner eine Vision: Die Vernetzung zwischen Apotheken und Großhändlern sollte besser und effizienter werden. Mit Lochkarten und Lesegeräten gründete er Pharmatechnik. Mittlerweile ist mit Ixos Rx 4.0 die „erste autonome Warenwirtschaft für Apotheken“ eingeführt worden – basierend auf künstlicher Intelligenz. Ein Besuch beim inhabergeführten Traditionsunternehmen in Starnberg.
Foto: Pharmatechnik
Vor 40 Jahren wurde die Firma Pharmatechnik gegründet.

Am Anfang stand ein Abschied: 1978 trennte sich die Firma Siemens vom Apothekengeschäft. Damals war Siemens der einzige Hersteller und Entwickler von Technik, die eine Verbindung zwischen den Apotheken und pharmazeutischen Großhandlungen schaffen sollte. Detlef Graessner, studierter Nachrichtentechniker und promovierter Betriebswirt, war als Siemens-Angestellter verantwortlich für die Planung der dafür nötigen peripheren Geräte. „Aus heutiger Sicht waren das sehr simple und primitive Geräte“, beginnt Graessner seinen Rückblick. „In Deutschland wurde damals vor allem phonetisch bestellt. Man hatte einen Defektblock, auf den man rund 80 Artikel notierte. Der Großhändler rief an und man gab die Liste dann telefonisch durch.“ Für Graessner war dies ein unhaltbarer Zustand. Die mündliche Übertragung verursachte auf beiden Seiten Bestellfehler und einen immensen Personaleinsatz. In jenen Jahren traf Graessner auf Unternehmer Josef Lauer und Apotheker Paul Schaber. Lauer verfügte mit der Spezialitätentaxe über das umfangreichste und stets aktuelle Verzeichnis von Stoffen und Zubereitungen in der Apotheke. Schaber, der heute auch als „Vater der ABDA-Lochkarte“ gilt, wusste aus seiner Praxiserfahrung heraus, wie man die Prozesse in der Apotheke optimieren konnte. Immerhin verfügten von den 16.000 Apotheken in der Bundesrepublik damals schon knapp 1000 Betriebe über Lochkarten und die nötige Technik zum Auslesen der siebenstelligen Codes. Für Dr. Detlef Graessner war die große Stunde gekommen: Als Sohn einer Unternehmerfamilie hatte ihn die Selbstständigkeit stets gereizt. Mit Lauer und Schaber hatte er zudem kompetente Partner gefunden; er selbst brachte die Expertise im Bereich der elektronischen Verarbeitung und Übertragung von Daten mit. Die Apothekergenossenschaft Wiveda im bayerischen Planegg, Vorgängerin der heutigen Sanacorp, gewann er als pharmazeutischen Großhändler. 1978 hatte Graessner das Marketing- und ­Technikkonzept ausgearbeitet und gründete die Firma Pharmatechnik. „Es sollte ein Gerät werden, was moderner war und gut funktionierte“, fasst der Gründer seine Pläne von damals zusammen. Als er 1979 bei seinem Arbeitgeber ­Siemens kündigte, war der Prototyp bereits fertig konstruiert. Ein Jahr später folgte die Auslieferung der ersten Geräte und weitere Großhändler begannen das Potenzial zu erkennen: Bestellungen konnten schnell und korrekt übermittelt werden, kostenintensive Mehrfahrten blieben aus.

Foto: Pharmatechnik
Dr. Detlef Graessner

Vom maschinenschriftlichen Rezept zur künstlichen Intelligenz

In den 1980er-Jahren begab sich Pharmatechnik auf Expansionskurs. Graessner erkannte, dass er aus Bayern allein nicht alle Apotheken und Großhändler erreichen konnte. Vom „Zweimannbetrieb in einem Zimmer“ vergrößerte sich Pharmatechnik auf ein Unternehmen mit neun Filialen. Jedes Jahr wurden so mehrere hundert Apotheken als neue Kunden gewonnen. Neben der innovativen Technik mit den Lochkarten und Lesegeräten, war es vor allem die von Siemens übernommene Vertriebsphilosophie, die sich als erfolgreich erwies. Einerseits mussten die Apotheken die teure Technik nicht kaufen, sondern konnten sie für mehrere Jahre mieten. Andererseits garantierte Graessner seinen Kunden einen „Full Service“: Egal ob in Hamburg oder Garmisch – innerhalb von vier Stunden wurden defekte Geräte ohne Aufpreis repariert oder ausgetauscht.

1984 folgte die Auslieferung des ersten Desktop-Computers in Zusammenarbeit mit dem Industriepartner IBM. „Tenor war immer, dass wir mit Innovationen die Nummer 1 sind. Wachstum aus eigener Kraft. Und das hat sich bis heute gehalten“, betont Graessner. Die Zusammenarbeit mit Lauer wurde in den Anfangsjahren bereits wieder eingestellt. Im Gegensatz zu Pharmatechnik verfolgte Lauer kein eigenes EDV-System. Pharmatechnik bezog die Arzneimitteldaten danach direkt von der Informationsstelle für Arzneispezia­litäten (IFA).

Ein großes Problem für die damaligen Pioniere der Apotheken-EDV waren die von den Ärzten ausgestellten handschriftlichen Rezepte. Von Anfang an hatte Graessner den Kontakt zum Bundesministerium für Gesundheit, damals in Bonn, geknüpft. Der damals amtierende Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm entschied, dass alle Rezepte zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ab sofort von Ärzten und Apothekern bedruckt werden mussten. Daraufhin ging sowohl in den Praxen als auch in den Apotheken ein „Boom von Druckern“ los. Patientendaten, Krankenkassen- und Pharmazentralnummern wurden nun computergestützt auf das Papier gebracht. „Erst dann konnte man beginnen, darüber nachzudenken, was sich alles digitalisieren lässt“, konstatiert Grassner. Von Abrechnungsprogrammen bis hin zum Rezeptscan in der Apotheke: Das Rezept aus der Hand vom Patienten war für die Apotheken stets die wichtigste Schnittstelle zwischen analogen und digitalen Informationen.

Löcher voller Daten – die Lochkarten

Die meisten Apotheken setzen heutzutage Computer für die Bestellungen im Warenwirtschaftssystem ein.

Wahrscheinlich findet man nur noch in weniger als 1000 Apotheken Lochkarten und die dazugehörigen Lesegeräte. Das System der „ABDA-Lochkarten“ besteht aus einer weißen Bestellkarte und einer gelben Standortkarte mit den gleichen Informationen (s. Foto). Beide stecken am Lagerort des entsprechenden Artikels.

Foto: Polarlys – Wikipedia

Wird durch den Verkauf eines Artikels der vermerkte Meldebestand unterschritten, muss die weiße Karte herausgezogen und eine neue Bestellung eingeleitet werden.

Die weißen Bestellkarten werden dafür zusammen mit besonderen Karten (Apothekenidentifkations-, Mengen- und Stoppkarten) in ein Magazin gesteckt. Der pharmazeutische Großhandel ruft per Telefonleitung die Daten für den Bestellvorgang von der Apotheke ab.

Auf den Lochkarten befinden sich sowohl lesbare als auch verschlüsselte Informationen und Lochcodes:

  • Rezeptpflicht
  • Meldebestand
  • Lieferant / Großhändler
  • Bestellmenge
  • Artikelbezeichnung
  • Stärke
  • Packungsgröße / Darreichungsform
  • Normalpackungsbezeichnung
  • Art der Lagerung
  • Normpackungsgrößen, Lagerort / Übervorrat
  • Hinweis auf kleinste Anstaltspackung
  • Pharmazentralnummer (PZN)
  • Verkaufspreis
  • Diagonalstrich als Verfallhinweis

1986 wollte Graessner ein Interaktionsmodul erschaffen. Da noch keine ABDA-Datenbank existierte, fand er mit dem Tübinger Professor für Pharmakologie Hermann P. T. Ammon einen akademischen Partner, mit dem ein solches Projekt realisiert werden konnte.

Mittlerweile arbeiten rund 5000 Apotheken in Deutschland mit Softwarelösungen von Pharmatechnik. In der Starnberger Unternehmenszentrale ist man überzeugt, dass nun das neue Zeitalter eingeläutet werden kann. Für Martin Mitterer, Leiter der Softwareentwicklung Ixos, steht fest, dass die zunehmende Komplexität in der Warenwirtschaft – hervorgerufen durch Rabattverträge, Marktdynamik und Kundenwünsche – mithilfe von künstlicher Intelligenz deutlich besser gelöst werden kann. „Die Software soll mich im Alltag nicht nur unterstützen, sondern mir die Arbeit komplett abnehmen“, argumentiert Mitterer aus Sicht der Apotheker. Im Hinblick auf ein selbstfahrendes Auto, soll das System nach den Plänen von Pharmatechnik „dem Fahrer ein sicheres und entspanntes automatisches Fahren ermöglichen, ohne dass von Hand eingegriffen werden muss“.

Während bei einer „starken“ künstlichen Intelligenz die Maschine in die Lage versetzt wird, ein eigenes Bewusstsein zu schaffen, geht es bei der „schwachen“ künstlichen Intelligenz um tatsächlich realisierbare digitale Hilfen, wie bei der Bild- und Sprach­erkennung, manchen Schachcomputern oder den selbstfahrenden Autos. Das entscheidende Merkmal – und damit die Abgrenzung zu klassischen Computeralgorithmen – ist, dass künstliche Intelligenz wie ein kleines Kind angelernt werden muss. Es geht nicht mehr darum, konkrete Situationen und Handlungsanweisungen einzuprogrammieren, sondern eine Umgebung zu schaffen, in der sich das Programm von selbst entwickeln kann.

Für das Warenlager in der Apotheke sind diese Grenzen einmalig zu definieren: Welche Artikel sollen ab welcher Nachfragehäufigkeit dauerhaft an Lager gelegt werden? Ab wann sind es Ladenhüter, die endgültig verkauft oder an Hersteller oder Großhändler retourniert werden sollen? Beim Schaffen einer virtuellen Umgebung für die künstliche Intelligenz spielen der Warenwert eine Rolle (z. B. Artikel bis maximal 250 Euro Einkaufspreis), die Art des Arzneimittels je nach Lagerkapazitäten (z. B. Kühlartikel, Betäubungsmittel, Sprechstundenbedarf), die Einkaufskonditionen sowie die gewünschte Lieferfähigkeit (Kapitalbindungskosten, freiwerdende Mittel für die Prozesskosten). Ein Kommissionierautomat ist nicht unbedingt erforderlich, erleichtert die Arbeit aber deutlich. Mitterer nennt Lieferfähigkeiten von bis zu 95 Prozent bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, die Apotheken nach der Umstellung auf die Software mit künstlicher Intelligenz erreicht haben. „Es bringt nichts, einen Defekt defekt sein zu lassen. Eine intelligente Warenwirtschaft muss sich frühzeitig um Alterna­tiven kümmern, bevor der Patient nicht versorgt werden kann“, erläutert ­Mitterer.

Lieferfähigkeit der Apotheken vor Ort

Foto: Pharmatechnik
Lars Polap

Die sofortige Verfügbarkeit von Arzneimitteln – es scheint, als sei dies nicht nur ein Aushängeschild für neue Softwarelösungen bei Pharmatechnik, sondern auch als eine Art Kredo zu verstehen. Das Unternehmen, das die Branche seit vier Jahrzehnten kennt, ruft die Apotheken auf, sich bei ihrer Lieferfähigkeit nicht nur auf Hersteller und Großhändler zu verlassen. „Eines der wenigen Pfunde, mit der sich die Vor-Ort-Apotheke ganz klar vom Arzneimittelversender differenzieren kann, ist: Ich habe die Arzneimittel sofort da!“ macht Lars Polap deutlich, der als weiterer Pharmatechnik-Geschäftsführer für die Produktentwicklung zuständig ist und dem Bundesverband Deutscher Apothekensoftware­häuser (ADAS) vorsteht. „Bei jedem Patienten oder Kunden, der aufgrund einer Nachbestellung wiederkommen muss, ist der Schritt zur Versandapotheke wieder einen Klick näher.“ Im Rahmen der Digitalisierung sei es ein Alleinstellungsmerkmal, neben der persönlichen Beratung die Ware unmittelbar anbieten zu können. Es sei aber auch als eine Art Verpflichtung zu sehen, dass die Apotheke trotz der zunehmenden Komplexität im deutschen Gesundheitswesen durch ­digitale Möglichkeiten ein besseres Ergebnis im Sinne des Patienten und der eigenen Betriebswirtschaft generieren kann.

Dr. Detlef Graessner ist sicher, dass die Menschen letztendlich mit den Füßen abstimmen werden, ob und wie viel ihnen die Apotheken vor Ort wert sein werden. „Sie haben ja nie was da!“ ist für ihn eine vernichtende Aussage eines Apothekenkunden. Man dürfe nicht unterschätzen, dass selbst die Nachlieferung von einem auf den anderen Tag für viele Menschen einen großen Umstand bedeuten würde.

„Wenn die Apotheker das alles nutzen würden, was die aktuellen EDV-Systeme bereits heute an digitaler Unterstützung anbieten, dann könnten sie den Herausforderungen durch neue Wettbewerber gelassener entgegensehen. Die Apotheke vor Ort kann sich mit ihren Möglichkeiten den Patienten gegenüber klar profilieren, deutliche Vorteile bieten und muss sich nicht verstecken“. |

Autor

Dr. Armin Edalat, Apotheker, ist Chefredakteur der Deutschen Apotheker Zeitung.

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