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Arzneimittel und Therapie
Gehört Flupirtin wirklich auf den Müll?
Ein weiteres nicht-opioides Analgetikum wird ausrangiert und hinterlässt eine saubere Lücke
Patienten, die in den vergangenen Tagen noch versuchten, Rezepte über „Katadolon S long Hartkapseln“ mit Aut-idem-Kreuz einzulösen, wurden enttäuscht: Das Original wurde bereits am 16. Februar 2018 in allen Chargen und Darreichungsformen zurückgerufen. Auch andere Hersteller räumten bereits mit ihren Flupirtin-haltigen Präparaten auf – vorsichtshalber, denn nach der PRAC-Empfehlung ist der Zulassungswiderruf noch nicht rechtskräftig, aber das Ende des nicht-opioiden Analgetikums nah. Da Flupirtin auf nationaler Ebene zugelassen ist (neben Deutschland noch in Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Polen, Portugal und der Slowakei), muss im nächsten Schritt die Koordinierungsgruppe für dezentrale Verfahren und Verfahren der gegenseitigen Anerkennung (CMDh) entscheiden. Kommt diese zu keinem einstimmigen Ergebnis, fällt die Europäische Kommission das endgültige Urteil. Und das kann noch Wochen dauern.
Analgetikum + Muskelrelaxans
Flupirtin ist ein Exot unter den nicht-opioiden Analgetika, die in der Regel über eine Hemmung von Cyclooxygenasen wirken: Als selektiver neuronaler Kaliumkanalöffner (Selective NEuronal Potassium Channel Opener, SNEPCO) stabilisiert es das Ruhemembranpotenzial von Nervenzellen und reduziert auf diese Weise die übermäßige elektrische Aktivität, die zu Schmerzzuständen führen kann. Besonders geschätzt wird neben der zentralen Analgesie auch die muskelverspannungslösende Wirkung von Flupirtin. Indem es die Aufnahme von Ca2+-Ionen in Mitochondrien fördert, wird die Erregungsüberleitung an Motoneurone und entsprechende Wirkungen an Interneuronen gehemmt. Es handelt sich dabei nicht um eine generelle muskelerschlaffende, sondern primär um eine verspannungslösende Wirkung. Zudem soll Flupirtin laut Fachinformation Chronifizierungsprozesse bei Schmerzzuständen positiv beeinflussen und die „Löschung des Schmerzgedächtnisses“ fördern.
Zulasten der Leber
Auf der anderen Seite der Medaille steht die leberschädigende Wirkung, die bereits zur Markteinführung im Jahr 1985 bekannt war. Die ursprüngliche Anwendungsdauer von Flupirtin war deshalb auf acht Tage begrenzt, wurde im Laufe der Jahre allerdings zusehends gelockert und zu Beginn der 2000er-Jahre ganz aufgehoben. Ein Fehler? – Zumindest mit Blick auf die zunehmende Anzahl der Berichte über schwerwiegende Leberschädigungen.
Im Zeitraum von 1985 bis 2013 wurden europaweit insgesamt 136 Fälle von Patienten mit Leberschäden unter Therapie mit Flupirtin registriert. Davon stammten 49 Berichte aus Deutschland, 14 von ihnen mit tödlichem Ausgang. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) war angesichts dieser Zahlen alarmiert und veranlasste die EMA zu einem Risikobewertungsverfahren (Start 2013). Nach Diskussion mit Vertretern von Fachgesellschaften, Experten der Toxikologie und Pharmakologie sowie Vertretern der pharmazeutischen Unternehmen kam der PRAC zu dem Ergebnis, dass die Anwendung von Flupirtin wieder gezügelt werden sollte. Seither dürfen Flupirtin-haltige Arzneimittel nur noch zur Behandlung akuter Schmerzen bei Erwachsenen eingesetzt werden, bei denen andere Schmerzmittel wie nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) und schwache Opioide kontraindiziert sind. Die Behandlungsdauer darf zwei Wochen nicht überschreiten, und es sind wöchentliche Laborkontrollen der Leberwerte durchzuführen. Bei Zeichen einer Leberschädigung ist die Behandlung mit Flupirtin sofort zu beenden. Patienten mit vorbestehender Lebererkrankung, Alkoholmissbrauch oder Einnahme weiterer Arzneimittel, die die Leber schädigen können, dürfen Flupirtin von vornherein nicht einnehmen.
Alternativen verfügbar?
Vier Jahre später beweisen Studien zur Arzneimittelanwendung und Unbedenklichkeit jedoch, dass die eingeführten Restriktionen in der Praxis nicht ausreichend befolgt wurden und weiterhin Fälle schwerwiegender Leberschäden, einschließlich Leberversagen, auftraten. Die EMA möchte Flupirtin nun gänzlich den Riegel vorschieben. Immerhin seien alternative Behandlungsmöglichkeiten verfügbar, heißt es von Seiten der Behörde. Schmerzmediziner wie Professor Dr. med. Hans-Raimund Casser, Ärztlicher Direktor am DRK Schmerz-Zentrum Mainz, sehen das jedoch anders: In ihren Augen klafft nun eine therapeutische Lücke (siehe Kommentar unten). Bereits im Jahr 2013, als die Anwendung von Flupirtin erheblich eingeschränkt wurde, kritisierte Privatdozent Dr. Michael Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, in einem Meinungsbeitrag in der DAZ (DAZ 2013, Nr. 33, S. 42) die „neue“ Sichtweise des PRAC auf das Arzneimittelrisiko: Therapeuten befürchten, „dass insbesondere für Patienten mit chronischen Schmerzen bald nur noch sehr eingeschränkt apotheken- und verschreibungspflichtige Schmerzmittel zur Verfügung stehen oder sich der naheliegende Fehlgebrauch bzw. Off-label-Use mangels Alternativen weiter ausweiten wird.“ Auch das Risiko einer Nichtbehandlung dürfe nicht unterschätzt werden.
Auf Nimmerwiedersehen
Mit der Ausmusterung von Flupirtin schrumpft die Palette an nicht-opioiden Analgetika bald weiter. In den vergangenen Jahrzehnten mussten bereits mehrere Vertreter das Feld räumen, auch solche, die lange Zeit als „Allerweltspillen“ galten. Prominentes Beispiel: Das Präparat Pyramidon® mit dem Wirkstoff Aminophenazon (1897) galt lange als äußerst beliebtes Schmerzmittel, verschwand in den 70er-Jahren wegen der Gefahr von Agranulozytose aber sang- und klanglos vom Markt. Seine betagtere Muttersubstanz Phenazon (1883) ist dagegen noch heute in den Fertigarzneimitteln Migräne-Kranit®, Eu-med® und Otalgan® enthalten. Metamizol (1922), ebenfalls Mitglied der Familie, erlebt in der modernen Medizin einen regelrechten Höhenflug mit Blick auf die Verordnungshäufigkeit – trotz Agranulozytose-Risikos. Sein chemischer Bruder Propyphenazon (1933) wird deutlich weniger angewendet, lebt aber immerhin noch in Form der Zahnschmerztabletten Demex® weiter.
Andere nicht-opioide Analgetika hatten weniger Glück: Im Jahr 2012 wurde das in Gelonida® enthaltene Phenacetin (1888) wegen eines erhöhten Risikos für Nierenschäden und Harnleiter- und Harnblasenkrebs vom Markt genommen. Alte Wirkstoffe wie Phenylbutazon (1951, z. B. Ambene®) und Piroxicam (1980, verschiedene Generika) geraten nach massiven Indikationseinschränkungen zunehmend in Vergessenheit.
Bekanntermaßen sind auch die Lieblinge unter den nicht-opioiden Analgetika Paracetamol (1955), Ibuprofen (in Deutschland erst seit 1989) und Acetylsalicylsäure (1897) nicht frei von Risiken und entfachen in regelmäßigen Abständen Diskussionen über ihre Sicherheit. Doch solange sie auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stehen, werden sie wohl so schnell keinem Frühjahrsputz zum Opfer fallen. |
Quelle
Flupirtin: Europäische Arzneimittelagentur empfiehlt Einschränkungen bei der Anwendung. BfArM-Meldung vom 17. Juni 2013
Flupirtin: PRAC empfiehlt den Widerruf der Zulassung des Schmerzmittels Flupirtin. BfArM-Meldung vom 09. Februar 2018
Endlich: Anwendungsbeschränkung für Flupirtin. a-t 2013;44:64, verfügbar unter www.arznei-telegramm.de, Abruf am 13. März 2018
Fachinformation Katadolon®, Stand Juni 2015
Gut gedacht = gut gemacht? Bewertung von Flupirtin und Diclofenac und die Konsequenzen. DAZ 2013, Nr. 33, S. 42
Schmerzmittel: Die Zeitbombe tickt weiter. Spiegel-Artikel vom 15. August 1977, verfügbar unter www.spiegel.de, Abruf am 13. März 2018
Eine schmerzliche Lücke
Ein Gastkommentar von Prof. Dr. med. Hans-Raimund Casser
Der Widerruf der Zulassung von Flupirtin (Katadolon®) hinterlässt aufgrund des speziellen Wirkungsmechanismus in Form einer selektiven Öffnung einwärtsgerichteter Kaliumkanäle an der postsynaptischen Membran mit analgetischer wie auch muskelentspannender Wirkung eine Lücke, die gerade bei therapieresistenten schmerzhaften Muskelverspannungen von vielen Patienten als sehr schmerzlich empfunden werden wird. Die heute noch verfügbaren Muskelrelaxanzien wie Baclofen, Methocarbamol, Orphenadrin, Pridinol und Tizanidin, die mit ihrer zentraldämpfenden Wirkung und folglicher Senkung des Muskeltonus die Skelettmuskulatur zur Entspannung bringen sollen, stellen auch aufgrund ihrer Nebenwirkungen wie Überempfindlichkeits- und Hautreaktionen keine idealen Alternativen dar bzw. bewegen sich nicht auf einer sicheren Datenbasis. Diazepam als Sedativum und Hypnotikum mit Suchtpotenzial ist sicherlich auch keine Alternative. Die Indikation für Tolperison ist aufgrund seiner Nebenwirkungen auf die Indikation „Spastizität nach Schlaganfällen bei erwachsenen Personen“ eingegrenzt. Die Nationale Versorgungsleitlinie „Kreuzschmerz“ rät von der Anwendung von Muskelrelaxanzien bei nicht-spezifischen Kreuzschmerzen ab. Allenfalls bei unzureichender Besserung der akuten Kreuzschmerzsymptomatik durch andere empfohlene medikamentöse und nicht-medikamentöse Maßnahmen sollten sie zum Einsatz kommen und dann mit zeitlicher Begrenzung (nicht länger als zwei Wochen). Chronische Muskelverspannungen sind ohnehin aufgrund ihrer multifaktoriellen Genese bei Therapieresistenz eher einem kombinierten physiotherapeutisch-verhaltenstherapeutischen unterstützten Konzept zuzuführen als einer medikamentösen Monotherapie.
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