Interpharm 2018 – ApothekenRechtTag

Mit Mythen aufräumen

Ist das Rx-Versandverbot europa- und verfassungsrechtlich bedenklich?

ks | Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, sich für ein Versandhandelsverbot mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln einzusetzen. Doch nicht nur die Versandapotheken und ihre Lobbyverbände sowie Oppositionspolitiker der Grünen und der FDP führen immer wieder verfassungsrechtliche oder unionsrechtliche Einwände gegen ein Rx-Versandverbot ins Feld. Auch unter den Sozialdemokraten gibt es Zweifler. Der Stuttgarter Rechtsanwalt und Gesundheitsrechtsexperte Dr. Heinz-Uwe Dettling ist hingegen überzeugt: Die Politik kann ein flexibles Rx-Versandverbot rechtssicher umsetzen.

Seit dem 16. Oktober 2016 müssen sich deutsche Apotheken der verschärften Konkurrenz durch EU-ausländische Versandapotheken stellen. An diesem Tag entschied die 1. Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dass die Arzneimittelpreisverordnung mit ihren Fixpreisen bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln für EU-Versender, die Medikamente nach Deutschland verschicken, nicht gilt. Europa Apotheek, DocMorris und Co. sind seitdem in die Werbeoffensive gegangen und ködern Patienten mit Boni in Höhe von bis zu 30 Euro pro Rezept. Die hiesigen Apotheken dürfen das nicht und fürchten um ihre wirtschaftliche Existenz. Der Bundesgesundheitsminister der vergangenen Legislaturperiode, Hermann Gröhe (CDU), reagierte schnell auf die neue Situation und legte noch Ende 2016 einen Gesetzentwurf für ein Rx-Versandverbot vor. Doch sein Projekt scheiterte am Widerstand des Koalitionspartners und dessen immer wieder geltend gemachten verfassungs- und europarechtlichen Bedenken.

Konkurrenzschutz zugunsten des Schlechteren?

Nun soll es also einen weiteren Anlauf der neuen GroKo geben – und Heinz-Uwe Dettling will mit den „Mythen aufräumen“, ein Versandverbot für rezeptpflichtige Arzneimittel sei unions- und/oder verfassungsrechtlich nicht umsetzbar. Dazu ging er bei seinem Vortrag beim ApothekenRechtTag zunächst detailliert auf das EuGH-Urteil ein. Darin stellten die Richter fest, dass traditionelle Apotheken grundsätzlich besser in der Lage sind, die Patienten – auch im Notfall – zu versorgen. Versandapotheken mit ihrem eingeschränkten Angebot könnten diese Versorgung nicht angemessen ersetzen. Soweit so nachvollziehbar. Doch die Richter sahen offenbar ein „europäisches Recht auf Konkurrenzfähigkeit schlechterer Leistung“, so Dettling. Daher müsse ihnen der Preiswettbewerb erlaubt sein. Weiterhin erklärte die 1. Kammer, mehr Preiswettbewerb könne eine gleichmäßige Versorgung fördern: Denn in Gegenden mit weniger Apotheken könnten diese höhere Preise verlangen – dies setze einen Anreiz, sich dort niederzulassen.

Für Dettling passt in dieser Entscheidung schlicht „nichts zusammen“. Eigentlich müsste man das Urteil als nichtig betrachten. Doch das gehe leider nicht – es sei nun einmal in der Welt. Der Jurist wirft den Richtern vor, mit zweierlei Maß gemessen zu haben: Sie selbst beriefen sich unter anderem auf zwei Seiten aus dem Gutachten des Gesundheits-Sachverständigenrats von 2014, in dem oligopolistische Strukturen, Ketten und Fremdbesitz für Apotheken gefordert und die Idee höherer Handelsspannen in ländlichen Regionen ins Spiel gebracht werden. Handfeste Belege für ihre These, dass dies positive Anreize setze, gebe es in dem Gutachten jedoch nicht, betonte Dettling. Dafür forderten die EU-Richter ihrerseits Belege für die Annahme, dass die Rx-Preisbindung die flächendeckende Versorgung sicherstellt.

Nicht realitätsgerechte Simplifizierung

Das Grundproblem des EuGH-Urteils ist für Dettling, dass simple Denkmuster ungeprüft angewendet werden. Diese Denkmuster entstammten der neoklassischen Ökonomie, die Preis- und Wettbewerbsgesetze quasi als „Naturgesetze“ sieht und ökonomische Vorgänge rein mathematisch erfasst. Doch Arzneimittel seien nun einmal keine „normalen“ Konsumgüter. Im Gesundheitswesen, so Dettling, gebe es keinen Homo oeconomicus, und die Preis-Absatz-Funktion funktioniere hier „überhaupt nicht“.

Wer meine, „freie“ Rx-Preise könnten für eine flächendeckende Versorgung sorgen und die Verhandlungsposition von Solitärapotheken stärken, liegt Dettling zufolge aus mehreren Gründen falsch. Denn zunächst bestehe die Rx-Preisbindung in Deutschland fort. Zudem gebe es einen Kontrahierungszwang für Apotheken und das Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das heißt: Die Apotheken dürfen vom Patienten selbst gar kein Geld verlangen. Die These der 1. Kammer des EuGH funktioniere mithin nur, wenn das deutsche Gesundheitssystem völlig umgestaltet würde. Und dafür, so Dettling, sei sicherlich nicht der EuGH, sondern einzig der EU-Mitgliedstaat zuständig. Und so sei auch verständlich, dass die Bundesregierung die Vorschläge des Sachverständigenrats seinerzeit rundweg abgelehnt hatte.

Für Dettling sind die Apotheken vor Ort nicht zu ersetzen – nicht durch Versandapotheken, auch nicht wenn es eine digitale Bildschirmberatung gibt. „Krass falsch“ ist ihm zufolge auch die Behauptung, es spreche für Versandapotheken, dass in den vielen Jahren ihrer Existenz noch nichts Gravierendes passiert sei. Dies treffe nicht zu, betonte Dettling. Vielmehr müssten Apotheken vor Ort regelmäßig die Fehler der Versender wieder ausbügeln. Denn zumindest aus der Vergangenheit sei bekannt, dass Rezepturen häufig verweigert und kühlpflichtige Arzneimittel ohne Einhaltung der Temperaturstandards versandt würden.

Der Anwalt hat zusammen mit seinen beiden Mitgutachtern Professor Uwe May und Cosima Bauer in einem wettbewerbsökonomischen Gutachten, das vom Deutschen Apotheker Verlag und der Noweda herausgegeben wurde, bereits dargelegt, dass schon kleine Preisunterschiede zu großen Verschiebungen führen können. 1700 Solitär­apotheken, die im Umkreis von fünf Kilometern Luftlinie keine Konkurrenz haben, wären in ihrer Existenz gefährdet. Denn der bisherige Marktanteil der Versender am Rx-Markt von einem Prozent werde mit Sicherheit steigen. Realistisch sei ein Anteil von etwa neun Prozent, wie er in der Schweiz existiere. Denkbar sei aber auch eine Ausweitung auf bis zu 25 Prozent.

Dettlings Lösung: Ein flexibles Versandverbot für verschreibungspflich­tige Arzneimittel, das den Versand an Ärzte – insbesondere von Impfstoffen – und Gesundheitseinrichtungen sowie in besonderen Bedarfsfällen auch an Endverbraucher zulässt. Europarechtlich sei ein solches Verbot durch das Versandhandelsurteil des EuGH von 2003 und den EU-Humanarzneimittelkodex gerechtfertigt. Zudem: 21 Mitgliedstaaten haben ein Rx-Versandverbot. Auch die Evidenz, dass das Verbot zur Sicherung der flächendeckenden Versorgung geeignet ist, liege vor.

Das Grundgesetz stehe dem Verbot ebenfalls nicht entgegen. Wird der Rx-Versand untersagt, sei damit nicht etwa das gesamte Versandgeschäft verboten. Daher handele es sich nur um eine Berufsausübungsregelung. Und eine solche Ausübungsregelung ist zulässig, wenn ein legitimer Gemeinwohlzweck (hier: die Sicherung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung durch öffentliche Apotheken) vorliegt. Dettling gibt zu bedenken: Offenbar geht es bei Rx ja nur um einen kleinen Marktanteil der Versender. Wenn dieser keine Bedeutung habe, könne er problemlos verboten werden. Habe er hingegen eine Bedeutung, dann müsse er sogar verboten werden – denn der Staat habe die Pflicht, die flächendeckende Versorgung sicherzustellen, mithin sich schützend vor die Gesundheit seiner Bürger zu stellen. |

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