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Toxikologie

Vorsicht, Überdosis!

Bei Colchicin die geringe therapeutische Breite beachten

Für das zweite Quartal 2018 wird die Einführung eines Colchicin-haltigen Arzneimittels erwartet, das neben der Behandlung des akuten Gichtanfall auch zur Gichtanfall-Prophylaxe sowie zur Behandlung des familiären Mittelmeerfiebers indiziert ist. Die beiden letztgenannten Indikationen sind in Deutschland ein Novum; denn die beiden bereits auf dem Markt befindlichen Präparate besitzen nur eine Zulassung für den akuten Gichtanfall. Colchicin ist für seine geringe therapeutische Breite bekannt. Es sollte daher mit besonderer Vorsicht angewendet werden. | Von Claudia Bruhn

Die Präparate Colchicum dispert® und Colchysat® Bürger sind ausschließlich zur Behandlung des akuten Gichtanfalls zugelassen. Sie werden jedoch auch off label zur Gichtanfall-Prophylaxe und zur Therapie des familiären Mittelmeerfiebers angewendet (FMF), da es in Deutschland – anders als z. B. in Frankreich und den Niederlanden – bislang keine Arzneimittel für diese Indikationen gab. Das änderte sich im November 2017 mit der Zulassung von Colchicin Tiofarma® Tabletten über ein europäisches Verfahren der gegenseitigen Anerkennung (s. Kasten „Europäisches Arzneimittelrecht“). Außerdem sind verschieden zusammengesetzte homöopathische Colchicin-Zubereitungen auf dem Markt.

Europäisches Arzneimittelrecht – Verfahren der gegenseitigen Anerkennung

Besitzt ein Arzneimittel in einem Mitgliedstaat der Europä­ischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraumes bereits eine nationale Zulassung, kann der pharmazeutische Unternehmer dafür auch in anderen Mitgliedstaaten eine solche erhalten. In diesem Verfahren der gegenseitigen Anerkennung (Mutual Recognition Procedure, MRP) stellt der Mitgliedstaat, in dem das Medikament bereits zugelassen ist (Referenzmitgliedstaat), den am gegenseitigen Anerkennungsverfahren beteiligten Mitgliedstaaten seinen Bewertungsbericht zur Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels zur Verfügung. Diese Staaten erkennen die Bewertungen des Referenzmitgliedstaates innerhalb von 90 Tagen an, es sei denn, es besteht aus ihrer Sicht eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Für diesen Fall sieht das europäische Arzneimittelrecht weitere klärende Verfahren vor. Im Falle einer positiven Bewertung in den anderen Mitgliedstaaten können deren Behörden dann nationale Zulassungen erteilen.

Quelle: Informationen des Paul-Ehrlich-Instituts, www.pei.de, Abruf am 1. Februar 2018

Die beiden seit Längerem zugelassenen Präparate enthalten Trockenextrakte aus frischen Herbstzeitlosen-Blüten (Colchysat® Bürger) bzw. Herbstzeitlosen-Samen (Colchicum dispert®). Der Inhaltsstoff des neuen Präparats ist synthetischer Herkunft. Es kann sowohl beim akuten Gichtanfall als auch für die Prävention desselben bei Einleitung einer harnsäuresenkenden Therapie eingesetzt werden – jedoch nur, wenn NSAR kontraindiziert sind oder nicht vertragen werden. Eine weitere Indikation ist die Behandlung des FMF (s. Kasten „Familiäres Mittelmeerfieber“) bei Erwachsenen und Kindern zur Prävention von Fieberschüben und Amyloidosen. Es werden zwei Stärken (0,5 mg und 1 mg) verfügbar sein.

Familiäres Mittelmeerfieber

Das familiäre Mittelmeerfieber (FMF) ist ein genetisch bedingtes periodisches Fiebersyndrom. Von dieser autoinflammatorischen Erkrankung sind besonders häufig Menschen im südöstlichen Mittelmeerraum betroffen. Neben rezidivierenden Fieberschüben in zum Teil sehr kurzen Abständen treten Entzündungen wie Peritonitis, Pleuritis, Perikarditis, Synovitis oder Arthritis auf. Betroffene leiden unter Schmerzen im Abdomen, im Thorax sowie in Muskeln und Gelenken. Schwerwiegendste Komplikation des FMF ist eine Amyloidose. Dabei reichern sich abnorm veränderte Proteine in Form kleiner Fasern (β-Fibrillen, Amyloid) in den Zwischenzellräumen an. Daraus können sich schwerwiegende Organdysfunktionen, beispielsweise des Herzens und der Nieren, entwickeln, die unbehandelt binnen weniger Jahre zum Tode führen.

Geringe therapeutische Breite

Das Alkaloid Colchicin (s. Kasten „Colchicin“) besitzt nur eine geringe therapeutische Breite. Eine Abgrenzung zwischen nicht toxischen und toxischen bzw. letalen Dosen ist jedoch nur sehr schwer möglich. Denn neben der Dosis bestimmen weitere Faktoren wie Körpergewicht, Komorbiditäten sowie Arzneistoff-Interaktionen seine Toxizität. Die niedrigsten bisher beobachteten letalen Dosen lagen zwischen 7 und 26 mg oral. Akute Vergiftungen wurden nach Einnahme von ca. 20 mg Colchicin beim Erwachsenen und ca. 5 mg bei Kindern (berechnet jeweils als Gesamtalkaloid-Gehalt aus Herbstzeitlosen-Trockenextrakt) beobachtet. Nehmen Gichtpatienten innerhalb weniger Tage wiederholt Gesamtdosen von 10 mg oder mehr ein, kann es zu chronischen Vergiftungen kommen.

Kurzinfo Colchicin

Das Tropolon-Alkaloid Colchicin

Colchicin ist ein Tropolon-Alkaloid der Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale), das hauptsächlich in den Samen, Blüten und Knollen der Pflanze vorkommt. Es handelt sich um ein Mitosegift, das die Ausbildung der Mikrotubuli im Spindelapparat und damit die Zellteilung hemmt. Der Zellzyklus verharrt in der Metaphase. Besonders betroffen sind Zellen mit hoher Proliferationsrate, beispielsweise in der Schleimhaut des Magen-Darm-Trakts und des Knochenmarks. Mikrotubuli spielen auch bei der Bewegung und Phagozytoseaktivität neutrophiler Granulozyten eine Rolle. Diese weißen Blutkörperchen wandern in Gicht­herde ein und phagozytieren dort die Urat-Kristalle. Dabei entstehen Phagolysosomen. Wenn diese sich auflösen, gelangen proinflammatorische Substanzen in das umliegende Gewebe und rufen Entzündungen hervor. Die Schmerzen, die Gichtpatienten erleiden müssen, werden also nicht primär durch die Urat-Kristalle, sondern durch diese Mediatoren verursacht. Man vermutet, dass Colchicin die Phagozytose von Urat-Kristallen durch Leukozyten und damit auch die nachfolgende Freisetzung von entzündungsfördernden lysosomalen Mediatoren unterdrückt. Dadurch reduziert das Alkaloid die Schmerzen im Gewebe. Durch die Entzündungsaktivität wird außerdem der pH-Wert des Gewebes verringert und damit die Ausfällung weiterer Harnsäure begünstigt. Diesem Prozess wirkt Colchicin ebenfalls entgegen. Einen Einfluss auf die Harnsäure-Konzentration im Blut besitzt der Wirkstoff jedoch nicht.

Derzeit gibt es kein Antidot für Colchicin. Da seine Resorption recht schnell, das heißt innerhalb von einer halben bis zwei Stunden erfolgt, muss im Falle einer Überdosierung mithilfe einer Magenspülung und der Gabe von Aktivkohle die Elimination des Toxins aus dem Gastrointestinaltrakt versucht werden. Die weitere Behandlung erfolgt symptomatisch unter ständiger Kon­trolle von Atmung und Kreislauf.

Bei den in Deutschland zugelassenen Präparaten mit Pflanzenextrakten werden Dosierungen von maximal 8 mg in 24 Stunden und 12 mg pro gesamtem Gichtanfall empfohlen. So können Erwachsene vom flüssigen Monopräparat zu Behandlungsbeginn 50 Tropfen (= 1 mg Colchicin) einnehmen, gefolgt von ein bis zweimal 25 Tropfen (= 0,5 bis 1 mg Colchicin) alle ein bis zwei Stunden bis zum Abklingen der Schmerzen. Die Höchstddosis beträgt insgesamt 16 × 25 = 400 Tropfen (8 mg Colchicin) innerhalb von 24 Stunden. Die Gesamtdosis von 24 × 25 = 600 Tropfen (12 mg Colchicin) pro Gichtanfall darf nicht überschritten werden. Bei dem kürzlich zugelassenen Präparat mit dem chemisch definierten Wirkstoff liegt die Dosierung bei maximal 2,5 mg Colchicin in 24 Stunden (zwei- bis dreimal 0,5 mg, oder gegebenenfalls eine Anfangsdosis von 1 mg) ein. Pro gesamtem Gichtanfall soll eine Dosis von 6 mg nicht überschritten werden. Die Behandlung mit Colchicin soll beendet werden, wenn der akute Anfall abgeklungen ist oder gastrointestinale Symptome auftreten. Ein neuer Therapiezyklus ist bei allen Präparaten erst nach mindestens drei Tagen Pause erlaubt.

Berichte über unerwünschte Wirkungen

Die Nebenwirkungen unter Colchicin betreffen vor allem Gewebe mit hoher Proliferationsrate wie den Magen-Darm-Trakt und das Knochenmark. Zunächst treten meist Erbrechen, Durchfall und Bauchkrämpfe auf. Daraus können sich schwerwiegende gastrointestinale Beschwerden mit Blutungen und Koliken bis hin zum Multiorgan- und Herz-Kreislauf-Versagen entwickeln. Die UAW-Datenbank des BfArM enthält für den Zeitraum seit 1986 mehr als hundert Fälle mit unerwünschten Wirkungen unter Colchicin-Einnahme.

Für großes Aufsehen sorgte der Fall eines 73-jährigen Gichtpatienten, der unter rezidivierenden Gichtanfällen litt. Aus diesem Grund hatte ihm der Arzt eine 100-ml-Flasche der flüssigen Colchicin-Zubereitung verordnet. Wegen starker nächtlicher Schmerzen im Vorderfuß nahm der Patient davon etwa 50 ml ein. Es kam zu schwerer Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Schmerzen. Trotz Behandlung im Krankenhaus verstarb der Patient etwa 50 Stunden nach Einnahme der Colchicin-Überdosis. Aufgrund dieses Ereignisses hatte das BfArM im Februar 2017 ein Stufenplanverfahren eingeleitet mit dem Ziel, die maximale Packungsgröße der flüssigen Zubereitung auf 30 ml zu begrenzen. Die 100-ml-Packung Colchysat® Bürger wurde daraufhin vom Hersteller freiwillig vom Markt genommen. Vorhandene Rest­packungen können abverkauft werden. Zusätzlich hat der Hersteller die Fachinformationen von Colchicum-Dispert® und Colchysat® überarbeitet. Die neuen Versionen mit erweiterten Warnhinweisen werden in Kürze verfügbar sein. Der Hersteller der Präparate auf Pflanzenextraktbasis würde auch die Reduktion der empfohlenen Dosierungen der beiden Präparate befürworten, nachdem neuere Studien die Wirksamkeit und Sicherheit auch in niedriger Dosierung belegt haben.

Auf potenzielle Interaktionen achten

Ergänzend zu den Maßnahmen der Zulassungsbehörde und der Aufklärung der Patienten über mögliche Risiken durch den Arzt kommt der Beratung in der Apotheke eine wichtige Funktion zu. Insbesondere sollte auf mögliche Interaktionen zwischen Dauermedikamenten oder kurzfristig verordneten Arzneimitteln geachtet werden. Colchicin ist ein Substrat von CYP3A4 und P-Glykoprotein (P-gp). Wenn gleichzeitig angewendete Hemmstoffe von CYP3A4- und/oder P-gp die Metabolisierung von Colchicin verringern, kann eine erhöhte Toxizität die Folge sein. Zu Arzneistoffen, bei denen derartige Wechselwirkungen mit Colchicin in Betracht gezogen werden müssen, zählen Makrolid-Antibiotika wie Clarithromycin, Erythromycin und Telithromycin, Antimykotika wie Fluconazol, Itraconazol, Ketoconazol oder Voriconazol, HIV-Therapeutika (Protease-Inhibitoren) wie Atazanavir, Indinavir oder Ritonavir sowie Calcium-Antagonisten wie Diltiazem und Verapamil. Auch auf Grapefruitsaft als potenten CYP3A4-Hemmer muss während einer Colchicin-Behandlung verzichtet werden. Bei dringend notwendiger gleich­zeitiger Behandlung mit Colchicin und einem CYP3A4- bzw. P-gp-Hemmer muss der Arzt die Dosis reduzieren. |

Literatur

Akute Gicht in der hausärztlichen Versorgung. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), AWMF-Registernr. 053/032b, Stand: September 2013, gültig bis September 2018

Häufige Gichtanfälle und Chronische Gicht in der hausärztlichen Versorgung. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), AWMF-Registernr. 053/032a, Stand: September 2013, gültig bis September 2018

Diesinger C, Schriever J. Colchicin – gut informieren, vorsichtig dosieren. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit, Informationen aus BfArM und PEI 2017;4:15-23, www.pei.de/SharedDocs/Downloads/vigilanz/bulletin-zur-arzneimittelsicherheit/2017/4-2017.pdf;jsessionid=1F02712663AA104041F23BDCC3717C05.2_cid329?__blob=publicationFile&v=3

Mutschler E et al. Arzneimittelwirkungen. Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie. 10. Auflage, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 2013

Fachinformationen Colchysat® Bürger Flüssigkeit und Colchicum dispert® Überzogene Tabletten, Stand: November 2013

Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft „Aus der UAW-Datenbank“: Akzidentelle Überdosierung von Colchicin mit Todesfolge Dtsch Arztebl 2017;114(3):A-96

Colchicin-haltige Arzneimittel (Colchysat Bürger®) und Meldungen über Medikationsfehler: Begrenzung der Packungsgröße auf 30 ml – Anhörung im Stufenplanverfahren Stufe II. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Meldung vom 9. Februar 2017, www.bfarm.de

Persönliche Mitteilungen von Dr. Sonja Al-Haj, Johannes Bürger Ysat­fabrik GmbH

Teuscher E, Melzig M, Lindequist U. Biogene Arzneimittel. Lehrbuch der Pharmazeutischen Biologie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, 7. Auflage 2012

Autorin

Dr. Claudia Bruhn ist Apothekerin und arbeitet als freie Me­dizinjournalistin. Sie schreibt seit 2001 regelmäßig Beiträge für die DAZ.

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