Arzneimittel und Therapie

„Was für 95% günstig ist, muss nicht für 100% gelten.“

Interview mit Priv.-Doz. Dr. Johannes W. Dietrich

rr | Priv.-Doz. Dr. Johannes W. Dietrich vom Universitätsklinikum Bergmannsheil an der Ruhr-Universität Bochum setzt tagtäglich Schilddrüsenhormone in seiner Behandlung ein und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit deren Bioverfügbarkeit. Im Interview erläutert der Endokrinologe, warum er am Nutzen einer höheren Dosiergenauigkeit zweifelt.
[Quelle: privat]
Dr. Johannes W. Dietrich

DAZ: Herr Dr. Dietrich, welche Schwierigkeiten ergeben sich bei der Einstellung eines Patienten auf ein L-Thyroxin-Präparat?

Dietrich: Die Dosierung der Substitutionstherapie ist ein aufwendiger Prozess. Er erfolgt nach Laborbefunden und klinischer Symptomatik. Die wichtigsten Laborparameter zur Beurteilung der Stoffwechsellage sind TSH, freies T4 und freies T3. Während die alleinige TSH-Bestimmung für Screeninguntersuchungen symptomloser Patienten durchaus ausreichend ist, müssen bei symptomatischen Personen, also bei hohem Anfangsverdacht, immer auch die Werte der peripheren Schilddrüsenhormone berücksichtigt werden, da nur so sekundäre Funktionsstörungen erkannt werden können. Auch etwa bei Morbus Basedow, psychiatrischen Erkrankungen und unter Amiodaron-Therapie bildet die TSH-Bestimmung nicht immer die Stoffwechsellage ab. Die Einstellung erfordert Zeit. Laborkontrollen sind frühestens sechs Wochen nach Änderung der Substitutionsdosis sinnvoll, da die Halbwertszeit von T4 mit einer Woche außerordentlich lang ist. Bei stabiler Substitution genügen später halbjährliche Kontrollen.

DAZ: Welche Rolle spielt Ihrer Erfahrung nach die Galenik von L-Thyroxin-Präparaten für den Therapieerfolg?

Dietrich: Eine erhebliche! Studien haben gezeigt, dass die Bioverfügbarkeit zwischen verschiedenen Handelspräparaten um bis zu 25% abweichen kann. Zu Zeiten, als L-Thyroxin-Präparate noch der Aut-idem-Regelung unterstanden, stellten sich in unserer Ambulanz sehr häufig Patienten mit „schwer einstellbarer Hypothyreose“, die durch stark schwankende Schilddrüsenhormonspiegel gekennzeichnet ist, vor. In der Mehrzahl der Fälle lag dem ein Wechsel des Handelspräparats zugrunde. Seltener waren Einnahmefehler, Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln (z. B. Gallensäure-Bindern) oder Magen-Darm-Erkrankungen die Ursache.

DAZ: Inwieweit hat sich die Situation durch die Aufnahme von Schilddrüsenhormonen in die Substitutionsausschlussliste verändert?

Dietrich: Sie hat sich gebessert. Während früher Einstellungsschwierigkeiten häufig waren, ist diese Problematik erheblich zurückgegangen. Eine unvorhersehbare Resorption hat heute meist immunologische Ursachen oder sie ist durch Einnahmefehler seitens der Patienten, beispielsweise durch die Einnahme zum oder nach dem Essen, bedingt.

DAZ: Ist eine Rezepturänderung, wie sie die Firma Merck beim Präparat Euthyrox® plant, vor dem Hintergrund der Substitutionsausschlussliste so einfach möglich?

Dietrich: Nein. Die Bioäquivalenz ist auch zwischen etablierten Handels­präparaten unzureichend. Bisher ist der Mechanismus der Resorption von Schilddrüsenhormonen nur teilweise verstanden. Es handelt sich um ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlichster Faktoren vom autonomen Nervensystem über das Mikrobiom des Darms bis zu bestimmten Transportproteinen in der Zellmembran der intestinalen Schleimhaut. Es ist daher nicht überraschend, dass die Bioverfügbarkeit von Schilddrüsenhormonen individuell unterschiedlich ist. Was für 95% der Betroffenen günstig ist, muss nicht für 100% gelten.

DAZ: Ist eine Eingrenzung der Spezifikation auf 95 bis 105% wirksames L-Thyroxin über die gesamte Laufzeit überhaupt nötig, wie es die französische Arzneimittelagentur fordert?

Dietrich: Strenge Spezifikationen sind sicher zur Minimierung von Äquivalenzproblemen notwendig. Ob sie angesichts der individuellen Variabilität der Resorption hinreichend sind, ist aber fraglich.

DAZ: Wie bewerten Sie die Aussagekraft der von Merck durchgeführten Bioäquivalenzstudie zur neuen vs. alten Formulierung von Euthyrox®?

Dietrich: Die Studie ist umfangreich und sorgfältig dokumentiert. Allerdings entspricht die statistische Methodik dem wissenschaftlichen Stand von vor 15 Jahren. Die Beurteilung der Bioverfügbarkeit sollte heute die Auswirkung auf den gesamten Regelkreis berücksichtigen. Geeignete mathematische Methoden dafür stehen seit etwa zehn Jahren zur Verfügung. Außerdem ist bei knapp über 200 Studienteilnehmern möglicherweise die Fallzahl zu gering, um seltene Varianten des Schilddrüsenhormonstoffwechsels abzubilden.

DAZ: In Frankreich wurde die Umstellung der Patienten auf die neue Formulierung bereits 2017 vorgenommen und sorgte dort für großen Wirbel, da einige Patienten über verstärkte Nebenwirkungen klagten. Erwarten Sie derartige Schwierigkeiten bei der Umstellung auch in Deutschland?

Dietrich: Die Situation ist hier nicht unbedingt einfacher. Die grundsätzlichen biologischen Faktoren sind ja die gleichen. Es wird auf jeden Fall notwendig sein, bei den mit Euthyrox® behandelten Patienten während der Umstellung gehäufte Kontrollen der Stoffwechsellage und gegebenenfalls Dosisanpassungen vorzunehmen. Inwieweit das von den Kostenträgern übernommen wird, bleibt aber fraglich.

DAZ: Etwa zwei Drittel der französischen Patienten, die über Nebenwirkungen unter der neuen Formulierung berichten, haben einen TSH-Wert im Normbereich. Wie kann man das erklären?

Dietrich: Das ist ein bekanntes Pro­blem, das nicht unbedingt mit dem Handelspräparat zu tun haben muss. In der Tat haben etwa 10% aller Patienten, die mit L-Thyroxin behandelt werden, eine schlechte Lebensqualität, auch bei normaler TSH-Konzentration. Die Beschwerden können zugleich denen einer Hypothyreose und denen einer Hyperthyreose ähneln. In Extremfällen führen sie bis zur Berentung der Betroffenen. Die Ursachen dieses Syndroms sind unbekannt und möglicherweise multifaktoriell. Ungewöhnlich ist der hohe Prozentsatz der Betroffenen in Frankreich.

DAZ: Spielt Ihrer Meinung nach ein Nocebo-Effekt in diesem Zusammenhang eine Rolle?

Dietrich: Dies ist durchaus möglich, wofür gerade die überraschend hohe Prävalenz nach der Umstellung der Rezeptur spricht. Ein Nocebo-Effekt erklärt aber nicht alle Fälle. Mögliche weitere Ursachen bestehen in Komorbiditäten, immunologischen Effekten, einem Low-T3-Syndrom unter Monotherapie mit L-Thyroxin oder einer inadäquaten Behandlungsdosis, da die breiten Referenzbereiche für TSH und periphere Hormone den individuellen Sollwert der Schilddrüsenhomöostase nicht abbilden können.

DAZ: Herr Dr. Dietrich, haben Sie vielen Dank für das Gespräch! |

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1 Kommentar

Neues Euthyrox

von Ch am 04.12.2019 um 0:39 Uhr

Also mir wird total schlecht von dem neuen Medis.
Mein Margen ist seit dem sehr angegriffen.
Ich werde auch wechseln.
Ich wünsche mir die alten Euthyrox zurück

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