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„Chance verpasst, Ängste zu nehmen“

Interview mit Prof. Dr. Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI)

DAZ: Der Film „Eingeimpft“ hat bereits vor seinem Start in Deutschland für eine kontroverse Debatte gesorgt – sowohl in Fachkreisen als auch in der Bevölkerung. Mal abgesehen davon: War ein Dokumentarfilm zum Thema Impfen längst überfällig und finden Sie die Idee prinzipiell gut?

Cichutek: Ich kann mir einen Dokumentarfilm als hilfreich vorstellen, der nach journalistischen Prinzipien und in wissenschaftlicher Begleitung entsteht. Auf „Eingeimpft“ trifft dies meiner Meinung nach nicht zu. Ein Dokumentarfilm könnte helfen, existierende Missverständnisse über das Impfen auszuräumen. Dazu müsste er die Darlegung von Fakten klar von der Widergabe von Meinungen trennen. Wenn ich mich richtig erinnere, stehen mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland Impfungen positiv gegenüber. Um die zehn Prozent haben eine eher kritische Einstellung. Nur drei bis fünf Prozent lehnen Impfungen vollständig ab. In vielen früheren Berichten und auch im Film nehmen solche ablehnenden Positionen gleich viel Raum ein wie diejenigen „pro“ Impfungen. Das scheint sich aktuell in einschlägigen Berichten zu ändern, was ich sehr begrüße. Leider bin ich nicht sicher, ob diejenigen, die den Film schon gesehen haben oder noch sehen werden, die Berichterstattung über den Film und die dort erwähnten Fakten, die im Film fehlen, ebenfalls wahrnehmen. „Eingeimpft“ ist zu emotional und bildet vor allem mehr oder minder fundierte Meinungen ab. Es fehlt die wissenschaftliche Einordnung – insbesondere der Aussagen von Kritikern. Diese bleiben einfach im Raum stehen, ohne dass dazu gehörige Fakten dargestellt werden. Es ist also eher ein emotionaler Spielfilm im Format eines Dokumentarfilms über die Impfentscheidung eines Elternpaares, bei dem die Mutter Impfungen vollständig ablehnt und den Vater zur Recherche auffordert. Diese Recherche wird beherrscht von den Ängsten der Mutter vor längst widerlegten Gefahren. Von einem Dokumentarfilm würde ich eine balancierte Darstellung der Fakten über Impfungen erwarten.

Foto: PEI
Prof. Dr. Klaus Cichutek

DAZ: Auch Sie kommen im Film zu Wort und erklären, dass es beim Impfen stets darum gehen müsse, Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen. Dieses Zitat wird von Regisseur David Sieveking kommentiert mit „Der Professor Doktor hat gut reden“. Ist das ein Beispiel dafür, dass viele Menschen das Thema Impfen eher emotional als rational betrachten?

Cichutek: Es ist ein Beispiel dafür, dass Menschen, die Entscheidungen insgesamt eher emotional als rational begründet treffen, anfälliger sind für die Falschinformationen derjenigen, die gegen Impfungen argumentieren. Denn diese arbeiten mit Angst. Als der Autor das erste Mal im PEI nach einem Interview angefragt hat, sagte er, dass er mit dem Film seine Frau überzeugen wolle, dass Impfungen gut und sinnvoll sind. An einer balancierten Darstellung von Nutzen und Risiko von Impfungen ist dem PEI sehr gelegen, denn wir wollen objektiv aufklären. Im Film zeigt sich nun, dass die Ängste seiner Frau für den Autor ein höheres Gewicht haben, als die wissenschaftlichen Argumente der Fachleute, die valide Daten über das Impfen darstellen. Die Angst schürenden Aussagen der Gegner von Impfungen haben den Autor stärker beeindruckt als evidenzbasierte wissenschaftliche Aussagen. Wir haben dem Interview daher auf einer von Herrn Sieveking anders dargestellten Ausgangslage zugestimmt.

DAZ: Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte bemängelt, der Film stelle „widersprüchliche Szenen und Meinungen – teilweise auch Fehlinformationen und wissenschaftlich widerlegte Hypothesen – nebeneinander, ohne diese einzuordnen“. Welche Gefahren sehen Sie von einem Film ausgehen, der freiwillig oder unfreiwillig zur gesundheitlichen Aufklärung beiträgt, und so extrem polarisiert?

Cichutek: Die Kritik des Bundesverbandes teile ich vollständig. Und deshalb befürchte ich, dass dieser Film die Verunsicherung und Ängste noch steigert oder sogar erst erzeugt, statt eine Hilfestellung für Menschen, vor allem Eltern, zu bieten, die sich informieren und die beste Entscheidung für sich und ihre Kinder treffen wollen.

DAZ: Welche Chancen hat der Film Ihrer Meinung nach verpasst?

Cichutek: Der Film hat die Chance verpasst, in einer ansprechenden, sehr persönlichen Form sachliche und wissenschaftlich belegte Informationen zu vermitteln. Er hat die Chance verpasst, den Menschen Ängste zu nehmen. Er hat die Chance verpasst, Mythen, die wissenschaftlich lange widerlegt sind, aufzugreifen und in einer verständlichen, die Menschen berührenden Form zu entkräften. Stattdessen verbreitet der Film die Fehlinformationen selbst.

DAZ: Wie sehen Sie die aktuelle Situation in Deutschland: Sind die Impfempfehlungen der STIKO und das nationale Impfprogramm ausreichend? Oder müsste noch mehr hinsichtlich Aufklärung und Angebot gemacht werden? Wie stehen Sie zu einer Impfpflicht?

Cichutek: Die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut und die Nutzen-Risiko-Bewertung und die Informationen des Paul-Ehrlich-Instituts zu Impfstoffen sind sehr gut – aber natürlich können wir immer noch besser werden. Es geht vielleicht in der Zukunft nicht um ein weiteres „Mehr“ an Aufklärung und Information, sondern auch um das „Wie“. Weitere soziologische Forschung kann möglicherweise helfen, sachdienliche Informationen in geeigneter Form auch Impfskeptikern zu vermitteln. Wichtig ist mir, dass Menschen hinsichtlich Impfung eine fundierte Entscheidung auf Basis von Fakten treffen können. Was die oft diskutierte Impfpflicht angeht: In Italien wurde das gerade versucht, mehr oder weniger erfolgreich. Wir haben ja schon eine sehr große Zustimmung zum Impfen – es müsste genau überlegt, gegebenenfalls untersucht werden, ob durch Einführung einer Impfpflicht eine Verbesserung der Impfquoten in Deutschland erreicht werden könnte. Bisher setzen wir auf die Kraft von Argumenten und Fakten. Die Möglichkeiten, die das Infektionsschutzgesetz schon jetzt bietet, müssen aber in jedem Fall konsequent umgesetzt werden. Dazu gehört beispielsweise, dass Kinder, die an einer impfpräventablen Krankheit leiden, Gemeinschaftseinrichtungen wie Kitas, Kindergärten und Schulen nicht betreten dürfen. Entsprechend darf das betreuende Personal seine Tätigkeit im Fall einer solchen Erkrankung erst dann wieder ausüben, wenn eine Weiterverbreitung der Krankheit nicht mehr zu befürchten ist.

DAZ: Herr Prof. Cichutek, vielen Dank für das Gespräch. |

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