Arzneimittel und Therapie

„Folsäure-Schutzeffekt scheint plausibel“

Ein Gastkommentar

Prof. Dr. Martin Smollich

Die Bedeutung einzelner Nahrungsfaktoren bei der Entstehung von Autismus-Spektrum-Störungen wird schon lange und widersprüchlich diskutiert. Deutliche Hinweise auf die Beteiligung von Umwelteinflüssen liefern zahlreiche Zwillingsstudien [1]. Die aktuelle Studie konnte in einer Hochrisikopopulation (jüngere Geschwister von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung) eine Assoziation zwischen der pränatalen Vitamin-Supplementation und einer Risikoreduktion zeigen [2].

Diese Beobachtungen stimmen mit früheren Studien überein, die einen Hinweis auf einen relevanten Einfluss von Mikronährstoffen insbesondere in der perikonzeptionellen Phase vermuten lassen [3]. Dabei wurde häufig vor allem ein Zusammenhang mit der Folsäure- und/oder Eisen-Zufuhr nahegelegt [4, 5]. Eine eindeutige Dosis-Wirkungs­beziehung liefert jedoch auch die vorliegende Studie nicht – weder für Folsäure noch für Eisen. Allerdings war eine Folat-Zufuhr von ≥ 600 µg/Tag tatsächlich mit einem reduzierten Risiko für eine Autismus-Spektrum-Störung assoziiert, nicht jedoch niedrigere Folat-Dosierungen von < 400 µg/Tag. Dies ist sehr praxis­relevant: Denn Multivitamin-Prä­parate enthalten meist geringere Folsäure-Mengen als schwangerschaftsspezifische Präparate (≥ 600 µg/Tag). Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt derzeit Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten, die Einnahme synthetischer Folsäure mit 400 µg/Tag (zusätzlich zu einer Folat-­reichen Ernährung).

Auch in früheren Beobachtungs­studien hatte es Hinweise auf einen Schutzeffekt einer überdurchschnittlichen Folsäure-Zufuhr zum Zeitpunkt der Konzeption gegeben [4, 5]. Die physiologische Bedeutung von Folsäure im Rahmen der embryonalen neuronalen Entwicklung lässt einen möglichen Zusammenhang zumindest plausibel erscheinen.

Da in der vorliegenden Studie eine überdurchschnittlich hohe Folat-­Zufuhr fast immer auch mit einer überdurchschnittlichen Eisen-Supplementation verbunden war, ist es nicht möglich, statistisch zwischen den Effekten beider Nährstoffe zu unterscheiden. Neben der Tatsache, dass es sich hierbei um eine Beobachtungs- und nicht um eine (aus­sagekräftigere) Interventionsstudie handelt, gibt es eine weitere methodische Einschränkung: Die hoch­dosierte Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln erfolgt überdurchschnittlich häufig von Frauen, die ohnehin einen besonders gesundheitsbewussten Lebensstil pflegen, gut mit Mikronährstoffen versorgt sind und Schadstoffe im Alltag eher meiden. Insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine hochdosierte Supplementation in der Schwangerschaft lediglich ein Indiz für die Vermeidung anderer Risikofaktoren für die Entstehung einer Autismus-Spektrum-­Störung ist.

Prof. Dr. rer. nat. Martin Smollich, Leiter der Arbeitsgruppe Pharmakonutrition am Institut für Ernährungsmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck

Quelle

[1] Sandin S et al. The heritability of autism spectrum disorder. JAMA 2017; 318(12):1182-2284

[2] Schmidt RJ et al. Association of Maternal Prenatal Vitamin Use With Risk for Autism Spectrum Disorder Recurrence in Young Siblings. JAMA Psychiatry 2019; doi:10.1001/jamapsychiatry.2018.3901

[3] Lyall K et al. Maternal lifestyle and environmental risk factors for autism spectrum disorders. Int J Epidemiol 2014;43(2):443-464

[4] Surén P et al. Association between maternal use of folic acid supplements and risk of autism spectrum disorders in children. JAMA 2013;309(6):570-577

[5] Schmidt RJ et al. Maternal intake of supplemental iron and risk of autism spectrum disorder. Am J Epidemiol 2014;180(9):890-900

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