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Feuilleton

Oscar Liebreich und sein Chloralhydrat

Meilensteine der Berliner Pharmakologie

Zu dem Berliner Pharmakologen Oskar Liebreich gibt es 2018/2019 gleich drei Jubiläen. Zum Ersten den 180. Geburtstag des am 14. Februar 1839 in Königsberg Geborenen. Zum Zweiten seinen 110. Todestag (2. Juli 1908). Und nicht zuletzt das 150. Jubiläum seiner Beschreibung der schlafinduzierenden Wirkung von Chloralhydrat. Bei drei Jubiläen ist es sicher angebracht, Oscar Liebreich einmal ausführlich zu porträtieren. | Von Peter Oehme

Der Weg Liebreichs zur Pharmakologie war facettenreich [1]. Seine Laufbahn beginnt er als Seemann. Es folgt eine Ausbildung in Chemie. Nach einer Tätigkeit als technischer Chemiker beginnt er 1859 ein Medizinstudium in Königsberg. Dieses setzt er in Tübingen fort. Von dort wechselt er nach Berlin, wo er 1865 promoviert wird. Im Anschluss an das Medizinstudium arbeitet Liebreich kurzzeitig als praktischer Arzt.

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Oscar Liebreich, Aufnahme von 1899 [4].

1867 folgt eine wichtige Etappe seiner Entwicklung. In diesem Jahr beginnt er in der chemischen Abteilung des pathologischen Institutes von Rudolf Virchow (1821 – 1902). Dort führt er die Arbeiten zur schlafinduzierenden Wirkung von Chloralhydrat durch. In diese Zeit fällt auch seine Habilitation 1868 für das Gebiet „Heilmittellehre“. Dazu hält er auch Vorlesungen.

Doch dabei will Liebreich nicht stehenbleiben. Hierbei hilft ihm der Zufall [2]. 1871 stirbt Karl Gustav Mitscherlich (*1805), der in Berlin neben der Heilmittellehre auch das Fach Pharmakologie an der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität vertritt. Schon wenige Tage nach dessen Beerdigung schreibt Liebreich unter Umgehung der medizinischen Fakultät an den Minister. Die darin geäußerte Bitte: Ihm die bisher von Mitscherlich gehaltenen Vorlesungen über „Materia medica“ und die Verantwortung für die pharmacognostische Sammlung provisorisch zu übertragen. Der Minister entspricht, trotz des Einspruchs der Fakultät, Liebreichs Bitte. Kurz darauf (1872) wird Liebreich ordentlicher Professor und Mitglied der Fakultät. Damit ist sein Einstieg in die Berliner Pharmakologie gelungen.

Liebreichs Wirken in der und für die Berliner Pharmakologie

Doch Liebreich verfügt nur über ein provisorisches Laboratorium in der Luisenstraße. Aus diesem Grunde beantragt er beim Minister die Einrichtung und Leitung eines pharmakologischen Institutes. Bereits 1873 werden ihm 7500 Taler zur ersten Einrichtung des Institutes und eine jährliche Donation von 4700 Talern bewilligt. In mehreren Ausbaustufen entsteht in den Jahren 1873 bis 1878 ein im Rundbogenstil der sog. Berliner Schule errichteter Backsteinbau mit kunstvoller Terrakottaornamentik [1].

Mit dem Bezug des Institutsneubaus 1883 sind für Lehre und Forschung ideale Bedingungen gegeben. Trotz der Belastung durch Institutsgründung und Institutsneubau ist Liebreich weiter in Forschung und Lehre aktiv. In der Lehre unterrichtet er vorwiegend Pharmazeuten in analytischen und in toxikologischen Untersuchungsmethoden.

Für seine Forschungsarbeiten hatte Liebreich in dem erwähnten Schreiben an den Minister ein ausführliches Konzept geschickt [2]. Schwerpunkt seiner geplanten Arbeiten sollte der Zusammenhang zwischen physiologischer Wirkung und molekular-chemischer Konstitution sein. Eine zur damaligen Zeit wegweisende Aufgabe. Im engen Zusammenhang damit sah Liebreich das Verfolgen der chemischen Veränderungen der „Droge“ im Organismus. Für wichtig hielt er die Wahl einfacher übersichtlicher Untersuchungsobjekte. Hinzu kam die Forderung „man darf der Klinik nicht fernbleiben“.

Chloralhydrat und dessen Weg in die medizinische Praxis

Das Jahr 1869 wird für Liebreich ein „Highlight“. Zum einen erscheint sein Buch „Das Chloralhydrat – Ein neues Hypnoticum und Anaestheticum und dessen Anwendung in der Medicin“ [3]. Gewidmet ist es „Herrn R. Virchow in Verehrung und Dankbarkeit“.

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Titelblatt des Buches von Liebreich „Das Chloralhydrat - Eine Arzneimittel-Untersuchung“ von 1869 [3].

Im Buch lässt sich die Genese und die Realisierung von Liebreichs Chloralhydrat-Vorhaben gut nachverfolgen. Ausgangspunkt ist sein Ansatz, „den Weg eines Arzneimittels im Organismus weiter zu verfolgen“. Für das bereits 1832 von Justus von Liebig (1803 – 1873) synthetisierte Chloral­hydrat vermutet Liebreich, dass es, wie unter In-vitro-Bedingungen, auch in vivo „allmählich in Chloroform zerfällt …“. Da für Chloroform die Eignung und Nutzung zur Narkose und zur Schmerzlinderung seit Längerem bekannt war, liegt es für Liebreich nahe, Chloralhydrat in dieser Richtung zu untersuchen.

Strukturformeln von Chloralhydrat und Chloroform

Hierzu führt er Tierversuche an Fröschen und Kaninchen mit subcutaner Chloralhydratinjektion durch. Anschließend folgt ein Versuch „mit einem mittelgroßen Hund …“. Da all diese Tierversuche positiv verlaufen, folgen – in Zusammenarbeit mit bekannten Medizinern wie dem Chirurgen B. v. Langenbeck (1810 – 1887) – Untersuchungen an Patienten. Am Ende dieser klinischen Untersuchungen steht die Aussage, dass Chloralhydrat „sicher Schlaf bewirkt und keine schädliche Nachwirkung zur Folge (hat), und das es innerlich wie subcutan ohne Schwierigkeit ... verabreicht werden kann“.

Am Ende seines Buches kommt die Feststellung, dass „der Aufnahme des Chlorals zu therapeutischen Zwecken nichts mehr im Wege steht“ [3].

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Von Liebreich empfohlene Rezepturen: „Einen Teelöffel in einem Glase Wein, Bier oder Limonade“ [3].

Zusätzlich zur Buchveröffentlichung stellt Liebreich am 2. Juni 1869 seine Ergebnisse in dem Vortrag „Das Chloral, ein neues Hypnoticum und Anästheticum“ in der Berliner Medizinischen Gesellschaft (BMG) vor [4].

Gerechterweise muss man an dieser Stelle zwei Punkte einfügen [5]. Zum einen, dass die Ausgangstheorie von Liebreich, dass Chloralhydrat im Organismus zu Chloroform umgewandelt wird, sich später als unzutreffend erwies. Im Organismus wird Chloralhydrat zu der aktiven Wirkform Trichlorethanol umgewandelt. Aus historischer Sicht ist ein zweiter Punkt anzumerken. Es finden sich Hinweise, dass der Begründer der deutschen Pharmakologie Rudolf Buchheim (1820 – 1879) als erster die einschläfernde Wirkung von Chloralhydrat an sich selber und an einigen Patienten beobachtet hat. Da er aber erst 1872 dazu eine Arbeit veröffentlichte, fällt die Priorität Liebreich zu [5].

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Heinrich Byk [6]

Mit der Veröffentlichung der Chloralhydrat-Ergebnisse durch Liebreich im Jahre 1869 ist die Erfolgsgeschichte in Berlin nicht beendet. Vier Jahre nach Liebreichs Veröffentlichung gründet der Chemiker Dr. Heinrich Byk (1845 – 1923) in Berlin eine chemische Fabrik [6]. Die Postanschrift ist Berlin, Fruchtstraße. Unter den ersten Produkten der neugegründeten Firma ist das von Liebreich beschriebene Chloralhydrat [6]. Zunächst bietet die Firma Byk das Chloralhydrat in kleinen Apothekerflaschen unter dem Namen Chloralum hydratum an. Später wird es als dickflüssiger Saft mit der Bezeichnung „Sirupus Chlorali hydrati“ konfektioniert und vertrieben. Diese Chloralhydrat-Arzneimittel erfreuen sich bald – nicht nur in Deutschland – großer Beliebtheit.

Aus diesen Gründen entscheidet Byk, das Chloralhydrat selbst herzustellen. Dazu muss mit Chlorgas gearbeitet werden. Das ist auf Dauer für das Unternehmen – jetzt ansässig im nordöstlichen Berliner Randbezirk – unter den beengten Berliner Verhältnissen nicht machbar. Deshalb verlagert Byk 1885 die Produktion seines Unternehmens in das nördlich von Berlin gelegene Oranienburg. Dort bestehen sowohl bessere Freiräume für die Produktion, wie auch eine langjährige chemische Tradition [7]. Diese ist eng verbunden mit dem Wirken des großen deutschen Chemikers Friedlieb Ferdinand Runge (1795 – 1867). In Oranienburg expandiert die Firma Byk rasch und entwickelt mehrere Produktionszweige incl. für Chloralhydrat. Auch die Forschung und Entwicklung wird gefördert. So gelingt dem Unternehmen die Entwicklung des noch heute eingesetzten Euphyllin. Byk erweist sich als ein dynamisches Unternehmen, in welchem Chloralhydrat gut aufgehoben ist.

Oscar Liebreich aus heutiger Sicht

Für Oscar Liebreich ist die Veröffentlichung seiner Chloralhydrat-Ergebnisse nicht das Ende. Es folgen Arbeiten über die Wirkung von Butylchloral und Äthylchlorid als Schlafmittel und Anästhetika, sowie umfangreiche Arbeiten zu Desinfektions- und Konservierungsmitteln. Besonders zu erwähnen ist die Isolierung des Lanolins aus Wollfett. Diese Aufzählung könnte noch weiter fortgesetzt werden.

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Eingangstür des ehemaligen Instituts für Pharmakologie und Toxikologie im Jahr 2018.

Wertet man die Leistungen Oscar Liebreichs aus heutiger Sicht, so sind sicher seine Arbeiten zum Chloralhydrat am bekanntesten. Das von Liebreich entwickelte Chloralhydrat war das erste synthetisch hergestellte Sedativum/Hypnotikum und über viele Jahrzehnte ein erfolgreich eingesetztes Arzneimittel. Darüber hinaus leitete es die erste darauf basierende systematische Arzneimittelforschungsarbeit ein [5].

Heinrich Byk, der den Wert des Chloralhydrats frühzeitig erkannte, war sicher der geeignete industrielle Partner. Ihm bescheinigt die Literatur eine gute Verbindung von Forschergeist und Unternehmermut [6]. Deshalb ehrte die Stadt Oranienburg 1993 seine Leistungen mit der Umbenennung der Industriestraße in Dr. Heinrich-Byk-Straße. Es ist ein gutes Zeichen, dass zwischen der Byk- und der Lehnitzstraße seit 2011 der japanische Pharmaglobalplayer Takeda ansässig ist, erheblich investiert und die Tradition des Pharmastandortes Oranienburg weiterführt. Zur Traditionslinie gehört auch die Verbindung via Chloralhydrat und Liebreich zur Berliner Charité.

Buchtipp

Zu den in der renommierten Berliner Medizinischen Gesellschaft (BMG) im Zeitraum von 1860 bis 1935 gehaltenen Vorträgen ist 2018 eine Buchveröffentlichung von G. Laschinski und I. Roots erschienen. Dieses Buch gibt eine wertvolle Übersicht zum Entstehen einer modernen Medizin und die Beiträge, die hierfür die Berliner Medizin geleistet hat. Am 17. Januar 2019 fand eine Veranstaltung der Berliner Medizinischen Gesellschaft statt, bei der unser Autor Prof. Peter Oehme über Oscar Liebreich referierte.

Als die Berliner Medizinische Gesellschaft 1860 gegründet wurde, war die Narkose gerade gefunden und der Gedanke der Asepsis entstanden. Es folgen die stürmischen Jahrzehnte, in denen die moderne Medizin durch epochemachende Entdeckungen Gestalt annimmt. Der Siegeszug der Bakteriologie, die Röntgendiagnostik, neue Operationsverfahren und Medikamente, Erkenntnisse der Biochemie und Physiologie, aber auch soziale Entwicklungen prägten jene Zeit.

Die Berliner Medizinische Gesellschaft bildete das fachübergreifende Zentrum des medizinischen Lebens in Berlin mit weltweiter Ausstrahlung. Für die Zeit von 1860 bis 1935 sind nicht weniger als 5000 Vorträge und Demonstrationen in den Verhandlungen der Berliner Medizinischen Gesellschaft dokumentiert. Der ­Geheime Medizinalrat Dr. Otto Solbrig, einer der bedeutenden ­Medizinalbeamten bis in die Weimarer Republik hinein, referiert etwa 900 der Vorträge. Er beschreibt auch in einer noblen Art die Geschichte der Gesellschaft als die Geschichte der Großen der Medizin im Berlin jener Zeit. Die Herausgeber haben sein Manuskript ergänzt und ausführlich kommentiert.

Gabriele Laschinski, Ivar Roots (Hrsg.)

Das Entstehen der modernen Medizin: Vorträge vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft von 1860 bis 1935

332 Seiten, 17,9 × 2,1 × 24,6 cm, Gebunden, 39,90 Euro
ISBN 978-3-94061-557-2
1. Aufl. 2018

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Liebreich darf zu Recht auch als der Begründer der Berliner Pharmakologie verstanden werden. Dazu gehört der von ihm durchgesetzte und realisierte Bau eines für damalige Verhältnisse modernen Institutsgebäudes für die Berliner Pharmakologie. Das unter Liebreich gebaute Institutsgebäude wurde noch in den letzten Kriegstagen, wahrscheinlich am 27. April 1945, völlig zerstört [8]. Unter dem Direktorat von Friedrich Jung (1915 – 1997) erfolgte der Wiederaufbau [9]. Im wiederaufgebauten Institut wurde am Eingangstreppenaufgang mit einer Büste an Oscar Liebreich erinnert.

Heute gehört dieses Gebäude nicht mehr zur Charité. Es wurde im Jahre 2009 mit dem gesamten historischen Robert-Koch-Forum verkauft.

Bleibt zuletzt die Bewertung des Arbeitskonzeptes von Oscar Liebreich. Kernstück war die Einheit von pharmakologischer Grundlagenforschung, kontinuierlicher Kliniknähe und erfolgreicher Industriekooperation. Dieses „Dreiecksverhältnis“ ist sicher auch heute noch ein Erfolgsrezept. Deshalb am Schluss der Wunsch, dass diese Trias wieder stärker zur Führungsgröße wird und zur Stärkung der Innovationskraft in der Gesundheitsregion Berlin/Brandenburg beiträgt. Vielleicht kann uns das Erinnern an Liebreich dabei helfen. |

Literatur

[1] Morgenstern R. Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Medizinische Fakultät (Charité) der Humboldt-Universität zu Berlin. In: Philippu A. Geschichte und Wirken der pharmakologischen, klinisch-pharmakologischen und toxikologischen Institute im deutschsprachigen Raum. Band I, Berenkamp Verlag 2004;91-123

[2] Jung F. 100 Jahre Institut für Pharmakologie und Toxikologie. In: Charité-Annalen, Neue Folge, Band 3, Akademie-­Verlag Berlin 1983;255-264

[3] Liebreich O. Das Chloralhydrat ein neues Hypnoticum und Anaestheticum und dessen Anwendung in der Medizin. Zweite, unveränderte Auflage, Otto Müller Verlag. Berlin 1869. Reproduction by Forgotten books. London 2017

[4] Laschinski G und I Roots. Das Entstehen der modernen Medizin. Vorträge vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft von 1860 – 1935. Ausgewählt vom Geh. Medizinalrat Otto Solbrig. ABW Wissenschaftsverlag. Berlin 2018

[5] Issekutz B. Die Geschichte der Arzneimittelforschung. ­Akademiai Kiado, Budapest 1971;77

[6] Fischer EP. Byk Gulden – Forschergeist und Unternehmermut. Piper Verlag München Zürich 1998

[7] Oehme P. Friedlieb Ferdinand Runge. In: Dtsch. Apothekerzeitung 1994;134:991-4993

[8] Herken H. Die Berliner Pharmakologie in der Nachkriegszeit. ­Springer Verlag Berlin, Heidelberg, New York 1999

[9] Scheler W und P Oehme. Zwischen Arznei und Gesellschaft. Zum Leben und Wirken des Friedrich Jung. In: Abhandlungen der Leibniz-Sozietät Band 8, trafo Verlag Berlin 2002

Autor

Prof. Dr. Peter Oehme, Arzt und Pharmakologe, zwischen 1976 und 1991 Direktor des von ihm gegründeten Instituts für Wirkstofforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR. Aus diesem ging 1992 das Forschungsinstitut für molekulare Pharmakologie hervor, in dem er eine Forschungsgruppe leitete und später Scientific Advisor war

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