Die Seite 3

Geballter Widerstand

Foto: DAZ/Kahrmann

Dr. Armin Edalat, Chefredakteur der DAZ

Seltene, unheilbare Erkrankungen prägen das öffentliche Bewusstsein häufig stärker und nachhaltiger als es banale Erkrankungen schaffen.

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist dafür ein gutes Beispiel. Es ist bemerkenswert, welche Aufmerksamkeit die degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems allein in den vergangenen fünf Jahren erfahren hat. Man denke an die Ice Bucket Challenge, mit der weltweit Spendengelder eingesammelt wurden, oder an den Tod des Astrophysikers und ALS-Patienten Stephen Hawking im letzten Jahr.

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist wie ALS ebenfalls gekennzeichnet durch einen fortschreitenden Untergang motorischer Nervenzellen und einen Muskelschwund, der bei der akuten infantilen Form die Patienten nicht älter als drei Jahre werden lässt.

Über die SMA wird in den Publikumsmedien derzeit häufig berichtet. Anlass ist eine neue Gentherapie und gleichzeitig das teuerste Arzneimittel der Welt: Zolgensma® vom Schweizer Hersteller Novartis. Die einmalige Anwendung kostet rund zwei Millionen Euro.

Novartis prognostiziert, dass Zolgensma® den behandelten Kindern im Schnitt 13 zusätzliche Lebensjahre bei guter Gesundheit bescheren soll.

Es klingt – auch im Jahr 2019 und für uns Experten – noch immer nach Science-Fiction: Mit nur einer Spritze sollen Neugeborene von einer Erbkrankheit geheilt werden, die unbehandelt tödlich verlaufen würde. Natürlich hat die Geschichte einige Schönheitsfehler. Vielleicht ist es der Preis, vor allem aber die Frage, ob die versprochene Lebenszeit tatsächlich erreicht werden kann und inwiefern die Wirksamkeit mit auf dem Markt befindlichen Therapien vergleichbar ist. Beide Aspekte können Stand heute nur äußerst unsicher kalkuliert werden. Langfristig sollen mit der einmaligen Gabe jährliche Therapiekosten in Höhe von Hunderttausenden Euro gespart werden.

Der Hersteller hat die (imaginären) Waagschalen also bestückt: einerseits die innovative Therapie zum Preis von mehreren Millionen Euro, andererseits der Gewinn an Lebenserwartung für die betroffenen Patienten.

Wie wird sich die Solidargemeinschaft entscheiden?

Ganz so einfach ist es nicht. Denn beim vermeintlich ethischen Dilemma sind noch zu viele Variablen unbekannt. Das haben auch die großen Krankenkassenverbände in Deutschland erkannt und wenden sich in einem Brief an den Bundesgesundheitsminister (S. 20).

Sie sehen sich einer „beispiellosen Medienkampagne“ ausgesetzt, mit der ein „erheblicher Druck auf Krankenkassen und Ärzte entfaltet“ werden soll, die Therapie – für die es in der EU noch keine Zulassung gibt – zu finanzieren. Die Kassen fürchten, dass Zolgensma® nur der Auftakt sein könnte und in Zukunft neue Arzneimittel noch vor ihrer Zulassung und Nutzenbewertung von der Versichertengemeinschaft einge­fordert werden.

Die Reaktion der Kassen, als „Hüter“ der Versichertenbeiträge, ist nachvollziehbar und vorausschauend. Doch im Fall der SMA und anderer Erbkrankheiten, deren Verläufe innerhalb weniger Monate bis Jahre bei Neugeborenen zum Tod führen, erwarten die betroffenen Familien nun eine schnelle Reaktion des Ministers.

An Jens Spahn liegt es nun, sich auch auf diesem schwierigen Feld zu bewegen und die Entscheidung zu treffen, wie mit Erkrankungen umgegangen werden soll, für die eine heilende Therapie in Aussicht steht, die jedoch – auf den ersten Blick – schwindelerregende Kosten verursachen könnte.

Armin Edalat

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