Wirtschaft

Wird sich die Apothekenzukunft an der Haustür entscheiden?

Die Herausforderungen des stationären Handels im Zeitalter der Versender und Plattformbetreiber

eda | Der Botendienst ist keine Erfindung von Jens Spahn. Doch mit der Änderung der Apothekenbetriebsordnung hat der Bundesgesundheitsminister im vergangenen Jahr die Servicedienstleistung der Apotheken – zumindest auf dem Papier – in die Gegenwart transformiert. Seitdem kann der Botendienst nicht mehr nur im „Einzelfall“, sondern als Regelleistung auf Kundenwunsch erfolgen. Die neue Definition war in den meisten Apotheken sicher schon immer gang und gäbe, und doch kann dieser ministerielle Federstrich als Weichenstellung zu einer Art „Challenge“ verstanden werden. Nun soll man als Vor-Ort-Apotheke mit seinem Angebot gesetzlich legitimiert konkurrieren dürfen gegenüber Versandhändlern und Plattformbetreibern, die den Arzneimittelmarkt am liebsten nach dem Vorbild Lieferando oder Booking.com umgestalten würden. Sollte man sich der Herausfor­derung stellen?
Foto: Angelov – stock.adobe.com

Bei Versendern zu kaufen ist bequem. Die sogenannte „Convenience“ kann als der ausschlag­gebende Stimulus angesehen werden, weshalb Menschen Produkte des täglichen Bedarfs im Versandhandel bestellen – übrigens nicht nur online, sondern bis vor wenigen Jahrzehnten auch aus telefonbuchdicken Katalogen. Bequemlichkeit sticht mitunter sogar die Preis- und Zeitersparnis. Auch eine größere Auswahl und (vermeintliche) Anonymität sind zwar wichtig, erklären aber nicht vollumfänglich das Konsumverhalten abseits des stationären Handels.

Seit der weltweiten Corona-Pandemie hat die „Convenience“ sogar noch eine weitere Dimension erhalten – das politisch gewollte, ja sogar erzwungene Zuhausebleiben führt zu einer (lebens-)notwendigen Bequemlichkeit in der Bevölkerung. Weil der Einzelhandel vor Ort nicht mehr zu erreichen ist oder bewusst (aus Angst vor einer Infektion) gemieden wird, erhält der Versand- bzw. Online-Handel einen einmaligen Auftrieb.

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Das lässt sich bereits in Zahlen messen: Der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (BEVH) konnte mit einer Verbraucherbefragung belegen, dass die Online-Umsätze im März 2020 im Vergleich zum Vorjahr signifikant angestiegen sind – und zwar bei Produkten des täglichen Bedarfs, wie Drogeriewaren (plus 30 Prozent), Lebensmittel (plus 55 Prozent) sowie Arznei­mittel (plus 88 Prozent).

Ganz anders sah das Ergebnis aus für die Versender von Unterhaltungselektronik (minus 20 Prozent), Bekleidung (minus 35 Prozent) sowie, wie nicht anders zu erwarten, bei der Buchung von Reisen, Veranstaltungen und Flügen (minus 75 Prozent). Die vom BEVH beklagte „Corona-Delle“ der drei zuletzt genannten Handelssparten konnte in den Wochen danach zum Teil wieder etwas kompensiert werden. „Aufschwung im April 2020 gleicht Corona-bedingtes Minus noch nicht für alle Onlinehändler aus“, heißt es in einer Pressemitteilung des Verbandes. Zwar wurde der schwache März mit einem kumulierten Plus von 2,3 Prozent insgesamt überkompensiert. Doch das liegt nach wie vor am starken Umsatzwachstum in den Kategorien Drogeriewaren (plus 55 Prozent), Lebensmittel (plus 101 Prozent) und Arzneimittel (plus 87,3 Prozent).

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Die Zahlen des BEVH machen auf eindrucksvolle Weise deutlich: Gerade die Sortimente, die in der Lockdown-Phase auch im statio­nären Handel erhältlich gewesen wären, wurden am meisten online nachgefragt. Auf weniger lebenswichtige Konsumgüter wie Unterhaltungselektronik und Bekleidung konnten und wollten die Menschen im Ausnahmezustand eher verzichten als auf Drogeriewaren, Lebensmittel und Arzneimittel. Doch diese Nachfrage kam im Durchschnitt nicht den Geschäften und Apotheken zugute, die auf Grundlage von Sonderregelungen und unter den widrigsten Umständen ihren Betrieb aufrechterhielten, sondern den etablierten Online-Händlern und Plattformen – allen voran Internetgiganten wie Amazon, die mittlerweile auch zu den Top-Versendern im Bereich Lebensmittel zählen. Im ersten Quartal 2020 verzeichnet das Unternehmen einen Umsatzanstieg verglichen mit dem Vorjahreswert um 26 Prozent auf 75,5 Milliarden Dollar (68,9 Milliarden Euro).

Branchenkenner hatten schon zu Beginn der Lockdown-Phase prophezeit, dass – unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung im Land und weltweit – mit einem lang anhaltenden Online-Boom zu rechnen ist. Corona soll zu einem nachhaltig veränderten Konsumverhalten führen. Das könnte die Welt des stationären Handels verändern – muss es aber nicht. Denn laut Marktforschungsunternehmen IQVIA hatten im vergangenen Jahr bereits 70 Prozent aller Apotheken im Hinblick auf die Botendienst-Reformierung von Jens Spahn ihre Aktivitäten in Sachen Kundenbelieferung erhöht. Bei nicht viel weniger Betrieben (65 Prozent) war sogar schon eine Online-Bestellmöglichkeit für Arzneimittel und andere apothekenübliche Produkte möglich. Damit stärken die Präsenzapotheken ihre Stellung im lokalen Wettbewerb gegenüber Drogerien und anderen Apotheken und im überregionalen Wettbewerb gegenüber Versandkonzernen. Weitere Argumente für die Vor-Ort-Apotheke sind laut IQVIA attraktive Öffnungszeiten, Parkplätze sowie Extra-Kassen für Online-Kunden, die den größten Teil des Beratungs- und Bestellprozesses bereits beim Betreten der Apotheke hinter sich gebracht haben. Denn auch das hat der Minister in der novellierten Apothekenbetriebsordnung vorgesehen: Die pharmazeutische Beratung soll explizit im Wege der Telekommunikation erfolgen können. Man könnte meinen, dass die Corona-Pandemie der wie gerufene Stresstest für alle neuen Regeln war und ist.

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Internetkonzerne wie Amazon, denen die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schon eine gewisse „Systemrelevanz“ zuschreibt, sind deshalb so erfolgreich, weil sie durch konsequente Markenbildung einen hohen Bekanntheitsgrad aufweisen. Das „Branding“ ist das A und O eines erfolgreichen Unternehmens im Online-Zeitalter. Arzneimittelversender wie DocMorris – einige Kategorien kleiner als Amazon – haben daran in den letzten Jahren intensiv gearbeitet. Die Kampagne „Das E-Rezept kommt!“ ist ein nach wie vor wirkendes Beispiel. 70 Prozent der Verbraucher sollen die Marke DocMorris kennen. Solch einen Bekanntheitsgrad werden lokale Händler mit Botendienst nur schwer erreichen können. Doch unmöglich ist es nicht. Es könnte sogar die entscheidende „Challenge“ zwischen Präsenzapotheken und multinationalen Konzernen sein, den Aufbau einer Marke und von Netzwerken zu forcieren. Lieferando-Mitbegründer Philipp Hartmann wird zu diesem Thema folgendermaßen zitiert: „Es hat sich ausgezahlt, dass wir in den vergangenen Monaten extrem viel Wert auf Branding gelegt haben. Jetzt ernten wir bereits die Früche: Lieferando ist mittlerweile bei 40 Prozent der Befragten Top of Mind.“

Es scheint, als gebe es in allen Konsumsparten eine extrem hohe Nachfrage der Endkunden nach Lieferservices. Als Königsdisziplin im Wettbewerb aller Anbieter gilt es, die Bestellung am gleichen Tag ausliefern zu können („Same-Day-Delivery“). Was für den klassischen Pizzalieferanten selbstredend gilt und der Apotheken-Botendienst schon immer geleistet hat, muss von Großkonzernen, die auf einen Markt drängen, erst mühevoll erreicht werden. DocMorris scheint nach fast zwei Dekaden erkannt zu haben: Eine deutschlandweite Auslieferung von Arzneimitteln und anderen Apothekenprodukten am selben Tag ist aus logistischer Perspektive nur möglich, wenn dies aus einer Vielzahl von Lagern passiert, die sich nah am Endverbraucher befinden, und nicht aus einem Großlager in der nieder­ländisch-deutschen Grenzregion. Daher versucht das einstig dis­ruptive und mit Rabatten um sich werfende Unternehmen nun in Kooperation mit Vor-Ort-Apotheken eine Plattform aufzubauen.

Dagegenhalten Initiativen großer Unternehmen aus dem Apothekenmarkt. Statt einer Kooperation mit den Versendern wollen genossenschaftliche Großhändler wie Noweda und Sanacorp mit weiteren Partnern den lokalen Apotheken mit Initiativen unter die Arme greifen. Dazu zählen aktuell „ProAvO“ (Gehe, Noventi, Rowa, Sanacorp, Wort&Bild) und „Zukunftspakt Apotheke“ (Burda, Noweda). Neben der Zusammenarbeit mit großen Medienpartnern geht es um die Etablierung einer Bestellplattform, über die der Endverbraucher in Kontakt mit seiner Apotheke kommen soll.

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Wie leistungsfähig die Apotheken bereits heute beim Same-Day-Delivery von (Online-)Kunden sind und welche Mehrwerte sie in dem Vertriebsmodell sehen, hat Dr. Hagen Sexauer vom Markt­forschungsunternehmen bench-breaking.com untersucht und im „Handelsblatt“ veröffentlicht.

Demnach liefern fast zwei Drittel aller Apotheken (61 Prozent) täglich zwischen fünf und 15 Arzneimittel an ihre Kunden aus – 12 Prozent sogar deutlich mehr als 40 Bestellungen pro Tag. Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass fast jeder zehnte Betrieb die Auslieferungen um mindestens 50 bis 100 Prozent steigerte. 85 Prozent der Befragten geben an, sie könnten sich vorstellen, sich künftig an eine Bestellplattform anzuschließen, um ihre Umsätze im Wettbewerb gegen Versandapotheken zu sichern. Genug Kapazitäten sind offensichtlich in den Betrieben dafür vorhanden: Selbst bei einer sofortigen Verdoppelung des Bestellvolumens könnten 81 Prozent der Apotheken diese deutlich erhöhte Nachfrage sofort bedienen. Demnach würden 57 Prozent der Apotheken einer – künftig zu startenden – Plattform der Initiative „Pro AvO“ beitreten („Zukunftspakt Apotheke“ 50 Prozent), aber nur jede zehnte (9 Prozent) einer von DocMorris. 80 Prozent könnten sich vorstellen, bei mehreren Plattformen gleichzeitig Mitglied zu sein. Dabei favorisieren mehr als zwei Drittel der Befragten (69 Prozent) ein erfolgsbasiertes Vergütungsmodell, welches einen Fixbetrag je Bestellung beinhaltet. Der Plattformbetreiber sollte aus Sicht der Apotheken in Online-Werbung investieren sowie der teilnehmenden Apotheke ein exklusives Liefergebiet (mindestens 10 km) zu­sichern. Die Mehrheit (83 Prozent) wünscht, den eigenen Botendienst weiterhin einsetzen zu dürfen.

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Dass Amazon bald im deutschen Apothekenmarkt aktiv wird, hält Commerzbank-Analyst Andreas Riemann für eher unwahrscheinlich: „Wir haben gesehen, dass Amazon in den USA einen Modehändler übernommen hat, dann eine Versandapotheke. Beides ist in Europa nicht passiert – offenbar ist Amazon an solchen Übernahmen in Europa nicht interessiert.“ Einen Grund sieht Riemann in der Tatsache, dass Amazon für die Arzneimitteldistribution nicht die eigene, sondern aufgrund der regulatorischen Anforderungen eine separate Logistik aufbauen müsste. Dennoch sieht er es dringend geboten, dass die Vor-Ort-Apotheken in Deutschland aktiver und sichtbarer werden im digitalen Umfeld: „Für mich wäre das wichtigste Angebot in einer solchen App, dass Kunden vor der Abholung einsehen können, ob das gewünschte Produkt auch in der jeweiligen Apotheke verfügbar ist. Dann wären die Kunden schneller versorgt als im Versand und dazu persönlich beraten.“ |

 

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