- DAZ.online
- DAZ / AZ
- AZ 39/2020
- Ignorierte Inkompetenz
Management
Ignorierte Inkompetenz
Der Dunning-Kruger-Effekt – die gefährliche Mischung aus Halbwissen und Selbstüberschätzung
Halbwissen gemixt mit einer guten Portion Selbstüberschätzung und Ignoranz kann eine gefährliche Mischung ergeben. Seit der COVID-19-Pandemie kommt dieses Phänomen auf besondere Weise zum Tragen. Das Auftreten des neuartigen SARS-CoV-2-Virus machte aus Deutschland eine Nation von Hobby-Virologen. Das Virus ist in aller Munde. Es bestimmt in weiten Teilen unser Leben. Informationen werden dringend benötigt. Die (echten) Virologen liefern sie. Irgendwann begann jedoch das Phänomen um sich zu greifen, dass sich immer mehr Nicht-Virologen „wissend“ in den öffentlichen Diskurs einmischten. Problematisch ist, wenn diese Menschen die eigenen Kompetenzgrenzen nicht erkennen können.
Eine falsche Einschätzung der Grenzen der eigenen Kompetenzen ist weiter verbreitet als gedacht – und das nicht erst seit COVID-19. So sind wir auch eine Nation von Bundestrainern, einschließlich „guter“ Tipps an die echten Experten. Ebenso weit verbreitet ist eine Verzerrung der Selbsteinschätzung im Bereich Autofahren. Die meisten Menschen halten sich für gute bis sehr gute Autofahrer, egal wie es tatsächlich um ihr Können bestellt ist. Vor allem Fahranfänger neigen dazu, ihr Können zu überschätzen. Unfallstatistiken spiegeln diese Selbstüberschätzung wider.
Auch in der Apotheke kann uns entsprechendes Verhalten begegnen. Beispielsweise in Person eines Kollegen, der (leider) weniger weiß, als ihm selbst bewusst ist. Insbesondere Berufsanfängern passiert es schnell, dass sie ihre tatsächlichen Kompetenzen falsch einschätzen. Ist dieses Verhalten deutlich ausgeprägt, kann es zu Konflikten innerhalb des Teams kommen. Auch der durch Dr. Google „vorgebildete“ Kunde ist manchmal ein Problem. Entsprechende Kunden sind in der Folge schwerer zu beraten. Ihrem angegoogelten „Wissen“ muss dann mit Fingerspitzengefühl begegnet werden. Ein notwendiges Beratungsgespräch zu führen, ohne belehrend zu wirken, ist nicht immer einfach. Kennen Sie auch solche Fälle? Und was steckt eigentlich dahinter?
Die Selbstwahrnehmung ist verzerrt
Hinter den benannten Beispielen steckt der sogenannte Dunning-Kruger-Effekt. Dieser beschreibt ein Alltagsphänomen, dem die amerikanischen Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger Ende der 1990er-Jahre auf den Grund gingen. Die von ihnen durchgeführten Experimente und Studien legen nahe, dass weniger kompetente Menschen im betreffenden Bereich tendenziell das eigene Wissen und Können eher überschätzen. Dazu kommt, dass sie dazu neigen, die Fähigkeiten und das Wissen anderer, tatsächlich Kompetenterer, zu unterschätzen. Grund für diese falschen Wahrnehmungen ist eine kognitive Selbstwahrnehmungsverzerrung. Bedingt durch ihre fehlende Kompetenz können sie – laut Dunning und Kruger – ihre eigene Inkompetenz nicht erkennen beziehungsweise richtig einordnen im Vergleich zu anderen. Interessanterweise führt gerade ihre fehlende Kompetenz zu einem gesteigerten Selbstbewusstsein – und zu Problemen, die eigenen Kompetenzen zu steigern. Es mangelt letztlich an echter Selbstreflexion. Inkompetenz und Ignoranz gehen hierbei meist Hand in Hand. Es kann auch von einer Ignoranz gegenüber der eigenen Inkompetenz gesprochen werden.
Der Dunning-Kruger-Effekt lässt sich in folgenden vier Punkten zusammenfassen:
1. Überschätzung des eigenen Könnens, gerade von inkompetenten Menschen
2. Inkompetenz hindert daran, das Ausmaß der eigenen Inkompetenz zu erkennen
3. Falsche Selbsteinschätzung behindert Steigerung der Kompetenz
4. Unfähigkeit, überlegene Kompetenzen anderer Menschen zu erkennen
Experimente weisen auf Phänomen hin
Dunning und Kruger veröffentlichten 1999 die Ergebnisse von vier Teilstudien im „Journal of Personality and Social Psychology“ unter dem Titel „Unskilled and Unaware of It: How Difficulties in Recognizing One’s Own Incompetence Lead to Inflated Self-Assessments“. In diesem Zusammenhang hatten sie an der Cornell University unterschiedliche Tests mit Freiwilligen in den Bereichen Humor, Grammatik und Logik durchgeführt. Dunning und Kruger erbaten hinterher eine Selbsteinschätzung der erbrachten Leistungen. Dabei empfanden genau die Studienteilnehmer ihre eigenen Leistungen als besonders herausragend, die in Wirklichkeit die schlechtesten Ergebnisse hatten. Anders sah hingegen die Einschätzung derer aus, die besonders gut bei den Tests abgeschnitten hatten. Sie schätzten im Gegensatz zu den Inkompetenten ihre Leistungen als niedriger ein, als sie es in der Realität waren.
Die Autoren der Studien gaben dazu an: „Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist. […] Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, [sind] genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen.“ Ferner stellten sie fest: „Menschen neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten in vielen sozialen und intellektuellen Bereichen für übermäßig gut zu halten.“ Dunning und Kruger führen weiterhin aus, dass Menschen, die unqualifiziert in diesen Bereichen sind, eine doppelte Last tragen und sich so die Überschätzung der eigenen Kompetenzen zumindest teilweise erklären lässt: „Diese Personen ziehen nicht nur falsche Schlüsse und treffen unglückliche Entscheidungen, sondern ihre Inkompetenz führt auch noch dazu, dass sie das noch nicht einmal bemerken können.“
Der Dunning-Kruger-Effekt sorgte in erster Linie in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen für Furore, in entsprechender Fachliteratur wurde er hingegen weniger beachtet. Im Jahr 2000 erhielten Dunning und Kruger für ihre Arbeit den „Ig-Nobelpreis“ im Bereich Psychologie, einen alternativen, satirischen Nobelpreis. Wenn auch das Ganze zunächst eher populärwissenschaftlich anmutet, so werden die Ergebnisse der beiden Wissenschaftler dennoch durch andere Studien gestützt. So forscht die Psychologin Dr. Annegret Wolf von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ebenfalls zur kognitiven Selbstwahrnehmungsverzerrung, zu der auch die Selbstüberschätzung gehört. Wolf gibt an, dass ihr aufgrund ihrer eigenen Forschungsergebnisse die Schlussfolgerungen von Dunning und Kruger als plausibel erscheinen. Viele Studien und Meta-Analysen hätten ergeben, dass „Menschen sich immer konstant positiver und leistungsfähiger einschätzen, als sie sind.“
Was genau ist Kompetenz?
Kompetent oder eher nicht kompetent, das ist also die Frage. Doch was bedeutet eigentlich Kompetenz? Sie berührt verschiedenste Bereiche, beispielsweise als Fachkompetenz, Methodenkompetenz oder auch Sozialkompetenz. In der Psychologie wird der Begriff unter anderem beschrieben als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen [Anm. volitional: durch den Willen bestimmt] und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“. Der deutsche Psychologe Franz E. Weinert, unter anderem Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, prägte mit dieser Definition den Kompetenzbegriff nachhaltig.
Bei Kompetenz handelt es sich um Wissen verbunden mit Können, das zur Bewältigung von unterschiedlichen Handlungsanforderungen erfolgreich eingesetzt wird. Es ist eine Befähigung von Personen, Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen in Arbeits- oder Lernsituationen zu nutzen. Grundlage bilden Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Qualifikationen, Kenntnisse und Erfahrungen.
Der Weg von Inkompetenz hin zu Kompetenz führt über die verschiedenen Stufen des Lernens. Fünf verschiedene Kompetenzstufen (Dreyfuss-Modell) sind festgelegt: Wir bewegen uns demnach auf dem Weg zum Experten über die Stufen Anfänger, Fortgeschrittener, Kompetenter und Versierter. Wichtig ist, dass die verschiedenen Stufen durchlaufen werden müssen, um ein Wachsen von Kompetenz generieren zu können. Allerdings ist häufig zu beobachten, dass gerade am Anfang der Erwerb neuen Wissens zu einer verzerrten Selbstwahrnehmung und Überschätzung der eigenen Kompetenzen führt. Genau hier setzt der Dunning-Kruger-Effekt an.
Echte Kompetenz erkennen
Wie kann jedoch echte Kompetenz erkannt werden? Es gibt eine Vielzahl von Konzepten zur Erkennung und Bilanzierung von Kompetenzen. Erkennen lässt sich – allgemein gesagt – Kompetenz immer nur im Handeln der jeweiligen Person. Grundlegende Fragen, die gestellt werden müssen, sind: Nutzt derjenige seine erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten erfolgreich zur Bewältigung von Arbeits- oder Lernsituationen? Verfügt die Person über die erforderlichen Einstellungen, um die Problemlösungen in verschiedenen Situationen einsetzen zu können?
Selbstreflexion wiederum kann helfen, die eigenen Kompetenzen besser einzuschätzen. Menschen, die sich eingestehen können, sich bei einer Sache nicht sicher zu sein, reflektieren immerhin – und liefern gleichzeitig ein gutes Indiz für kompetentes Verhalten. Kompetenz ist auf diese Art und Weise allerdings nicht wirklich bilanzierbar. Hier helfen nur Kompetenztests weiter. Wer also Kompetenzen in seinem Team überprüfen will, kommt um ein Messen nicht herum. Die Kriterien, die angelegt werden, müssen jedoch gut überlegt und angemessen sein. Expertenrat kann in dieser Angelegenheit nützlich sein.
Tipps für den Umgang mit dem Phänomen
„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Das könnte ein guter Anfang zur Selbsterkenntnis sein – und zur Vermeidung eines Dunning-Kruger-Effekts führen. Leider heißt es jedoch oft: „Ahnungslos, ohne es zu wissen.“ Die Situation ist allerdings nicht hoffnungslos. Ehrliches und konstruktives Feedback kann den vom Dunning-Kruger-Effekt Betroffenen helfen. Diese benötigen zudem die Bereitschaft, sich einer echten Selbstreflexion zu unterziehen.
Wie also bei der Arbeit in der Apotheke – und auch sonst im Leben – mit diesem Phänomen umgehen?
1. Ehrliches und konstruktives Feedback über die tatsächlichen Leistungen und das Können – beziehungsweise die wahre Kompetenz im jeweiligen Fachgebiet – geben. Falls selbst betroffen: Lernen, Kritik anzunehmen und zu reflektieren.
2. Als „Betroffener“ sich dem unangenehmen Prozess stellen, der zur Selbsterkenntnis über die in Wahrheit geringere Kompetenz führt. Einsicht in diese Notwendigkeit ist nicht immer einfach. Aber nur so kann eine Weiterentwicklung stattfinden.
3. Kognitive Dissonanzen annehmen: Das heißt, sich nicht abwehrend gegenüber dem unangenehm empfundenen Gefühlszustand verhalten und sich nicht in Abwehrhaltungen oder in Rechtfertigungen flüchten.
4. Gegen selektive Wahrnehmung vorgehen. Lernen wollen. Weiterentwicklung zur lebenslangen Aufgabe machen.
Im Umgang mit allzu „wissenden“ Kunden wiederum hilft nur Geduld – und die Erkenntnis, dass es sich um den Dunning-Kruger-Effekt handeln könnte. |
Tiefstapler
Ein Gegenstück zum Dunning-Kruger-Effekt ist das sogenannte Hochstapler-Phänomen. Bei den Betroffenen handelt es sich meist um Personen, die objektiv eigentlich gar keinen Grund haben, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln – dies aber dennoch tun. Sie stellen ihre Erfolge infrage oder erklären sie mit Glück, Zufall und anderen externen begünstigenden Umständen. Die Angst „aufzufliegen“ und quasi als Hochstapler enttarnt zu werden, gehört dazu. AZ-Autorin Inken Rutz hat sich ausführlich mit diesem Phänomen in AZ 2020, Nr. 29, S. 6 befasst.
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.