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Pandemie Spezial

Exponentiell in den Abgrund?

Statistische Betrachtungen der Corona-Krise

Wer hätte noch vor wenigen Monaten gedacht, dass ein Femtogramm umhüllte RNA (mehr wiegt ein solches 100 nm-Virus nicht) die Welt auf den Kopf stellen würde? Das Phänomen des „schwarzen Schwans“, also Ereignissen, die niemand „auf dem Schirm“ hatte, meldete sich zurück. Die Dynamik der Virusausbreitung ist beängstigend. Wir analysieren diese Dynamik, werden Ihr Rechentalent anhand einiger Aufgaben herausfordern und einen Blick auf mögliche Konsequenzen werfen. | Von Reinhard Herzog 

Beginnen wir damit, das Verständnis für eine Infektion und ihre Kinetik zu wecken. Nehmen wir an, Sie hätten als „Zaubermeister der evolutionsbiologischen Molekularstatistik“ einen „Baukasten“ für Keime aller Art. Er enthielte eine erstaunliche Vielzahl von Instrumenten:

  • Die infektiöse Dosis (Keimzahl) für eine erfolgreiche Ansteckung – von niedrig zweistellig (Noroviren!) bis zigtausend.
  • Der Infektionsweg: per Tröpfchen, via Oberflächen (Schmierinfektion), intensiver Schleimhautkontakt (Geschlechtsverkehr, z. B. HIV), direkter Blutkontakt (z. B. Hepatitis B/C).
  • Die Keimstabilität: bei Viren die Wahl zwischen RNA und DNA, einsträngig (mutationsanfälliger!) oder doppelsträngig, Struktur der Hülle, bei Bakterien Kriterien wie Zellwanddicke, Schleimhüllen etc., daraus resultierend die Stabilität in der Umwelt, auf Oberflächen, gegenüber Sauerstoff, Feuchte, (UV-)Licht etc.
  • Die Zielzellen im Organismus via Oberflächenantigene mit allen Konsequenzen für die Kinetik und physiologische Wirkung.
  • Mechanismus der Wirtsorganismus-Schädigung: Zelllyse befallener Zellen (oder nicht, wie z. B. bei Hepatitis A), zellschädigende Exo-/Endotoxine (bei Bakterien), andere Eingriffe in die Wirtszellen (z. B. bei Onkogenen).
  • Aus diesen Mechanismen resultieren Kenngrößen wie Inkubationszeit, Dauer der Infektiosität der Patienten, Genesungszeit, Aufbau einer wie lange wirksamen Immunität, Ansteckungsraten, Übertragungswege etc.
  • Und am Ende leiten sich daraus die klinischen Bilder der Infektion samt Kenngrößen wie der Letalität ab.

Das ist nur das Wichtigste, aber mitnichten alles, was die Natur hervorzaubern kann. Die Biologie bedient sich simpler Molekularstatistik nach dem Trial- and Error-Prinzip ohne Moral und Emotionen. Diese Vielzahl erklärt auch die Komplexität des Infektionsgeschehens – und warum jeder Keim etwas Besonderes ist sowie, falls neu, eine Menge Überraschungspotenzial bietet.

Die Ausbreitungskinetik

Wie funktioniert nun die Ausbreitung einer Infektion? Dies hängt hochgradig von der entsprechenden „Viren-Strategie“ ab. Am Ende zählt nur der biolo­gische (Miss-)Erfolg. Keime, vor allem Viren, die sich rasch verbreiten und ihren Wirt dann schnell töten, enden regelhaft in der evolutorischen Sackgasse. Gleichwohl gibt es solche Beispiele aus dem Tierreich, wo Erreger ganze Populationen in kürzester Zeit meucheln (z. B. bestimmte Vogelviren). Andere können sich lebenslang im Wirt „verstecken“ und ihn irgendwann lediglich piesacken (z. B. Herpes-Viren), oder, erst nachdem die Weiterverbreitung gelungen ist, töten (HIV).

Tabelle 1: Wer steckt statistisch wie viele an?
Erreger
Basisreproduktionszahl R0
Nötige Grundimmunisierung für Herdenimmunität
Masernvirus
um 15
~ 95%
Pockenvirus
~ 6
~ 85%
Mumpsvirus
~ 5
~ 80%
SARS-CoV-2
2,5 … > 3 (> 4?)
60% bis 70% (> 75%?)
Influenzavirus, je nach Subtyp
um 2
um 40% bis 50%

Die Erreger von Massen-Atemwegserkrankungen sind deshalb so erfolgreich, weil sie sich gut verbreiten (Tröpfchen­infektion, durch die Krankheitssymptomatik gesteigert), ihr angerichtetes Werk im Grunde aber eher mild, jedenfalls nur zu einem geringen Prozentsatz letal verläuft. Besonders brisant wird es, wenn die Mehrheit der Infizierten kaum etwas merkt und nicht ernsthaft krank wird, aber als Überträger fungiert. Diesen Fall haben wir bei SARS-CoV-2, dem „Coronavirus“ (das eine Coronavirus gibt es nicht, es ist eine ganze, gut bestückte Familie). Bei der Influenza hingegen ist die Inkubationszeit recht kurz, die Patienten werden alsbald ernsthaft krank, müssen das Bett hüten und fallen insoweit als Massenüberträger weitgehend aus. Wir erkennen an dieser Stelle, dass Parameter wie die Inkubations- und Genesungszeit sowie die Dauer der Infektiösität (wie lange bleibt jemand ansteckend?) entscheidenden Einfluss auf die Ausbreitungskinetik nehmen.

Tabelle 2: Wucht der Exponentialfunktion – und ihre Bremsen
Tag
Zahl Infizierter
30% Wachstum/Tag
… davon genesen / immun
Dauer 10 Tage
noch infizierbar
Startwert 100 Mio.
0
1
0
10
14
1
~ 100 Mio.
20
190
14 + 1 = 15
~ 100 Mio.
30
2.620
190 + 15 = 205
~ 100 Mio.
40
36.119
2.620 + 205 = 2.825
~ 99,94 Mio.
50
497.929
36.119 + 2.825 = 38.944
~ 99,5 Mio.
60
6.864.377
497.929 + 38.944 = 536.873
~ 93,1 Mio.
70
94.631.268
6.864.377 + 536.873 = 7.401.250
~ 5,4 Mio.

grob vereinfacht zur Illustration des Prinzips; mathematisch sauber: Differenzialgleichungen!

Rein statistisch lässt sich jedoch eine Infektionskinetik mit wenigen Kenngrößen beschreiben und modellieren. Die wichtigste ist dabei die Basisreproduktionszahl R0 oder „Grundvermehrungsrate“ (Tabelle 1). Sie gibt an, wie viele weitere Personen ein Infizierter ansteckt im betrachteten Zeitintervall. Es ist für die Infektionsdynamik natürlich ein Unterschied, ob die Betreffenden dann drei weitere Leute im Schnitt an einem Tag anstecken oder in einer Woche. Dass es hier enorme regionale und individuelle Unterschiede gibt, liegt auf der Hand. Deshalb haben wir, im Zusammenwirken mit Faktoren wie Bevölkerungsdichte, sozialen Kontaktpunkten, Menschenansammlungen etc. entsprechend „hot spots“ und ruhige Regionen. Die fatale Wirkung des Verhaltens Einzelner darf dabei nicht unterschätzt werden. Ein Infizierter, der noch durch mehrere Großstadt-Clubs zieht, kann schnell eine hoch zweistellige Anzahl anstecken – die dann wiederum andere infizieren. Eine Lawine kommt in Gang.

Tabelle 2 illustriert die Wucht der Exponentialfunktion anhand einer Wachstumsrate von 30% pro Tag, die einige Zeit bei der Corona-Pandemie herrschte. Eine Basisreproduktionszahl von angenommen 3 impliziert dann einen Zeitraum von 4,2 Tagen, in welchem diese drei Ansteckungen im Schnitt stattfinden. Wir sehen, dass die virologische Geisterbahnfahrt sanft startet, um dann zum Ende hin massiv Fahrt aufzunehmen – irgendwann „unstoppable“!? Oder doch nicht? Nun, reine Zahlenspiele sind geduldig. Real haben wir natürlich Gegenreaktionen. Die Zahl der Infizier­baren sinkt nämlich immer stärker – weil diese nach durchgemachter Infektion (zumindest für eine gewisse Zeit) immun geworden sind oder schlicht durch Tod ausscheiden. In Tabelle 2 ist das beispielhaft dargestellt mit einer Verzögerungszeit von 10 Tagen entsprechend dem gewählten Zeitraster. Nach jeweils diesen 10 Tagen sind die vorher Infizierten „durch“ und immun, und die bislang Infizierten sind selbstredend ebenfalls nicht mehr ansteckbar; deren Zahl summiert sich auf. Mathematisch sauber muss man Differenzialgleichungen ansetzen bzw. feingliedrig numerisch rechnen, hier soll es nur um das Prinzip gehen. Infektionskinetische Modelle wie das SIR-Modell (Abb. 1) setzen genau da an. Diese Gegenregulationen und Verteilung in verschiedenen Kompartimenten (ähnlich wie in der Pharmakokinetik) führen eben nicht zu endlos wachsenden Fallzahlen, sondern zu (idealisierten) Glockenkurven bzw. sigmoiden Verläufen der Infizierbaren und Genesenen. Die Modelle sind oft vereinfacht. Größen wie Inkubations- und Genesungszeiten wirken verkomplizierend, ebenso zusätzliche Kompartimente (z. B. Klinikfälle).

Abb. 1: Die Infektionskinetik kann man, unter den jeweiligen Modelleinschränkungen, rechnerisch mittels Differenzialgleichungen in einer Art Kompartimentmodell simulieren. Der Pool der Infizierbaren leert sich, die aktiven Fallzahlen nehmen zu, die Erkrankten genesen (oder sterben). Mit den jeweiligen Austauschkonstanten lässt sich dann ein zeitlicher Verlauf simulieren. Komplexe Modelle mit weit mehr Parametern benötigen hohe Rechnerkapazitäten.

Trotz Gegenregulation vor allem durch Immunisierung können je nach Exponentialdynamik die Fallzahlen immer noch rasch in hohe Millionenzahlen aufwachsen. Um dies zu verhindern, muss man schlicht an der Basisreproduktionszahl R0 ansetzen. Man muss also unterbinden, dass ein Kranker drei weitere Personen ansteckt. Hat man es geschafft, R0 auf den Wert 1 oder darunter zu drücken, ist die Ausbreitung erst einmal gestoppt. Idealerweise heilen die aktiven Fälle in einigen Wochen aus, und die Infektion ist insoweit er­loschen. Soweit die Theorie. Wie reduzieren wir nun R0?

  • Akut setzen Kontakt- und Ausgangssperren, Ladenschließungen etc., aber auch Desinfektionsaktionen an – eine Reduktion der menschlichen Kontakte und Infektionsquellen bedeutet geringere Chancen auf Ansteckung anderer. Je nach Rigidität der Maßnahmen lässt sich schnell erkennen, dass man den Wert 1 unterbieten kann.
  • Auf lange Sicht führt die Immunisierung ebenfalls zu sinkendem R0 – die Keime finden schlicht zu wenig empfängliche Opfer, um sich noch verbreiten zu können (siehe Abb. 2). Bei einem Ausgangs-R0 von 3 sieht man schnell, dass eine Immunisierungsrate von zwei Dritteln aus dem Wert 3 einen von 1 macht.

Abb. 2: Die Wirkung der Basisreproduktionszahl R0. Ein Infizierter steckt x weitere Personen (hier 3) an – eine exponentielle Vermehrung der Fälle droht. Senkt man R0 auf höchstens eins (durch Reduzierung der Übertragungswege und Kontakte oder Steigerung der Immunität), bleibt eine Vermehrung aus.

Mit diesen Fakten kann man Ausblicke wagen, wie sich ein Infektionsgeschehen verbreiten könnte (Abb. 3). Die Kern­frage: Wie sieht der Immunstatus aus? SARS-CoV-2 trifft uns deshalb so brachial, weil wir keinerlei Grundimmunität mitbringen und das Virus hochansteckend ist. Drücken wir es herunter, wird es angesichts des Verbreitungsgrades kaum verschwinden. Lockert man die Restriktionen, droht eine zweite, wahrscheinlich viel schlimmere Welle, die dann zudem auf erschöpfte wirtschaftliche Ressourcen stößt. Macht man nichts, rauscht der Tsunami jetzt heran. Da im Moment noch Letalitätsraten im oberen Promille- bis unteren Prozentbereich gehandelt werden, wären das sechsstellige Opferzahlen allein in Deutschland. Noch schlimmer: Auf jeden Todesfall kommen fünf bis zehn Krankenhausfälle, wofür die Kapazitäten fehlen. Deshalb sei „Verlangsamen“ das Gebot der Stunde, von dem aber niemand weiß, wie lange sich das durch­halten lässt. Eine „Schaukelvariante“ wäre eine Art „Titrieren“ der Fallzahlen durch wechselnd restriktive Maßnahmen. Wie das praktisch umsetzbar sein soll, sei dahingestellt. Am Ende bleibt die Immunisierung, ob natürlicherweise durch Infektion oder per Impfstoff irgendwann. Noch vor Kurzem verpönt, diskutiert man jetzt ernsthaft die Variante der kontrollierten Immunisierung, indem man die Restriktionen für Nicht-Risikogruppen lockert und Risikogruppen weiter abschottet. Dazu in einem anderen Beitrag mehr.

Abb. 3: Mögliche Verläufe der Fallzahlen einer Infektion, die auf eine noch nicht immunisierte Bevölkerung stößt. Lässt man die Infektion durchlaufen, kommt es bei einer hohen Infektionsrate (SARS-CoV-2!) sehr schnell zu massiven Fallzahlen, danach wäre es aber insoweit ausgestanden, da eine Immunität sehr wahrscheinlich ist. Bremst man jetzt und lässt dann wieder locker, droht eine zweite massive Welle, wenn zwischenzeitlich kaum Immunität aufgebaut werden konnte (natürlich oder durch Impfung). Auf dem Papier reizvoll: Das „Titrieren“ der Fallzahlen durch unterschiedlich starke Restriktionen – aber praktisch durchführbar?

Fit in Mathe?

„Train your brain“ – instruktive Aufgaben zum Verständnis der Exponentialfunktion

1. (leicht) PTA Pfiffig mit Einser-Abschluss in Mathe will in Vollzeit anfangen und macht der Chefin folgendes Angebot: Am ersten Tag möchte sie 1 Cent Lohn, am zweiten 2 Cent, am dritten 4 Cent usw., also jeden Tag, den sie wirklich arbeitet, das Doppelte. Ein gutes An­gebot für die Chefin oder für Frau Pfiffig – und unter welchen Bedingungen?

2. (leicht) „Willy“ ist ein kugelrunder Keim mit einem Durchmesser von gut 1,2 Mikrometern; so ist er etwa 10-15 Kilogramm schwer (= ein Picogramm). Willy vermehrt sich im Körper des Menschen kräftig – alle 20 Minuten teilt er sich einmal, und seine Nachkommen tun dasselbe. Nach Ablauf von 24 Stunden gibt es dann wie viele von Willys Sorte? Und welches Gewicht brächten alle Nachkommen auf die Waage? Warum ist das natürlich völlig grotesk, was wirkt dem entgegen?

3. (schwer!) Bei der aktuellen Coronavirus-Pandemie hatten wir Tag für Tag ein Wachstum von 30% der positiv getesteten Infizierten. Nehmen wir an, am zu betrachtenden Ausgangstag Nr. 1 gäbe es „überschaubare“ 10.000 bestätigte Fälle, bei einer Dunkelziffer von Faktor 10. Ein Impfstoff (Wirksamkeit ~ 100%) könnte genau an Tag Nr. 10 alle Praxen erreichen, und im Verlaufe von weiteren 10 Tagen (ab Tag Nr. 11 bis 20) könnten 80% unserer 83 Mio. Einwohner (= ~ 66 Mio.) gleichmäßig Tag für Tag geimpft werden. Allerdings: Der Aufbau der Immunität dauere nochmals weitere 10 Tage; wenn die Infektion vorher erfolgt, sei die Impfung nicht wirksam. Zudem gilt: Auch die normal Infizierten immunisieren sich nach 10 Tagen! Kann die Impfung noch gegen die „Durchseuchung“ helfen? Die Basisreproduktionszahl sei 3, es liege keinerlei Grundimmunität vor.

Die Lösungen finden Sie auf Seite 46 in dieser DAZ.

Tests, Teststatistik und Teststrategien

Die Entscheidungsfindung über das in der Gesamtschau klügste Vorgehen steht und fällt mit dem Lagebild inklusive des Dunkelfeldes. Die Zahlen, die wir täglich vermeintlich genau präsentiert bekommen, zeigen leider nur einen (sehr) kleinen Ausschnitt der Realität im Rückspiegel aufgrund der Auswerte- und Meldeverzögerungen sowie Inkubationszeit, in Summe rund 10 Tage. Mutmaßlich liegt die wahre Zahl der Infizierten zum jeweiligen Verkündungszeitpunkt fünf- bis zehnmal höher, vielleicht ist dieser „Dunkelfeldfaktor“ noch größer. Dies ist ein großes Problem bei der Abschätzung von Größen wie Letalitäts- oder Hospitalisierungsraten, denn diese werden stets auf die tatsächlich positiv Getesteten be­zogen. Diese rekrutieren sich aus „begründeten Verdachtsfällen“. Wer darunter fällt, entscheidet im Wesentlichen ein Arzt nach Kriterienkatalog, vgl. Abbildung 4. Wir haben also keine Querschnittstests über die Gesamtbevölkerung und insoweit keinen Gesamtüberblick. Das ist auch mangelnden Testkapazitäten geschuldet, der momentane „bottleneck“. Ein Ausweg könnte „Pool-Testing“ sein – man testet 10 oder 20 Proben gemeinsam, sofern die Nachweisgrenzen das hergeben. Doch selbst wenn wir beliebige Testkapazitäten hätten, würde das hoch dynamische Geschehen es schwer machen, ein tragfähiges, zumal regional differenziertes Lagebild zu erhalten.

Und so variiert das jeweilige Bild mit der Art zu testen:

  • Betreibt man eine Vorauswahl der Patienten z. B. erst mit Auftreten von Symptomen oder im Umfeld einer infizierten Person (der hiesige Weg)?
  • Geht man in die Breite („alle testen“, das macht noch niemand v. a. aus Kapazitätsgründen, Länder wie Südkorea testen indes breiter als wir)?
  • Führt man gar nur im Nachhinein Bestätigungstests bei Krankenhauspatienten oder Gestorbenen durch (z. B. Italien hatte eher diese Richtung eingeschlagen)?
  • Wählt man irgendeinen Zwischenweg?

Regional differierende Betroffenheit und individuelle Handhabungsweisen und Interpretationen der Kriterien für Testungen seitens der einzelnen Verantwortlichen (Ärzte, Gesundheitsämter etc.) machen die Lage nicht übersichtlicher. Lokale Angebote wie z. B. ein „Drive-in-Testcenter“ dürften die Testergebnisse in der Umgebung erhöhen. All dies führt zu einem Flickenteppich mit zurzeit noch (zu) großen statistischen Kontrasten.

Flashback in die 1980er-Jahre

Anfang der 1980er-Jahre stürzte ein bis dato kaum bekanntes Krankheitsbild die Welt in helle Aufregung: AIDS, das „Acquired Immune Deficiency Syndrome“. Wenig später stand mit dem HIV-Virus die Ursache fest. Der „perfekte Killer“: Übertragen durch die „schönste Sache der Welt“, folgen im Falle einer Infektion meist milde, gern übersehene grippeähnliche Symptome, wenn überhaupt. Es schließt sich eine jahrelange symptomlose Latenzphase an (Ø um 10 Jahre, bestens geeignet zur Weiterverbreitung), die dann brachial mit dem regelhaft letalen „shutdown des Immunsystems“ endet. Erste Modellrechnungen sagten das mehrheitliche Absterben der seinerzeit 4,5 Milliarden Menschen voraus, Massenblätter titelten Entsprechendes. Der Autor, damals noch im Studium, war schon kräftig am Programmieren. Was wir damals um 1983/1984 nicht wussten: Allenfalls jeder hundertste „Schuss“ beim Geschlechtsakt ist ein Treffer, wir wussten zudem nicht, dass es nebst sicheren Tests bald retrovirale Medikamente geben würde, die zudem noch das Ansteckungsrisiko drastisch senken würden (seinerzeit war gerade mal Aciclovir als erstes spezifisch wirksames Virustatikum eingeführt worden, von eben jener Firma, die dann das erste antiretrovirale Präparat Retrovir® 1987 hervorbrachte). Auch wäre die Menschheit nie ganz ausgestorben, denn ein kleiner Teil (1% bis 2%) ist durch genetische Rezeptormodifikationen der CD4-Helferzellen geschützt. Das war damals ebenfalls unbekannt. Am Ende konzentrierte sich das Problem in den Industrieländern auf die „Risikogruppen“: häufiger Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern und Drogensüchtige; Vernunft war die beste Prophylaxe. In Entwicklungsländern sah es freilich ganz anders aus.

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Der Autor erinnert sich jedoch nicht, dass die gesamte Welt in den Ausnahmezustand versetzt worden wäre wie heute. Es waren andere Zeiten mit einer anderen Risikowahrnehmung. Ein nuklearer Showdown schien beispielsweise naheliegender. Im Vergleich zur heutigen Situation muss man ehrlicherweise dazusagen, dass früh klar war, dass wir nicht von heute auf morgen sterben würden (dafür womöglich auf breiter Front …). Anders heute: Eine Atemwegserkrankung wie eine Coronaviren-Infektion kann in wenigen Monaten die gesamte Welt durchziehen und einen medizinischen Tsunami auslösen. Dafür steht heute selbst im Worst Case „nur“ eine maximal sehr niedrige Prozentzahl, wohl eher eine Zahl im unteren Promillebereich der Leben im „Corona-Feuer“. Die extrem hohe Dynamik versetzt der Welt samt ihrer Wirtschaft aber den entscheidenden Schlag. Wir haben kaum Zeit und können uns nur zwischen Schlechtem entscheiden. Am Ende kommt jedoch vieles anders … siehe oben!

Es fällt hingegen auf, dass all diese Geißeln der Menschheit von Tieren übergesprungen sind; von Affen bei HIV oder Fledermaus und Pangolin (eine Art Gürteltier) bei Corona. Man erinnere sich an Vogel- und Schweinegrippe oder BSE („Rinderwahnsinn“). Das Thema Tierkontakte gilt es grundlegend zu überdenken!

Nehmen wir an, überproportional viele Infizierte aus dem „Dunkelfeld“ verlassen dieses nie, werden also niemals getestet. Nach einigen Tagen entwickeln sie eine Immunität und wären dann nur noch über einen Antikörpernachweis als ehemals infiziert identifizierbar. Zurzeit werden die berühmten 80% genannt, die im Bevölkerungsschnitt die Covid-19-Infektion symptomarm überstehen, es oft gar nicht mal merken. Bei gesunden Jüngeren sollte die Quote höher, bei Älteren und Gefährdeten naturgemäß niedriger liegen. Was aber, wenn die „Durchseuchung“ viel weiter vorangeschritten ist und z. B. 90% oder mehr die Krankheitswelle weitestgehend unbemerkt überstehen werden? Alle Prognosen zu Krankenhaus- und Todesfällen, welche derzeit auf die Raten bezogen nur auf die positiv Getesteten abstellen, müssten womöglich (stark) nach unten korrigiert werden. Wir hätten einen hier glücklichen Effekt des „statistical over-estimating“. Für eine optimale Strategie im Spannungsfeld zwischen Gesamt­wirtschaft und medizinischen Erwägungen ist das äußerst entscheidend.

Abb. 4: Durch das Prinzip der selektiven Testung „im begründeten Verdachtsfall“ erfahren wir viel zu wenig über das große „Dunkelfeld“, sprich die Grundgesamtheit der Bevölkerung. Haben sich nicht schon viel mehr Menschen infiziert? Ist die Immunisierung bereits in vollem Gange? Dies hätte entscheidende Konsequenzen für unser weiteres Vorgehen – wir wissen das alles aber (noch) nicht.

Auch das Phänomen des „statistical under-estimating“ sei nicht verschwiegen. So steigen zurzeit die statistischen Todesraten, weil die Gestorbenen erst mit einer Verzögerung von etlichen Wochen nach längerem Klinikaufenthalt auf dem Radar auftauchen, währenddessen schon viele andere vorausgetestet wurden. Das wird sich über die Zeit hinweg jedoch ausgleichen.

Begriffe wie Spezifität und Sensitivität gelten natürlich weiter, und wir werden mit einer Rate falsch positiver wie falsch negativer Ergebnisse zu rechnen haben. Da erst einmal mit heißer Nadel gestrickt wurde, haben wir mit Unsicherheiten zu leben, die sich im Laufe der Zeit mit zunehmenden Erfahrungen legen werden. Die Probenahme selbst hat ihre Tücken, je nachdem, wie weit die Infektion fortgeschritten ist. Die vorherrschenden PCR-Tests erweisen sich, wie wir langjährig wissen, als sehr zuverlässig. Das sieht bei Antikörper- und Schnelltests noch anders aus, es herrscht hier aber eine enorme Entwicklungsdynamik. Situationen, in welchen auf einen richtig positiven Fall ein, zwei oder gar mehr falsch positive Resultate kommen, sollten wir aber in unserer Lage tunlichst vermeiden. Dennoch wird die Antikörper-Testung bedeutsam werden – wer hat nämlich die Infektion durch­gemacht, ist aber schon wieder PCR-negativ?

Lösungen zu den Rechenaufgaben auf Seite 43

1. Von einem Cent ausgehend, verdoppelt sich jeden Arbeitstag der Lohn. Im Februar mit z. B. vier Arbeits­wochen zu je 5 Arbeitstagen wären es 219 Cent (im Exponent steht die Zahl der Tage minus 1) entsprechend rund 5.243 € – ein tolles Geschäft für Frau Pfiffig. Hat der Monat gar 23 Arbeitstage, bekäme Frau Pfiffig exorbitante 41.943 €. Die Inhaberin könnte Frau Pfiffig allerdings auf eine Vier-Tage-Woche setzen. Dann wird es eng: Bei 16 Arbeitstagen z. B. in einem normalen Februar gäbe es nur noch knapp 328 € …

2. Wenn sich Keim Willy alle 20 Minuten teilt (also dreimal je Stunde, insgesamt 72 Mal), dann gibt es theoretisch nach der letzten Teilung zum Zeitpunkt 24 Stunden 272 Nachkommen, und das sind gewaltige 4,77 × 1021 Keime, knapp 5 Trilliarden (ein erwachsener menschlicher Körper besteht aus etwa 3 × 1013 Zellen)! Multipliziert mit 10-15Kilogramm je Keim ergibt sich die gewaltige Masse von 4.700.000 Kilogramm (!!), was natürlich völlig grotesk ist. Der Hauptgrund: Bakterien sterben schnell nach etlichen Minuten ab, selbst ohne Antibiotika oder Wirkung des Immunsystems.

3. Die Aufgabe hat es in sich! Ein rückgekoppeltes System (siehe SIR-Modell im Artikel), welches man mit Differenzialgleichungen erschlägt oder „zu Fuß“ iterativ grob z. B. in Excel lösen kann. So wachsen die Infizierten mit anfangs 30% täglich (Startwert 100.000), gleichzeitig immunisieren sich aber 10 Tage verzögert immer mehr. Überlagert wird das durch die Impfaktivitäten, die ihre eigenen Verzögerungen haben (Start erst nach 10 Tagen, dann Impfen von etwa 6,6 Mio. Menschen täglich, Aufbau von deren Immunschutz jeweils 10 Tage später). Das Ziel: die Basisreproduktionsrate von 3 auf maximal 1 zu drücken. Dafür benötigt man zwei Drittel (= 55 Mio.) Immunisierte, ob nun geimpft oder selbst immun geworden. Ungebremst haben wir am Tag 21 (Start des Impfens) bereits 19 Mio. Infizierte, rückgekoppelt gut 15 Mio. Die Frage lässt sich am Ende mit Nein beantworten – eine hohe Durchseuchung findet statt. Der Aufbau des Immunschutzes gelingt natürlich. Allerdings nicht allein durch Impfung, sondern vor allem aufgrund natürlicher Immunisierung – womit eben Krankheits- und Todesfälle verbunden wären. Der Impfstoff alleine kommt zu spät, die aktiven Fallzahlen wachsen stets über 10 Mio. und werden lediglich in den letzten Tagen durch ihn gedämpft.

Es bleibt festzuhalten, dass wir uns (noch) auf statistisch unsicherem Niveau hinsichtlich der Einschätzung der Gesamtlage bewegen. Wir wissen schlicht zu wenig über die Grundgesamtheit, was angesichts der exorbitanten „Rettungspakete“ fassungslos macht. Der Autor vermutet, dass wir unter dem Strich eine Risikoüberschätzung haben. Bald wird Covid-19 ubiquitär sein und die – für den Aufbau eines Immunschutzes insoweit wünschenswerte – „Durchseuchung“ ist in vollem Gang. Stichprobenartige Antikörpertests werden zeigen müssen, ob die notwendige Herdenimmunität erreicht ist. In der nächsten Ausgabe werden wir eine Abschätzung und Bewertung der teils dramatischen Zahlen, die zurzeit „gehandelt“ werden, vornehmen.

Nachtrag: Fast täglich werden neue Testverfahren präsentiert – so ein Schnelltest, der innert 2,5 Stunden auf modifizierter PCR-Basis Infektionen mit 10 Erregern von Atemwegserkrankungen und damit nicht nur Covid-19 aufdecken soll (Bosch Vivalytic®). Der prognostische Wert der angegebenen „Genauigkeit“ von > 95% wird noch zu hinterfragen sein. Weiterhin entsteht eine enorme Dynamik bei den Anti­körper-Tests, sodass jetzt tatsächlich breite Feldtests zur Bestimmung der Durchseuchung und bereits Genesenen starten sollen, wobei hier ebenfalls der Teststatistik und -güte eine enorme prognostische Bedeutung zukommt. Antikörpertests wären übrigens der Einstieg in ein „Freitesten“ – entsprechende Personen könnten von Restriktionen aus­genommen werden. |

Autor

Apotheker Dr. Reinhard Herzog 
72076 Tübingen
 

Hinweis: Der Autor stellt Ihnen gerne eine Excel-Datei zu Simulationen der Ausbreitung einer Infektion kostenfrei und unverbindlich zur Verfügung – E-Mail genügt! Hier finden Sie einen Infektions-Simulator online: https://neherlab.org/covid19

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