Thesenpapier

Für ein besseres Handeln

Interdisziplinäres Expertenteam veröffentlicht Thesenpapier zur Corona-Pandemie

Fünf Experten des Gesundheitswesens, unter ihnen der Pharmazeut und Pharmakoepidemiologe Prof. Gerd ­Glaeske von der Universität Bremen, sind mit den Maßnahmen der Politik, die Pandemie-Krise in den Griff zu bekommen, nicht zufrieden. Sie haben ein „Thesen­papier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19“ mit der Überschrift „Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren“ erarbeitet. Das Papier soll keine Kritik an den handelnden Personen üben, sondern ist als konstruktiver Beitrag gedacht, die Entscheidungen der kommenden Wochen zu unterstützen. Im Rahmen seines „Corona-Tagebuches“, einem ­Podcast-Format auf DAZ.online, fragt DAZ-Herausgeber Peter Ditzel derzeit jede Woche Apothekerinnen und Apotheker, Kammern und Verbände sowie Fachleute nach aktuellen Problemen und Themen, die die Apo­theken in der Corona-Krise belasten. In der vergangenen Woche telefonierte Ditzel mit Gerd Glaeske und sprach mit ihm über das Thesenpapier, das wir an dieser Stelle zusammenfassen möchten.

Glaeske, der von 2003 bis 2010 auch Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im ­Gesundheitswesen war, hat zusammen mit fünf weiteren Experten des Gesundheitswesens (s. Kasten „die Autoren des Thesenpapiers“) ein aktuelles ­Thesenpapier verfasst. Das Werk stellt sich der Aufgabe, die epidemiologische Problemlage wissenschaftlich zu klären und aus der gegebenen Situation Empfehlungen für wirksame Präventionsmaßnahmen abzuleiten.

Die Autoren des Thesenpapiers

Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit

Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin

Dr. med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Hamburg/Bremen

Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin

Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds

Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit

Im Podcast mit DAZ-Herausgeber Peter Ditzel hinterfragt Glaeske beispielsweise, ob die Grenzen, die bei den Schließungen von Läden und Geschäften gezogen wurden, begründbar sind. Nach Auffassung von Glaeske ist es völlig richtig, dass Apotheken zur Arzneimittelversorgung der Bevölkerung geöffnet sind. Aber er kann nicht verstehen, ­warum Buchhandlungen geschlossen sind: „Möglicherweise sind Buchhandlungen gute ‚Arzneimittel‘ für den Kopf und den Geist.“

Gab es wirklich keine Alternative zu den ­drastischen Einschränkungen?

Glaeske sieht im Interview die Aussage der Politik, man habe zu den drastischen Einschränkungen keine Alternative gehabt, sehr ­kritisch. So habe die Politik Maßnahmen beschlossen, ohne eine ausreichende Datenbasis zu haben. „Es war ein Trial-and-Error-Versuch. Es wurden aufgrund von Aussagen der Virologen Entscheidungen getroffen, man hat aber die Ansichten der anderen Berufsgruppen wie Epidemiologen, Intensivmediziner, Pflegeberufe, Psychologen, Gesundheitsökonomen und Kommunikationsfachleute außen vor gelassen“, so Glaeske.

Es hätte ein breiterer Konsens mit denjenigen in der Gesellschaft gefunden werden müssen, die für unterschiedliche thematische Schwerpunkte zuständig sind. Glaeske: „Eine sehr eingeschränkte Expertokratie hat letztendlich im Rahmen der Demokratie für ganz bestimmte Entscheidungen die Vorlage geliefert – das kann ich mit demokratischem Verständnis nur schlecht in Verbindung bringen.“

Gutes Zeugnis für die Apotheken

Glaeske weist auch explizit auf Versäumnisse der Politik hin. Nach den letzten Epidemien der Vogel- und Schweine­grippe hatte man sich darauf verständigt, vorbeugende Maßnahmen durchzuführen, zum Beispiel Masken und Schutzkleidung einzulagern. Aber da sei dann doch relativ wenig organisiert worden. Glaeske zitiert Prof. Alexander S. ­Kekulè, einer der zurzeit gefragten Virologen, der dazu meinte: „Wir haben die Vorbereitungen vergeigt.“

Zu den Apotheken merkt Glaeske an, dass Apothekerinnen und Apotheker auch dafür verantwortlich seien, dass keine unseriösen Produkte verkauft werden. Es gebe derzeit einige Trittbrettfahrer, die versuchten, ihre fragwürdigen ­Produkte in den Markt zu drücken und sie damit zu bewerben, sie könnten Viren bekämpfen – hier komme den Apotheken eine besondere Aufgabe zu, darüber aufzuklären: „Ich glaube, dass Apothekerinnen und Apotheker sehr gute Gesundheitsberater sein können und auch sind.“

Insgesamt stellt Glaeske den Apotheken ein sehr gutes Zeugnis aus, „sie machen einen guten Job in der Krise“, in der Ausstattung mit Schutzvorkehrungen in den Apotheken, aber auch in der Kommunikation mit den Kunden: „Die Kommunikation wird auch genutzt, ihre Kompetenz zu zeigen, und das finde ich einen sehr guten Weg, ich glaube, dass das eine sehr wichtige Unterstützung für die Bevölkerung in Deutschland darstellt.“

Nachfolgend veröffentlichen wir eine Zusammenfassung des Thesenpapiers:

Die Autoren [...] verbinden hiermit keine Kritik an den handelnden Personen, die in den zurückliegenden Wochen unter den Bedingungen einer – die Steigerung sei erlaubt – „noch unvollständigeren Information“ entscheiden mussten als dies heute der Fall ist. In jeder Beziehung sind die Ausführungen dieses Thesen­papiers als konstruktive Beiträge gedacht, die den Zweck verfolgen, die Entscheidungen der kommenden Wochen zu unterstützen.

Die Bedrohung durch SARS-CoV-2/Covid-19 macht ein Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft notwendig. Eine sinnvolle Beratung der politischen Entscheidungs­träger muss mehrere wissenschaftliche Fachdisziplinen umfassen, wobei die diagnostischen Fächer (hier: Virologie), die klinischen Fächer (hier: Infektiologie, Intensivmedizin) und die Pflege ganz im Vordergrund stehen sollten. Da eine Epidemie jedoch nie allein ein medizinisch-pflegerisches Problem darstellt, sondern immer auf die aktuelle Verfasstheit der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen ist, erscheint zusätzlich eine Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft unverzichtbar. Entscheidend ist hierbei die Einsicht, dass notwendige Verhaltensveränderungen auf Ebene der Bevölkerung und in den Institutionen (denen bei Covid-19 besondere Bedeutung zukommt) nie allein durch eindimensionale Einzelinterventionen (z. B. gesetzliche Vorschriften), sondern nur durch Mehrfach- bzw. Mehrebeneninterventionen erreicht werden können, zu denen eben auch psychologische, soziale, ökonomische und politische Maßnahmen zählen. Im Einzelnen nimmt dieses Thesenpapier zu den drei ­Themenbereichen Epidemiologie, Prävention und gesellschaftspolitische Relevanz Stellung.

Epidemiologie

These 1: Die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten (gemeldete Infektionen, Letalität) sind nicht hinreichend, die Ausbreitung und das Ausbreitungsmuster der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie zu beschreiben, und können daher nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender Entscheidungen dienen.

These 1.1. Die Zahl der gemeldeten Infektionen hat nur eine geringe Aussagekraft, da kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung auf einen zurückliegenden Zeitpunkt verweist und eine hohe Rate nicht getesteter (v. a. asymptomatischer) Infizierter anzunehmen ist.

1. Die Zahl der täglich beim Robert Koch-Institut gemeldeten Fälle wird in hohem Maße durch die Testverfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit beeinflusst.

2. Unter Berücksichtigung dieser anlassbezogenen Teststrategie ist es nicht sinnvoll, von einer sogenannten Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl politische Entscheidungen abhängig zu machen.

3. Die Darstellung in exponentiell ansteigenden Kurven der kumulativen Häufigkeit führt zu einer überzeichneten Wahrnehmung, sie sollte um die Gesamtzahl der asymptomatischen Träger und Genesenen korrigiert werden.

4. Die Zahl der gemeldeten Fälle an Tag X stellt keine Aussage über die Situation an diesem Tag dar, sondern bezieht sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit.

5. Ungefähr zwei Drittel der Infizierten werden zu diesem Zeitpunkt nicht erfasst.

6. Überlegungen zu populationsbezogenen Stichproben (Nationale Kohorte) müssen intensiviert werden.

These 1.2. Die Zahlen zur Sterblichkeit (Case-Fatality-Rate) überschätzen derzeit das Problem und können nicht valide interpretiert werden.

1. Mangelnde Abgrenzung der Grundgesamtheit: Es ist derzeit nicht bekannt, auf wie viel infizierte Personen die Zahl der gestorbenen Patienten zu beziehen ist.

2. Fehlende Berücksichtigung der Attributable Mortality: Es ist nicht klar, inwieweit die beobachtete Letalität tatsächlich auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen und nicht durch die Komorbidität oder den natürlichen Verlauf zu erklären ist.

3. Fehlender Periodenvergleich über mehrere Jahre in gleichen Patientenkollektiven vergleichbarer Morbidität: Es gibt keine Erkenntnisse über die Excess Mortality im Vergleich zu einer Alters-, Komorbiditäts- und Jahreszeit-gematchten Population in den zurückliegenden Jahren.

These 1.3. SARS-CoV-2 kann als nosokomiale Infektion in Krankenhäusern und Pflege- bzw. Betreuungseinrichtungen auf andere Patienten und Mitarbeiter übertragen werden. Dieser Ausbreitungstyp stellt mittlerweile den dominierenden Verbreitungsmodus dar. Der Aufenthalt in Risikogebieten und der individuelle Kontakt wird an Bedeutung abnehmen.

These 1.4. Covid-19 ist durch ein lokales Herdgeschehen (Cluster) mit nicht vorhersehbarem Muster des Auftretens gekennzeichnet. SARS-CoV-2/Covid-19 stellt keine homogene, eine ganze Bevölkerung einheitlich betreffende Epidemie dar, sondern breitet sich inhomogen über lokal begrenzte Cluster (z. B. Heinsberg, Würzburg, Wolfsburg) aus, die in Lokalisierung und Ausdehnung nicht vorhersehbar sind (komplexes System).

Präventionsstrategien

These 2: Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen (z. B. Social Distancing) sind theoretisch schlecht abgesichert, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem paradox (je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer „zweiten Welle“) und sie sind hinsichtlich ihrer Kollateralschäden nicht effizient. Analog zu anderen Epidemien (z. B. HIV) müssen sie daher ergänzt und allmählich ersetzt werden durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen, die sich auf die vier Risikogruppen hohes Alter, Multimorbidität, institutioneller Kontakt und Zugehörigkeit zu einem lokalen Cluster beziehen.

Diese vier Risikofaktoren sind voneinander abhängig: Während betagte Personen ohne Multimorbidität kaum ein erhöhtes Risiko haben, steigt ihr Risiko mit zunehmender Multimorbidität rapide an, erhöht sich weiter bei Kontakt zu Krankenversorgungs- und/oder Pflegeeinrichtungen und „explodiert“ geradezu bei Auftreten spontan entstehender lokaler Herde. Für die Fortentwicklung der Präventionsstrategien sind u. a. folgende Empfehlungen zu geben:

  • Ergänzung der allgemeinen Präventionsmaßnahmen (Eindämmung, Containment) durch spezifische Präventionskonzepte,
  • Entwicklung eines einfachen Risiko-Scores auf der Basis der o. g. vier Risikokonstellationen, das auf Einzelpersonen und Personengruppen anwendbar ist,
  • Trennung der Betreuungs- und Behandlungsprozesse der Infizierten bzw. Nicht-Infizierten im institutionellen Rahmen (Entwicklung von Vorgaben), und
  • zentrale Etablierung einer Hochrisiko-Task-Force, die auf spontan entstehende Herde (Cluster) reagieren kann.

Gesellschaftliche Aspekte

These 3: Entstehung und Bekämpfung einer Pandemie sind in gesellschaftliche Prozesse eingebettet. Die derzeitig angewandte allgemeine Präventionsstrategie (partieller Shutdown) kann anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein, birgt aber die Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere Konflikte zu verstärken. Es besteht weiterhin das Risiko eines Konfliktes mit den normativen und juristischen Grundlagen der Gesellschaft. Demokratische Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden. Die Einbeziehung von Experten aus Wissenschaft und Praxis muss in einer Breite erfolgen, die einer solchen Entwicklung entgegenwirkt.

Obwohl Solidarität und Verbundenheit eingefordert werden, ist davon auszugehen, dass die SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie und die bisherigen allgemeinen Präventionsmaßnahmen auf gesellschaftliche Prozesse einwirken und bestehende Konfliktlinien vertiefen. In erster Linie trifft dies auf die Problematik der sozialen Ungleichheit zu, denn allein die Bevölkerungs-bezogenen Maßnahmen treffen Personen mit niedrigem Einkommen und Selbstständige deutlich stärker als Personen mit größerem finanziellen Spielraum.

In zweiter Linie wird die derzeitige Legitimationskrise des demokratischen Systems verschärft, denn erneut wird die Alternativlosigkeit des exekutiven Handelns dem demokratischen Diskurs gegenübergestellt (z. B. Reduktion der parlamentarischen Kontrolle). Die beiden letztgenannten Punkte werden verstärkt durch – drittens – ökonomische Risiken, die mit dem Fortbestehen und den eventuellen Verschärfungen in der Einschränkung von Freizügigkeit und Berufsausübung verbunden sind. Viertens besteht die Gefahr, dass unter Verweis auf den unaufschiebbaren Handlungsbedarf autoritäre Elemente des Staatsverständnisses aus Ländern mit totalitären Gesellschaftssystemen in das deutsche Staats- und Rechtssystem übernommen werden (z. B. individuelle Handy-Ortung). Es muss klargestellt werden und klargestellt bleiben, dass es keinen Trade-off zwischen der demokratischen Verfasstheit und den Bürgerrechten auf der einen Seite und den Anforderungen der Seuchenbekämpfung auf der anderen Seite geben darf. Insbesondere dürfen die normativen Grundlagen des Rechtsstaates nicht relativiert werden. |

Ditzels Corona-Tagebuch zum Anhören

Foto: Uni Bremen/DAZ

Prof. Gerd Glaeske im Interview mit DAZ-Herausgeber Peter Ditzel (v. l.)

Im Corona-Tagebuch im Podcast-Format spricht DAZ-­Herausgeber Peter Ditzel mit Apothekerinnen und Apothekern, mit Kammern und Verbänden sowie Fachleuten über aktuelle Probleme und Themen, die Apotheken in der Corona-Krise belasten.

Informationen, Kurzinterviews und kleine Meinungs­beiträge werden in unregelmäßigen Abständen als Podcast auf DAZ.online veröffentlicht. An erster Stelle stehen Fragen, wie Apotheken mit der Krise umgehen, wie sie damit fertig werden, welche Sorgen und Nöte sie um­treiben und welche Lösungsmöglichkeiten es gibt.

In der vierten Folge des „Corona-Tagebuches“ tele­fonierte Peter Ditzel mit Prof. Gerd Glaeske, Pharmazeut und Gesundheitswissenschaftler an der Uni Bremen. ­Geben Sie auf DAZ.online in das Suchfeld den Webcode K9RD7 ein und Sie gelangen direkt zum Podcast.

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