Arzneimittel und Therapie

Den Genen die Sprache verschlagen

Arzneistoff Givosiran gegen akute hepatische Porphyrien wirkt durch RNA-Interferenz

Seit 15. April 2020 steht mit Givo­siran (Givlaari®) erstmals eine ­Therapie für Menschen mit akuter hepatischer Porphyrie zur Verfügung. Ausgehend vom Prinzip der RNA-Interferenz soll der seltene angeborene Gendefekt auf Protein­ebene kompensiert werden.

Die akute hepatische Porphyrie (AHP) gehört zu den Porphyrien. Bei diesen Stoffwechselerkrankungen liegt eine genetisch bedingte Synthesestörung des Häm-Anteils im Hämoglobin vor. Auslöser ist ein Gendefekt, der zu einem Mangel an essenziellen Enzymen führt, die für die Häm-Biosynthese in der Leber benötigt werden. In der Folge sammeln sich die neurotoxisch wirkenden Hämoglobin-Zwischenprodukte, sogenannte Porphyrine und Porphyrin-Vorläufer im Körper an (s. Abb. 1). Porphyrine (altgriechisch für Purpurfarbstoff) bestehen aus vier Pyrrol-Ringen, die durch eine Methin-Gruppe zyklisch verbunden sind. Vertreter dieser Klasse finden sich im Chlorophyll oder als Häm im Hämo­globin. Im menschlichen Stoffwechsel sind sie zentraler Bestandteil bei der Bildung von roten Blutkörperchen. Als Abbauprodukt des roten Blutfarbstoffs sind sie verantwortlich für die Färbung von Urin, Stuhl und Galle.

Klinisch äußert sich die akute hepatische Porphyrie in Form von neuroviszeralen Attacken: Besonders häufig klagen Betroffene über heftige kolikartige Bauchschmerzen ungeklärter Ursache sowie starke Schmerzen in Gliedmaßen, Rücken oder Brustkorb. Hinzu kommen oft Übelkeit und ­Erbrechen, Verwirrung, Angst und Krampfanfälle. Mitunter können die Attacken lebensbedrohlich sein, da Lähmungen und Atemstillstände eintreten können. Solche akuten Situationen erfordern eine sofortige ärztliche Notfallbehandlung [1].

Abb. 1: Biosynthese des Häm Bei der akuten hepatischen Porphyrie wird die Häm-Bildung durch einen genetisch bedingten Enzymmangel gestört. Um dem Mangel entgegenzuwirken, antwortet der Organismus mit einer Hochregulierung des Enzyms des vorgeschalteten Syntheseschritts, der Aminolävulinat-Synthase 1 (Δ-ALA-Synthase, siehe oben). So kann zwar der Häm-Bedarf kompensiert werden, die vermehrte Bildung von S-Aminolävulinat und Porphobilinogen verursachen jedoch neuroviszerale Symptome (nach [5]).

Mit einer Prävalenz von 1 : 75.000 kommt die akute hepatische Porphyrie selten vor. Eine Diagnose ist oftmals schwer, da sich die Erkrankung in jedem Alter manifestieren kann. Die meisten Patienten sind zwischen 20 und 45 Jahre alt. Etwa 80% der Fälle treten bei Frauen auf. Givosiran wurde Anfang März 2020 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur als Orphan Drug zugelassen. Basis dafür waren Daten aus der randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie ENVISION. An der Phase-III-­Studie nahmen insgesamt 94 Patienten teil. Als primärer Endpunkt wurde die Verringerung der jährlichen Porphyrie-Attacken im Vergleich zu Placebo definiert. Im Verhältnis 1 : 1 ­wurden 94 Patienten aus 18 Ländern entweder in die Givosiran- oder die Placebo-Gruppe randomisiert. Givo­siran wurde einmal monatlich in einer Dosierung von 2,5 mg pro Kilogramm Körpergewicht subkutan verabreicht. Durch die Seltenheit der Erkrankung ist die Studie trotz der geringen Patientenzahl von 94 eine der größten Interventionsstudien, die bisher durchgeführt wurden. Gegenüber Placebo konnten nach sechs Monaten mit Givosiran die Porphyrie-Attacken um 74% reduziert werden. Die Hälfte der Studienteilnehmer in der Verum-Gruppe blieb während der sechs Monate komplett ohne Attacken. Im Vergleich dazu blieben in der Placebo-Gruppe 16% der Studienteilnehmer während des Untersuchungszeitraums frei von Attacken. Insgesamt berichteten Patienten über weniger Schmerzen und von einer verbesserten Lebensqualität. Bei Patienten, die Givosiran einnahmen, konnten die symptomauslösenden Porphyrin-Vorstufen nachweisbar und konstant reduziert werden. Es traten wenige unerwünschte Arzneimittelwirkungen (z. B. Reaktionen an der Injektionsstelle, Übelkeit oder Abgeschlagenheit) auf [2]. Seit Mitte April ist

Givosiran auch für Patienten in Deutschland erhältlich. Das Arzneimittel wird als subkutane Injektion durch medizinisches Fachpersonal einmal monatlich injiziert. Die Dosierung beträgt 2,5 mg pro Kilogramm Körpergewicht [3].

Abb. 2: Prinzip der RNA-Interferenz Im Zytoplasma hybridisiert die small interfering RNA (siRNA) mit der komplementären messenger-RNA (mRNA). Die so blockierte mRNA kann nicht mehr als Transkript mithilfe der Ribosomen zu den krankheitsauslösenden Proteinen übersetzt werden und wird stattdessen zu Fragmenten abgebaut (nach [6]).

Nobelpreiswürdiges Wirkprinzip

Bei der RNA-Interferenz (RNAi) handelt es sich um einen körpereigenen Prozess, bei dem spezifische Gene gezielt „leiser“ gestellt werden. Für die Entdeckung dieses Wirkprinzips ­erhielten die US-amerikanischen ­Forscher Andrew Z. Fire und Craig C. Mello 2006 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin [4]. RNAi-Therapeutika wie Givosiran sind small interfering RNA (siRNA) oder Antisense-RNA. Dabei handelt es sich um Oligonukleotide von 19 bis 23 Baasenpaaren, die den Prozess der RNA-Interferenz in der Zelle auslösen (s. Abb. 2). Sie binden im Zytoplasma an komplementäre Einzelstränge der messenger-RNA (mRNA), die für krankheitsauslösende Proteine codieren. Der so entstandene RNA-Hybrid wird noch im Zytoplasma abgebaut und kann nicht mehr in den Ribosomen übersetzt werden: die Bildung der Proteine wird verhindert. Zielstruktur von Givosiran ist die mRNA, die für das Enzym Aminolävulinsäure-Synth­ase 1 (ALAS1) codiert. So wird die Produktion der toxischen Stoffwechselzwischenprodukte 5-Aminolävulinsäure (ALA) und Porphobilinogen (PBG) verhindert. 5-Aminolävulin­säure ist verantwortlich für die Manifestation der akuten hepatischen Porphyrie. |
 

Literatur

[1] Porphyrie, akute hepatische. Portal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs. www.orpha.net. Abruf am 4. Mai 2020

[2] RNA-Interferenz-Therapeutikum Givlaari®. Pressemitteilung der Alnylam® Pharmaceuticals vom 15. April 2020

[3] Fachinformation Givlaari®, Alnylam® Pharmeceuticals, Stand: 2. März 2020

[4] Zylka-Menhorn V. Medizin-Nobelpreis würdigt RNA-Interferenz Dtsch Arztebl 2006;103(40):A-2590:B-2246:C-2166

[5] Rassow es al. Duale Reihe Biochemie, Thieme Verlag 2012

[6] Robinson R. RNAi Therapeutics: How Likely, How Soon? PLoS Biology 2004 doi:10.1371/journal.pbio.0020028

Apothekerin Dorothée Malonga Makosi, MPH

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