Arzneimittel und Therapie

Formuladiäten für Säuglinge in der Kritik

Pädiater befürchten leichtfertige Diagnosen von Kuhmilchallergien

Magen-Darm-Beschwerden und Hautausschläge sind bei Säuglingen und Kleinkindern häufig. In den letzten Jahren werden diese Symptome zunehmend der Kuh­milch­allergie (KMA) zugeschrieben. Eine inter­nationale Gruppe von Pädiatern nahm die diagnostischen und therapeutischen Empfehlungen bei Kuhmilchallergie unter die Lupe. Demnach sind viele diätetische Empfehlungen nicht evidenzbasiert und untergraben bei Ärzten und Eltern das Vertrauen ins Stillen.
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Den steigenden Verkaufszahlen von Formuladiät-Produkten könnte eine leichtfertige Diagnosestellung der Kuhmilchallergie bei Säuglingen zugrunde liegen.

In angelsächsischen Ländern sind seit der Jahrtausendwende die Verschreibungen über extensiv hydrolysierte Formulanahrungen (eHF) und Aminosäuren-Formula (AAF) massiv angestiegen. In verschiedenen Untersuchungen derselben Zeiträume konnte kein Anstieg der allergischen ­Sensibilisierungsraten gegen Kuhmilchprotein festgestellt werden. Der zunehmende Gebrauch spezialisierter Formulanahrungen sei ein Beispiel für eine „kommerziell getriebene Überdiagnose“, die Ärzte und Eltern zu unnötigen Ausschlussdiäten bei Allgemeinsymptomen ohne allergische Ursache verleite, schreiben die Autoren der Studie in JAMA Pedeatrics. Um die These zu belegen, untersuchten sie neun KMA-Leitlinien, die weltweit zwischen 2012 und 2019 publiziert wurden. Die meisten – auch jene der European Society for Paediatric Gastroenterology Hepatology and Nutrition (ESPGHAN 2012) – empfehlen, eine Kuhmilchallergie schon bei leichten gastrointestinalen Symptomen in Betracht zu ziehen. Darüber hinaus wird empfohlen, bei KMA-Verdacht der Mutter eine strikte Kuhmilchabstinenz anzuraten, sofern sie ihr Kind stillt. Aktuelle Reviews fanden nur eine spärliche Evidenz für den Nutzen Kuhmilch-freier Ernährungsweisen von Mutter und/oder Kind bei Symptomen wie Koliken und Ekzemen. Die Chance, dass gestillte Babys relevante Mengen an Allergenen aufnehmen, wenn die Mutter Milch­produkte zu sich nimmt, beziffern die Autoren mit 1%. Nur drei von 174 untersuchten Frauen hatten in der Brustmilch Konzentrationen des Allergens ß-Lactoglobulin, die eine allergische Reaktion bei hochsensibilisierten Kindern mit Kuhmilchallergie auslösen könnten. Aber 81% der Autoren der analysierten Leitlinien hätten Interessenkonflikte mit Herstellern von Formulanahrungen angegeben. Drei der Guidelines seien mit Unterstützung der Industrie erstellt worden.

Die Folgen der verbreiteten Über­diagnose sehen die Pädiater in Über- und Fehlbehandlungen, in hohen Kosten, der Ausbildung von Nahrungs­mittel­aversionen, vor allem aber in einer Abnahme der Stillquote und Stillbereitschaft mit allen gesundheitlichen Konsequenzen für das Kind.

Kuhmilchallergie oder Bauchweh?

Die häufigste Form der Kuhmilchallergie (KMA) ist die vom Soforttyp, bei der innerhalb von zwei Stunden nach Aufnahme des Allergens Übelkeit, Erbrechen, Urtikaria, Erytheme, Lethargie und Atemnot auftreten können. Die zeitnahe, reproduzierbare IgE-vermittelte Reaktion nach erstmaliger Fütterung mit Kuhmilchnahrung macht die Diagnose relativ einfach. Schwieriger wird es bei den selteneren verzögerten Reaktionen, die bis zu 48 Stunden nach erstmaliger Allergenexposition oder noch später auftreten. Die eher diffusen und variablen nicht-IgE-vermittelten Allergiesymptome überlappen mit häufigen Allgemeinsymptomen aller Kinder wie Bauchschmerzen, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Weinen oder Hautausschlag. Validierte diagnostische Tests fehlen, das Bild ist anfällig für Fehldiagnosen. Solche wenig spezifischen Symptome berichten Eltern bei 15 – 20% der Kleinkinder, aber nur 1% hat eine durch Provoka­tionstest bestätigte KMA.

Fazit

Kinder mit bestätigter Kuhmilchallergie müssen entsprechende Produkte meiden, aber nicht ihre stillenden Mütter. 99% der allergischen Kinder tolerieren Brustmilch von Müttern, die Kuhmilch trinken. In gültigen Leitlinien wird zu einer Überdiagnose der Allergie verleitet, und diätetische Maßnahmen werden mit spärlicher Evidenz empfohlen. Dadurch wird die sinnvolle Empfehlung zum Stillen untergraben. Bei einem Großteil der Leitlinienautoren bestehen Interessenkonflikte. |
 

Literatur
Munblit D et al. Assessment of Evidence About Common Infant Symptoms and Cow’s Milk Allergy. JAMA Pediatrics | Special Communication Published online April 13, 2020. doi:10.1001/jamapediatrics.2020.0153

Apotheker Ralf Schlenger

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