DAZ aktuell

„Internationale Lieferketten halten auch unter Stress“

Pharmaunternehmen für mehr Globalisierung

mp | Mit der EU-Ratspräsidentschaft verfolgt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) das Ziel, die generische Wirkstoffproduktion in Europa wieder anzu­kurbeln. Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) kritisiert das Bestreben nach weniger Globalisierung.

Am 1. Juli 2020 übernahm Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Als gesundheitspolitische Ziele definiert Gesundheitsminister Jens Spahn, dass neben der Liefersicherheit für die gesamte EU die Wirkstoffproduktion wieder vermehrt in Europa stattfinden soll. Ein Motto der EU-Ratspräsidentschaft soll „European Health Souverenity“, also mehr Souveränität im Europäischen Gesundheitswesen lauten; weniger Abhängigkeit und dafür mehr eigene Stärke. Dazu äußerte sich Spahn im Interview mit der Südwest Presse: „Die Krise zeigt, dass unsere zu große Abhängigkeit von China nicht gut ist. Das betrifft nicht nur Masken oder Medizin.“

Foto: BMS/Carolin Jacklin

Han Steutel ist Geschäftsführer der Bristol-Myers Squibb GmbH & Co. KGaA und seit 2016 Vorstands­vorsitzender sowie seit 2019 Hauptgeschäftsführer des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa).

Der Verband forschender Arznei­mittelhersteller (vfa), die wirtschaft­liche Interessensvertretung von 45 Pharmaunternehmen in Deutschland, tritt diesem Ziel skeptisch entgegen. „Wir verteidigen beherzt die Globalisierung“, betont ein Pressesprecher gegenüber der DAZ. In einem Gast­beitrag „Warum das Gerede vom Ende der Globalisierung ungesund ist“ für die Wirtschaftswoche vom 11. Juni 2020 kritisiert vfa-Hauptgeschäfts­führer Han Steutel die Bestrebung, bereits ausgelagerte, globale Produk­tionsstandorte zurückzuholen: „Auch in der Corona-Krise ist die Zahl der Lieferengpässe trotz erhöhter Nach­frage nicht übermäßig stark gestiegen. Daraus kann man für die weitaus überwiegende Zahl von Medikamenten schließen, dass internationale Lieferketten auch unter Stress halten.“

Apotheker und andere Beteiligte des Gesundheitssystems schätzen die ­Lage anders ein. Im April und Mai 2020 hatten sich vermehrt Klinik­apotheker darauf eingestellt, Arzneimittel für intensivmedizinische COVID-19-Patienten selbst herstellen zu müssen. „Wenn es die zweite Welle gibt, werden wir mit unseren Vorräten ganz schnell ins Minus laufen“, warnte der Chef-Apotheker des Universitäts­klinikums Hamburg-Eppendorf gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.

Pharmaunternehmen profitieren von intensiven Handelsbeziehungen mit den beiden größten Märkten der Welt. Nach Angaben des vfa betrug der Wert an Arzneimittelexporten aus Deutschland nach China und Indien 2019 rund vier Milliarden Euro, während aus diesen Ländern Arzneimittel im Wert von nur zwei Milliarden Euro importiert wurden. Aus Deutschland und anderen europäischen Ländern werden vor allem patentgeschützte Arzneimittel an das Ausland verkauft, während aus Indien und China vor allem Generika importiert werden. Wie ein Pressesprecher des vfa der DAZ mitteilte, plädiert die Interessensvertretung der pharmazeutischen Hersteller dafür, dass vorhandene Strukturen weiter ausgebaut werden sollen, anstatt eine „bereits verlorene Produktion zurückzuholen“.

Politik setzt Lieferengpässe auf die Agenda

Die Bundesregierung wird wahrscheinlich noch diese Legislatur­periode bewirken, dass die Arzneimittelproduktion im Lokalen gefördert wird. Aus einer Koalitionsver­einbarung vom 3. Juni 2020 geht der ­Beschluss hervor, dass „ein Programm zur Förderung der flexiblen und im Falle einer Epidemie skalierbaren inländischen Produktion wichtiger Arzneimittel und Medizinprodukte“ mit einer Milliarde Euro ge­fördert werden soll.

Auch der Jour fixe zu Liefereng­pässen, neuerdings offizieller Beirat des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, diskutiert, wie Anreize für die Rückholung der Wirkstoffproduktion geschaffen werden und Dialoge mit relevanten Akteuren gelingen können.

Bei einer informellen Tagung der EU-Gesundheitsministerinnen und -minister am 16. Juli 2020 betonte Spahn seine Arzneimittelstrategie auf europäischer Ebene: „Es soll definiert werden, welche Arzneimittel auch wieder in Europa produziert werden müssen. Aber auch das gehört zur Wahrheit: Wir werden nicht alle Wirkstoffe in Europa produzieren können und müssen. Wir müssen diejenigen identifizieren, die in der Intensiv­medizin besonders kritisch sind.“ |

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