DAZ aktuell

Apotheker und Kassen können sich dem gesetzlichen Auftrag nicht entziehen

Apothekerverband Westfalen-Lippe verhandelt Modellvorhaben zur Grippeschutzimpfung

mp | Wie der Apothekerverband Westfalen-Lippe e. V. (AVWL) auf Nachfrage der Westdeutschen All­gemeinen Zeitung erklärte, soll neben Nordrhein auch in der anderen Hälfte des bevölkerungsreichsten Bundeslandes bereits im Herbst 2020 in der Offizin geimpft werden. Thomas Rochell ist Inhaber von drei Apotheken in Beverungen und Brakel. Seit Jahren verhandelt er für den AVWL mit Krankenkassen. Aktuell führt er die Gespräche zu Modellvorhaben für die Grippeschutzimpfung. Mit der DAZ und ihren Lesern teilt er seine Einschätzungen zum Impfen und Erfahrungen mit Krankenkassen.
Foto: Apothekerverband Westfalen-Lippe

Thomas Rochell

DAZ: Sehr geehrter Herr Rochell, Sie sind der Fachmann für Grippeschutzimpfungen in Westfalen-Lippe?

Rochell: Ich bin niedergelassener Apotheker, seit 17 Jahren im Vorstand des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe und auf ehrenamtlicher Ebene für die Verhandlungen mit Krankenkassen verantwortlich. Ich kümmere mich um alle Themen der Lieferverträge, seien es Arznei- oder Hilfsmittel.

DAZ: Wie weit sind die Verhandlungen zur Grippeschutzimpfung in West­falen-Lippe vorangeschritten?

Rochell: Wir hoffen, die Verhand­lungen in Kürze finalisieren zu können, was natürlich nicht allein von uns abhängt. Unser Konzept zur Durchführung der Impfungen steht ebenso wie die Organisation „drum­herum“. Schließlich hat die AOK Nordwest entsprechende Vertragsentwürfe von uns erhalten. Bevor die Verträge unterzeichnet werden können, müssen allerdings Stellungnahmen des Robert Koch-Institutes sowie des Paul-Ehrlich-Institutes eingeholt werden. Neben der AOK Nordwest stehen wir noch mit anderen Krankenkassen in Kontakt. Diese haben uns durchweg signalisiert, dass sie an einem Abschluss interessiert sind, was uns natürlich freut.

DAZ: Also werden in Zukunft mehrere Verträge mit verschiedenen Krankenkassen bestehen?

Rochell: Ja, diese Möglichkeiten hat der Gesetzgeber explizit geschaffen. Bei diesen Modellvorhaben geht es darum, die Impfquote zu erhöhen. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde ein Brennglas auf das Thema Impfen gehalten. In unserer Region sind nur 50% der Patienten, für die die Ständige Impfkommission eine Grippeschutzimpfung empfiehlt, gegen Influenza geimpft. Niemand möchte, dass eine mögliche zweite Corona-Welle im Herbst mit einer schweren Grippe-Welle zusammentrifft. Also müssen wir etwas tun. Unsere Türen stehen den Kassen offen und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese sich einem so wichtigen Vorhaben verweigern werden, zumal die Politik, allen voran der Bundesgesundheitsminister, ihre Erwartungshaltung deutlich zum Ausdruck gebracht hat.

DAZ: Möchten die Apotheker in Westfalen-Lippe wirklich impfen?

Rochell: Im Verband gehen viele interessierte Nachfragen ein. Die Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass dem anfänglichen Interesse eine hohe spätere Beteiligung unter den Apo­thekern folgt. Im Rahmen einer DAZ.online-Umfrage haben zwei Drittel der Befragten ihr Interesse am Grippeschutzimpfen geäußert. Das deckt sich mit dem Ergebnis aus der Online-Versammlung unserer Apothekerkammer, in der sich im Juni 71% der Apotheker für und nur 10% gegen die Grippeschutzimpfung in der Apotheke ausgesprochen haben. Aber am Ende werden nicht 71% der Apotheker bei den Pilotprojekten teilnehmen können. Dies hängt maßgeblich davon ab, ob die betreffende Apotheke in einer Modellregion liegen wird oder nicht. Zudem müssen Teilnehmer eine Fortbildung absolviert haben und geeignete Räumlichkeiten bereitstellen können. Letztendlich wird die Beteiligung unter den Apothekern auch von der Vergütung abhängen.

DAZ: In welchen Regionen und wie viele Apotheken werden bei den Modellprojekten mitmachen?

Rochell: Wir selber würden Westfalen-Lippe gern in seiner Gesamtheit als Region betrachten. Westfalen-Lippe ist hinsichtlich der Verteilung von städtischen und ländlichen Gebieten, der Einwohner-, Ärzte- und Apothekenzahl eine im besten Sinne durchschnittliche Region. Da der Gesetz­geber vorschreibt, dass die Modell­vorhaben wissenschaftlich zu begleiten und auszuwerten sind, ist es in jedem Fall zielführend, eine statistisch möglichst große Stichprobe zu haben. Für große Krankenkassen wie die AOK Nordwest würde ein solches Verständnis vom Modellvorhaben einerseits einen großen Erkenntnis­gewinn ermöglichen. Andererseits würde den Versicherten ein echter Mehrwert geboten werden, erst recht mit Blick auf die Gefährdungslage durch das SARS-CoV-2-Virus. Wie viele Apotheken in Westfalen-Lippe dann einem solchen Vertrag letztlich beitreten, lässt sich hier und heute noch nicht sagen. Es gibt etwas mehr als 1800 Betriebsstätten. Wir würden uns freuen, wenn am Ende 700 bis 800 Apotheken teilnehmen könnten. Lassen sich die Krankenkassen hingegen eher auf kleine Regionen ein, wird die Zahl der teilnehmenden Apotheken deutlich geringer sein ‒ und damit auch der Aus­sagegehalt der statistischen Daten.

DAZ: Denken Sie, Patienten und Apotheker in der Stadt profitieren von den Projekten mehr als auf dem Land?

Rochell: Das niederschwellige Angebot durch Apotheken wird überall hilfreich sein. Es gibt in städtischen wie auch in ländlichen Gegenden Situationen, in denen die Sprechzeiten der Ärzte nicht von allen Patienten wahrgenommen werden können. Die gilt erst recht unter dem Aspekt der Corona-Pandemie. Wir alle haben im März und April miterlebt, wie die Patienten die Wartezimmer gemieden haben. Viele Ärzte mussten ihren Betrieb mehr oder weniger einstellen. Durch diese Einschränkungen haben viele Impfungen überhaupt nicht stattgefunden. Stellen Sie sich vor, im Herbst bahnt sich eine erneute Welle an. Dann werden sich viele Patienten nicht dem erhöhten Infektionsrisiko in der Praxis aussetzen wollen und für eine Impfung lieber in die Apo­theke gehen.

DAZ: Wie viel sollten Apotheker für die Impfung erhalten, damit es sich lohnt? Reichen die 12,61 Euro aus, die in Nordrhein vereinbart wurden?

Rochell: Rein wirtschaftlich gesehen reicht dieser Betrag nicht aus. Aus Gutachten wissen wir, dass eine Grippeschutzimpfung in der Apotheke mit 20 bis 25 Euro vergütet werden muss, damit die Kosten gedeckt werden. Wir halten uns an den Richtwert der ABDA und des DAV, dass pro Minute Arbeitsaufwand rund 1 Euro Honorar zu veranschlagen ist. Eine einzelne Impfung dauert mit allem Drum und Dran etwas mehr als 20 Minuten. Im Rahmen der ganzen Vergütungsdebatte muss berücksichtigt werden, dass es sich um ein Modellvorhaben handelt. Mit ihm soll der Einstieg in eine neue Art der Versorgung etabliert werden – da kann ich nicht beanspruchen, dass sich das vom ersten Tag an sofort lohnen soll. Die Dienstleistung darf aber auch nicht unter ihrem Wert verkauft werden.

DAZ: Ist die Honorierung für die Grippeschutzimpfung in der Apotheke mit der beim Arzt vergleichbar?

Rochell: Wenn Krankenkassen sagen, die Impfung solle wie beim Arzt 8 Euro kosten, vergleichen sie Äpfel mit Birnen. Die Vergütungssysteme der Ärzte und Apotheker unterscheiden sich stark. Dass die Ärzte nur 8 Euro pro Impfung erhalten, ist allenfalls ein Viertel der Wahrheit, da Patienten selten nur für die Impfung in die Praxis kommen. Tun sie es doch, wird zudem eine Quartalsgebühr abgerechnet, zumindest teilweise. Impft der Arzt nicht persönlich, sondern lässt dies seine Medizinisch-technische Assistentin machen, stellt sich die Vergütung schon wieder anders dar. Außerdem muss der Apotheker, anders als der Arzt, zunächst einmal investieren, um impfen zu können.

DAZ: Sorgen Sie sich um den Konflikt mit der Ärzteschaft?

Rochell: Nein, jedenfalls dann nicht, wenn die Sache rational diskutiert wird. In einer Vielzahl von Ländern wird zum Teil schon seit Jahrzehnten in der Apotheke gegen Influenza geimpft. Evaluationen aus diesen Ländern zeigen, dass der Ärzteschaft ­keine Patienten verloren gehen, sondern dass durch das niederschwellige Angebot in der Apotheke nur weitere Impfwillige hinzugewonnen werden. Für die Volkswirtschaft ist es von größter Bedeutung, die Impfquote zu erhöhen. Den Ärzten ist dies in der Vergangenheit nicht gelungen. Wir haben offen mit der Ärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung gesprochen. Dort sieht man auch, dass mit § 132j SGB V ein klarer gesetzlicher Auftrag erteilt wurde, dem sich die Apothekerschaft nicht entziehen kann. Insgesamt ist mir bewusst, dass die Ärzteschaft das nicht mit Jubel aufnimmt. Trotzdem vertraue ich darauf, dass das Verhältnis der Heilberufe so gefestigt ist, dass es nicht zu Verwerfungen kommen wird. Mit Blick auf das Große und Ganze wäre das nicht angemessen.

DAZ: Ist die Grippeschutzimpfung für Sie eine pharmazeutische Dienst­leistung?

Rochell: Nein, das kann man so nicht sagen. Pharmazeutische Dienstleistungen, wie sie durch das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG) eingeführt werden sollen, sind von dieser modellhaften Ausweitung des Impfens auf Apotheken zu unterscheiden. Das Impfen ist eine Leistung, die wir in Erfüllung des gesetzgeberischen Auftrags aus § 132j SGB V durchführen. Sollte diese Leistung anschließend verstetigt werden, fußt die Ermächtigung hierzu letztlich auf dem Infektionsschutzgesetz, das dem sogenannten Gefahrenabwehrrecht zuzuordnen ist. Verhütung, Bekämpfung und Kontrolle übertragbarer Krankheiten sind öffentliche Aufgaben. Pharmazeutische Dienstleistungen sind demgegenüber individuelle, aus einem konkreten Anlass auf einen einzelnen Patienten bezogene Maßnahmen. Vor diesem Hintergrund ist im Übrigen auch keineswegs klar, ob es sich bei der Impfung um eine heilkundliche Tätigkeit im Sinne des Heilpraktikergesetzes handelt.

DAZ: Sehr geehrter Herr Rochell, vielen Dank für das Gespräch. |

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