Arzneimittel und Therapie

„Je niedriger – desto besser!“

Ein Gastkommentar zu LDL-Cholesterol-Zielwerten

Prof. Dr. Dietmar Trenk

Nur drei Jahre nach der Veröffentlichung der Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Dyslipidämien hat die European Society of Cardiology (ESC) zusammen mit der European Atherosclerosis Society (EAS) die Empfehlungen zur Lipidsenkung überarbeitet (s. DAZ 2019, Nr. 42, S. 18) [1]. Die Zielwerte für LDL-Cholesterol (LDL-C) für Patienten in den Risikokategorien „sehr hoch“, „hoch“ und „moderat“ wurden in den aktuellen Leitlinien deutlich abgesenkt. Beispielsweise werden bei Patient­en mit sehr hohem Risiko ein LDL-C-Wert von < 55 mg/dl und eine Absenkung um 50% empfohlen.

Diskussionen um Zielwerte

Die Evidenz für diese Zielwerte wird zum Teil kontrovers diskutiert. Zentraler Kritikpunkt ist, dass es keine Studie gibt, die prospektiv randomisiert explizit den Nutzen der LDL-C-Senkung in die genannten Zielbereiche untersucht hat. Nur in der Sekundärprävention, insbesondere nach akutem Koro­narsyndrom, gibt es klinische Studien mit direkter Evidenz für einen zusätzlichen Nutzen der Chole­sterol-Senkung auch für LDL‑C-Werte deutlich unter 70 mg/dl [2 – 4]. Deshalb geben die Leitlinien nur bei diesen Patienten die höchste Empfehlungs­stufe (Empfehlungsgrad I – Evidenzgrad A) für den Zielwert < 55 mg/dl. In der Fourier-Studie beispielsweise konnte gezeigt werden, dass die Assoziation zwischen den erreichten LDL-C-Werten und der verminderten Häufigkeit kardiovaskulärer Ereig­nisse bis in den Bereich von unter 20 mg/dl LDL-C nachweisbar ist [2]. Das Phänomen einer „J-Kurve“ wie bei der Blutdrucksenkung, d. h. einer erneuten Risikozunahme bei sehr niedrigen Werten, wurde dabei nicht beobachtet. In die Fourier-Studie konnten auch Patienten mit nicht hämorrhagischem Schlaganfall eingeschlossen werden, in den anderen beiden großen Studien, Improve-IT und Odyssey Outcome, hingegen nicht.

In der Treat-Stroke-to-Target-Studie wurde jetzt der Nutzen einer LDL‑C-­Senkung in zwei verschiedene Zielbereiche bei Patienten nach ischämischem Schlaganfall oder einer transienten ischämischen Attacke (TIA) vergleichend untersucht [5]. Bereits im Jahr 2006 hat die Sparcl-Studie bei Patienten mit erhöhten LDL–C-Werten nach Schlaganfall oder TIA gezeigt, dass durch die Behandlung mit 80 mg Atorva­statin über fünf Jahre 2,2% weniger Schlaganfälle und 3,5% weniger schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse als in der Placebo-Gruppe aufgetreten sind [6]. In einer explo­rativen Subgruppenanalyse wurde festgestellt, dass der Nutzen bei Patienten, die unter Atorvastatin einen LDL-C-Wert unter 70 mg/dl erreichten, stärker war als bei den Patienten mit LDL‑C-Werten im Bereich von 70 bis 100 mg/dl [7]. Die Treat-Stroke-to-Target-Studie bestätigt jetzt diese Ergebnisse und damit das Konzept „Je niedriger – desto besser“.

Evidenz für Primärprävention schwächer

Die neuen ESC-Leitlinien erweitern die Definition der Kohorte mit sehr hohem Risiko (z. B. um Patienten mit in bildgebenden Verfahren doku­mentierter atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung, Patienten mit Diabetes mellitus mit Endorganschäden, Patienten mit schwerer chronischer Niereninsuffizienz, Personen mit einem SCORE-Wert von 10% oder höher). Die so definierte Höchstrisiko-Kohorte umfasst damit Patienten sowohl in der Sekundär- als auch in der Primärprävention. In der Primärprävention besteht für den Nutzen von LDL-C-Werten unter 70 mg/dl aber nur indirekte Evidenz aus den Metaanalysen der Cholesterol Treatment Trialists Collaboration [8]. Diese haben eine lineare Beziehung zwischen der Senkung des LDL-Cholesterols und der Risikoreduktion gezeigt – entsprechend dem Konzept „The lower – the better“. Die Evidenz für die Primärprävention ist also schwächer als die für die Sekundärprävention, was in den neuen Leitlinien berücksichtigt ist (Empfehlungsstufe IC bzw. IIaC). Für praktische Zwecke bedeutet dies, dass in der Primärpräven­tion sehr viel stärker als in der Sekun­därprävention individualisierte Therapieentscheidungen erforderlich sind. |

Literatur

[1] Mach F et al. 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk: The Task Force for the management of dyslipidaemias of the European Society of Cardiology (ESC) and European Atherosclerosis Society (EAS). Eur Heart J 2019;41(1):111–188

[2] Cannon CP et al. Ezetimibe Added to Statin Therapy after Acute Coronary Syndromes. N Engl J Med 2015;372(25):2387-2397

[3] Sabatine MS et al. Evolocumab and Clinical Outcomes in Patients with Cardiovascular Disease. N Engl J Med 2017;376(18):1713-1722

[4] Schwartz GG et al. Alirocumab and Cardiovascular Outcomes after Acute Coronary Syndrome. N Engl J Med 2018;379(22):2097-2107

[5] Amarenco P et al. A Comparison of Two LDL Cholesterol Targets after Ischemic Stroke. N Engl J Med 2019;382(1):9

[6] Amarenco P et al. High-dose atorvastatin after stroke or transient ischemic attack. N Engl J Med 2006;355(6):549-559

[7] Amarenco P et al. Effects of intense low-density lipoprotein cholesterol reduction in patients with stroke or transient ischemic attack: the Stroke Prevention by Aggressive Reduction in Cholesterol Levels (SPARCL) trial. Stroke 2007;38(12):3198-3204

[8] Baigent C et al. Efficacy and safety of more intensive lowering of LDL cholesterol: a meta-analysis of data from 170,000 participants in 26 randomised trials. Lancet 2010;376(9753):1670-1681

Prof. Dr. Dietmar Trenk, 
Leiter der Abteilung Klinische Pharmakologie, 
Universitäts-Herzzentrum Freiburg – Bad Krozingen, 
Institut für Pharmazeutische Wissenschaften, 
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

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