Aus den Ländern

„Eingesperrt“ im längsten Lockdown der Welt

In Buenos Aires in einer Apotheke im Elendsviertel / Eine Projektleiterin von AoG berichtet

Von Carina Vetye | „Das Schicksal wollte, dass du hierbleibst. Und das war gut für die Menschen der Slums“, sagt die Zahnärztin unseres Gesundheitszentrums. Sieben Monate Schwersteinsatz liegen hinter mir. Wie anders war alles, als ich am 5. März 2020 in Buenos Aires ankam. Am Flughafen: Keine Maßnahmen gegen das Coronavirus. Der Taxifahrer hustet als ich einsteige, grinst und sagt entschuldigend: „Keine Sorge! Nur die Klimaanlage – ich habe mich erkältet.“ Wir lassen die Fenster offen – vorsichtshalber.

Als ich von München abflog, war die Welt noch in Ordnung, doch die SARS-CoV-2-Fallzahlen waren am Steigen. Damals hieß es noch, dass Symptom­lose nicht anstecken. Ich bin hergeflogen, um sechs Wochen im Projekt der „Apotheker ohne Grenzen Deutschland e. V.“(AoG) im Gesundheitszentrum Villa Zagala zu arbeiten. Darf ich das, oder muss ich mich isolieren? Mit der Leiterin des Gesundheitszentrums wird entschieden, dass ich arbeite.

Leergefegte Straßen und kaum Personal

Matetrinken mit dem Team und Umarmungen fallen aus. Doch dann ordnet die Regierung an, dass sich alle isolieren müssen, die aus Risikoländern eingereist sind; Deutschland gehörte dazu. Bis zum 19. März muss ich nun doch in Quarantäne. Am 20. März wird der Lockdown ausgerufen, der längste der Welt; er hält bis heute an und wird sicher verlängert. Das öffentliche, lokale Gesundheitssystem ist marode, nur durch „Einsperren“ der Bevölkerung lassen sich Infektionen etwas verlangsamen. Seitdem keine Möglichkeit, sich im Land zu bewegen, keine Inlandsflüge, keine Züge, nicht einmal mit dem eigenen PKW von einem Ort zum anderen. Ausgenommen sind die „esenciales“, also das Gesundheits- und Sicherheitspersonal, doch auch wir dürfen uns nur zwischen zu Hause und der Arbeit bewegen.

Foto: AoG/Vetye

Das AoG-Apothekenteam (v. l.) Dr. Carina Vetye, Judith und Luisa, das die Arzneimittelabgabe stemmt (Einzugsbereich 30.000 Menschen).

Die Straßen sind leergefegt, als ich am ersten Tag des Lockdowns die 6 km zum Gesundheitszentrum laufe. Auf mich kommen enorm viele Probleme zu, weil massenhaft Personal ausfällt. Die AoG-Apotheke wurde 2008 an ein kommunales Slum-Gesundheitszentrum angedockt; im Einzugsgebiet leben ca. 30.000 Menschen. In der nur 14 m² großen Apotheke arbeiten seit zwölf Jahren sechs einheimische Apothekerinnen ehrenamtlich mit, alle zwischen 69 und 83 Jahren alt, also COVID-19-Risikogruppe. Ich muss sie bitten, zu Hause zu bleiben. Sechs Mitarbeiterinnen weniger! Für wie lange? Eine Pandemie im Anmarsch und nur zwei AoG-Teilzeitmitarbeiterinnen ohne pharmazeutisches Wissen – und ich.

„Okay, AoG übernimmt die Arzneimittelabgabe, wir kriegen das hin“, beruhige ich die Direktorin des Gesundheitszentrums. Wenn die Medizinerinnen selbst nach Medikamenten suchen müssen, investieren sie wertvolle Zeit, die sie in einer Pandemie nicht haben. Dem Gesundheitszentrum fehlt Personal an allen Ecken und Enden und zum Health Center kommen immer mehr Menschen auf der Suche nach Hilfe. Von 27% in 2018 ist die Armut auf fast 50% Ende 2020 angestiegen! Vier Millionen haben in den letzten zwölf Monaten ihre Jobs verloren und damit ihre Krankenversicherung. Der Wert des argentinischen Pesos ist in den Keller gerauscht, während die Medikamentenpreise innerhalb von wenigen Jahren um 500% gestiegen sind, weil importierte Wirkstoffe in Devisen bezahlt werden müssen. Immer mehr Menschen sind damit auf die kostenlose Gesundheitsversorgung des Health Centers angewiesen.

Abstandhalten in Elends­vierteln? Aussichtslos!

Wie dieser „COVID-19-Sturmflut“ standhalten? Wir teilen uns die Arbeit auf. Die Direktorin und AoG-Ärztin koordiniert Suche und Ausstattung von Unterbringungsplätzen für COVID-19-Verdächtige und -Positive. Sie lässt Sportvereine umrüsten und im Mai stehen 276 Betten in Isolationszentren zur Verfügung. Nur wenn die Infizierten sich isolieren, können wir im Slum die Infektionszahlen flacher halten. In den Elendsvierteln haben die Menschen keine Möglichkeiten, alleine oder auf Abstand zu sein: Es leben immer mehrere in einem Raum, das Wasser reicht nicht für das häufige Händewaschen, Händedesinfektionsmittel sind unbezahlbar.

Foto: AoG/Vetye

Die Lebensbedingungen der zu versorgenden Patienten Für die Slum­bewohner ist der siebenmonatige Lockdown besonders hart.

Am Eingang des Zentrums wird ein Triage-System eingerichtet: Wer Fieber oder andere Symptome von COVID-19 hat, muss zu einem nahegelegenen Testplatz. Neben dem Eingang wird ein Behandlungszimmer improvisiert, dort werden kritische Fälle in voller „Montur“ untersucht. Alle Arbeitsplätze werden mit einem Schutzglas oder einer Plastikplane als Spuckschutz ausgerüstet. Die Mitarbeiterinnen müssen immer OP-Maske und Visier tragen und auf den Abstand achten – das schule ich wieder und wieder. Überall steht Desinfektionsmittel. Als es Hunderte von Fällen in der Umgebung gibt, tragen die meisten auch Schutzkleidung. In der Apotheke arbeiten wir mit offenen Fenstern und Türen – trotz der kalten Jahreszeit.

Mehr als 40 Testtage werden insgesamt von Juni bis Oktober in den Slums des Distriktes durchgeführt, um aufzuklären und Positive rechtzeitig zu isolieren. Fast 100.000 Menschen werden erfasst! Eine Mordsarbeit und nicht ohne Risiko, doch das Gesundheitsteam macht ohne zu murren mit. Die Slum-Bewohner hatten zuerst Angst, sie wollen ihre Familien nicht verlassen. Wir arbeiten uns im Elendsviertel von Tür zu Tür vorwärts. Immer wieder müssen wir be­ruhigen, aber auch ehrlich aufklären: „Bei dir wird ein Abstrich durchgeführt. Das mag nicht angenehm sein, aber es tut nicht weh. Dann bleibst du zwei Tage in einer Unterkunft, bis das Ergebnis da ist. Es gibt dort Trennwände, du hast dein Bett, bekommst eine Decke und Hygieneartikel, hast deine Ruhe. Es gibt vier Essen pro Tag. Unsere Krankenschwester war da schon, die Plätze sind echt okay! Das ist das Beste, was du für Deine ­Familie machen kannst.“

Foto: AoG/Vetye

Befragungs- und Testteams unterwegs in den engen Durchgängen zwischen den Slumbehausungen.

Lebensmittelpakete, wenn kein Geld mehr da ist

Als die Betten nicht mehr ausreichen, wird umdisponiert: Nur die Positiven mit Risikofaktoren – ältere Personen, die alleine leben, schlecht eingestellte Diabetiker, Menschen mit Herzerkrankungen – kommen in die „Bettenlager“, dort sind sie unter Aufsicht einer Krankenschwester. Alle anderen Positiven bleiben nun doch zu Hause. „Ihr habt Angst, ja? Ihr wollt nicht, dass die Positiven ihre Behausung verlassen? Okay, dann helft ihnen. Wenn sie noch Geld haben, macht ihr die Einkäufe für diese Leute. Wenn kein Geld da ist, meldet ihr uns die Situation. Das wird gecheckt und die Familie bekommt ein Lebensmittelpaket und die nötigen Medikamente.“ Wie oft haben wir diesen Satz wiederholt! Als Familien im Juni bei einer Testaktion flunkern – bei der Befragung behaupten sie, keine Symptome zu haben, obwohl die Vertrauensperson des Viertels mir sagt, dass da jemand infiziert ist –, kann ich schnell reagieren: „Wenn Sie uns anlügen, können wir gleich gehen. Dann hilft das Testangebot nicht. Ihr werdet darunter leiden, wenn die Fallzahlen durch die Decke gehen. Wir sind da, nun müsst ihr Euch der Situation stellen. Ihr macht das nicht für uns. Ihr macht das für euch, euer Viertel, für eure Leute.“

Vom Gesundheitszentrum werden alle Positiven, die zu Hause ausharren, kontrolliert. Per Anruf oder über eine Kontaktperson, die jeden Tag checkt, wie es den Infizierten geht. Ein Berg an zusätzlicher Arbeit, denn der normale Alltag geht ja weiter. Ende September haben wir die erste Welle geschafft.

Arbeit bis zur Erschöpfung

In Villa Zagala kommt nun die zweite Welle, doch es werden keine COVID-19-­Infektionen sein: Ein Armut-Tsunami rollt heran. Die Menschen haben ihre informellen Jobs verloren, haben kein Einkommen mehr, brauchen Zugang zu Essen und Medikamenten. Die AoG-Apotheke hilft, organisiert immer mehr an Arzneimitteln. Die Medikamentenabgabe verdoppelt sich, wir arbeiten zu dritt, bis zur Erschöpfung. Ich arbeite eine weitere Mitarbeiterin ein, organisiere zusätzliche Regale für den kleinen Raum, damit die Medikamente übersichtlich gelagert werden können. Im Oktober endet eine siebenmonatige Arbeit, die vielen Menschen das Leben gerettet hat. Nur durch das Apothekenteam hatten die Patienten Zugang zu ihren Medikamenten, konnten Diabetes, Hundebiss, Bluthochdruck, Lungenentzündung oder Asthma angegangen werden. „Man vergisst die Apothekerinnen, aber ohne euch hätten wir das nicht geschafft!“, dankt mir die Direktorin. Im Dezember bin ich wieder zurück. |

Dr. Carina Vetye, Apothekerin, AoG, Leitung Projekte Argentinien

Apotheker ohne Grenzen Deutschland e. V. (AoG)

... ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in München und gehört zu dem weltweiten Netzwerk von „Pharmaciens sans Frontières“. Seit der Gründung im Jahr 2000 setzt sich Apotheker ohne Grenzen für eine nachhaltige Verbesserung von Gesundheitsstrukturen von Menschen in Entwicklungsländern ein. AoG leistet schnelle und flexible pharmazeutische Nothilfe nach Katastrophen und unterstützt in langfristigen Projekten lokale sowie internationale Partner mit der Beschaffung von lebenswichtigen Medikamenten und pharmazeutischem Know-how.

Mit über 2000 Mitgliedern engagiert sich der Verein in drei nationalen Projekten in Berlin, Mainz und Frankfurt, und die fünfzehn deutschlandweiten Regionalgruppen organisieren mehrmals im Jahr Infoveranstaltungen, Charityevents und Vorträge. AoG schult zudem pharmazeutisches Fachpersonal in den jeweiligen Projektländern und führt im Inland Einsatzkräfteschulungen durch, um deutsche Apotheker und Pharmaziestudenten auf einen ehrenamtlichen Einsatz vorzubereiten.

Spendenkonto:
Apotheker ohne Grenzen Deutschland e. V.
Deutsche Apotheker- und Ärztebank
IBAN: DE88 3006 0601 0005 0775 91
BIC: DAAEDEDDXX

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