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DAZ aktuell
Menschlichkeit rettet die Offizin
Vom Wert personenbezogener Daten in der öffentlichen Apotheke
Während der Online-Handel boomt und Amazon-Gründer Jeff Bezos als der mit Abstand reichste Mensch der Welt gilt, kämpft ein großer Teil des Einzelhandels hilflos um den Verbleib. Dies macht sich auch beim drastischen Ausmaß der deutschlandweiten Schließungen von Vor-Ort-Apotheken bemerkbar. Im Zuge der Corona-Pandemie hat die unaufhaltsame Digitalisierung noch einmal an Tempo zugelegt. Als es plötzlich darauf ankam, aus Solidarität auf Distanz zu gehen, wurde die digitale Vernetzung für eine Mehrheit der Bevölkerung existenziell – sei es für die Arbeit, die sozialen Kontakte oder die Versorgung mit Lebens- und Arzneimitteln.
Die digitale Normalität
Der Erfolg des Online-Handels lässt sich nicht allein durch das Ideal der Bequemlichkeit erklären. Schon vor Jahren erkannten Plattformbetreiber, wie wertvoll personenbezogene Daten sind. Durch die Daten und die Arbeit der Software-Entwickler können Algorithmen Konsumentenbedürfnisse erkennen, bevor sie überhaupt ins Bewusstsein treten.
So errechnen Algorithmen anhand der zuvor angesehenen oder gekauften Produkte eines Online-Shops, welche Produkte ein Kunde am wahrscheinlichsten zu benötigen glaubt. Zudem verknüpfen soziale Medien oder große Suchmaschinen die Aktivitäten auf verschiedenen Verkaufsportalen mit den Profilen seiner Nutzer. Dadurch werden Kaufempfehlungen und Werbeangebote auf jedes Individuum zugeschnitten – man fühlt sich verstanden und befriedigt, das Kauferlebnis auf den Websites der Online-Versender wird von Tag zu Tag angenehmer – nur selten fühlen sich Kunden dabei ertappt oder überlistet.
„Exzellenz in Menschlichkeit“
Bei immer mehr Menschen ist die Lebensrealität eine digitalisierte. Um die Bevölkerung zu erreichen, müssen die Vor-Ort-Apotheken also digital aufrüsten. Das bedeutet aber nicht, dass medizinische Dienstleistungen und der Handel vor Ort zwangsläufig ersetzt werden können. Selbst große Plattformbetreiber kennen den Wert vom stationären Einzelhandel mit einer engen Kundenbindung. Beispielsweise gab Amazon Anfang 2020 bekannt, in Deutschland klassische Geschäfte etablieren zu wollen. Denn in der Digitalisierung ist ironischerweise das, was den Menschen am meisten fehlt, die Menschlichkeit.
Prof. Dr. Gerhard F. Riegl leitet das Institut für Management im Gesundheitsdienst in Augsburg. Seiner Ansicht nach darf der Einzelhandel die Digitalisierung nicht länger als Bedrohung ansehen. Um neben den Plattformbetreibern zu überleben, sollten die stationären Geschäfte mithilfe digitaler Möglichkeiten den zwischenmenschlichen Umgang verbessern. Gegenüber der DAZ betont er, dass insbesondere Apotheken vor Ort nicht länger damit warten dürften, mithilfe der Digitalisierung persönliche Kundendaten zu sammeln. In Wahrheit sei es erst durch technische Hilfsmittel möglich, unter Zeitdruck und bei über 200 Kunden am Tag jedem Besucher der Apotheke mit hervorragender Menschlichkeit zu begegnen. Mithilfe der richtigen Daten könnten die stationären Apotheken die Möglichkeiten des Versandhandels übertrumpfen: „Mit derart datengestützter Humanintelligenz können Präsenzapotheken bei Kunden quasi Gedanken lesen, den Bedarf treffsicher vorhersagen und unschlagbar befriedigen. Dies spart Zeit und bringt Begeisterung ins Beratungsgespräch. Diese ‚Exzellenz in Menschlichkeit‘ kann im Internet allenfalls vorgetäuscht werden.“
Spionage oder Win-Win-Situation?
Riegl ist sich bewusst, dass diese Herangehensweise für den heutigen Apothekenbetrieb ungewöhnlich klingen mag. Gegenüber der DAZ betont er: „Das ist ein sozialer Kultur- und Systemwechsel für die Apotheke. Doch wenn die Apotheken legitime Kundendaten nur als Spionage betrachten, sind sie auf dem falschen Dampfer.“
Für ihn sei die Praxis, Personendaten zu sammeln um sich mithilfe dieser den Menschen zu nähern, Teil der heute gewünschten Kundenpartizipation. Wie das Beispiel Amazon Prime zeige, seien auf Personendaten gestützte Servicevorteile begehrlicher als die üblichen Preisnachlässe oder Bonusprogramme. Kunden seien heute offen, ihre Daten preiszugeben, wenn sie einen Nutzen daraus ziehen könnten. Dieser Nutzen müsse aber spürbar mehr wert sein als ein austauschbarer finanzieller Vorteil.
„Überall werden Profile für personalisierte, einfühlsamere und begeisternde Betreuungen angelegt. Umsatzsteigerungen sind unter diesen Bedingungen ein unvermeidbarer Nebeneffekt und keinerlei Missbrauch. Maximierung von Gewinn um jeden Preis riecht jeder Patient, wodurch jedes Konzept zunichte gemacht wird.“
Humanes Gold in der Offizin halten
Aber wie soll das in der Praxis aussehen? Auch dazu äußert sich Riegl gegenüber der DAZ: „Das Sammeln beginnt mit einer neuen Aufgeschlossenheit für diese Datenschätze in der Apotheke. Solange sich eine Apothekenmitarbeiterin nicht einmal den Namen auf dem Rezept merkt, sind wir noch in der Steinzeit. Schon die gute alte Tante Emma wusste alles Mögliche über ihre Stammkunden. Der Kunde besteht nicht nur aus Patientenakte und Medikationsplan. Während die Apotheken-Kundenkarten primitiv für Bonusabrechnungen genutzt werden, könnten sie so viel über Verhaltensmuster in Echtzeit aussagen.“ Zudem sollten Apotheker mehr nachfragen, zuhören als selbst zu große Reden schwingen.
Bisher blickten Apotheker in erster Linie auf das Rezept. Doch die Versender würden zusätzlich in die Köpfe der Besteller schauen. Das Erfolgsprinzip der Plattformen im Umgang mit Personendaten laute dabei immer „The winner takes it all“. Riegl befürchtet: „Sollten Präsenzapotheken ihre Kundendaten aus der Offizin preisgeben, würden sie zu den Wasserträgern für Apotheken-Plattformen werden.“ |
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