Kongresse

Selbstbehandlung und Switches

BAH-Konferenz zur Arzneimittelversorgung in der EU / Chancen durch Corona-Pandemie ausbauen

Die Selbstbehandlung hat während der Corona-Pandemie einen deut­lichen Schub bekommen, der auch auf die Bedeutung der öffentlichen Apotheken in der Gesundheitsversorgung abfärbt. Hier heißt es nun „dranbleiben“, meinen Branchen­experten, und die Kompetenzen und das Repertoire an OTC-Arzneimitteln noch weiter ausbauen. Das ist aber nicht so einfach, wie bei einer virtuellen internationalen Konferenz des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) zur zukünftigen Arzneimittelversorgung in der Europäischen Union am 1. Dezember 2020 deutlich wurde.

Aus der Corona-Pandemie sind mit einem Mal erheblich größere Chancen für die Selbstbehandlung erwachsen, weil die Patienten die Apotheken durch den niederschwelligen Zugang mehr und mehr als erste Anlaufstelle bei leichteren Gesundheitsbeschwerden genutzt und schätzen gelernt haben. Die Länder hätten das verstanden und ihre Systeme angepasst, sagte der Vorsitzende des Weltverbandes der Selbstmedikationsindustrie (WFPMM) Heiko Schipper bei der BAH-Konferenz. Außerdem seien sie nun auch für digitale Kanäle aufgeschlossener. „Wir haben jetzt eine solide Basis, auf der wir aufbauen können“, so Schippers Überzeugung.

Corona-Pandemie als „einzigartige Chance“

In dieselbe Richtung gingen auch die Ausführungen der Hauptgeschäftsführerin des Europäischen Verbandes der Arzneimittelhersteller (AESGP) Jurate Svarcaite und der Generalsekretärin des Europäischen Apothekerverbandes (PGEU) Ilaria Passarani. Sie hat beobachtet, dass Apotheken in der EU immer stärker als Knotenpunkt für die Gesundheitsversorgung etabliert werden. Eine Umfrage der AESGP aus dem Sommer 2020 belegt laut Svarcaite darüber hinaus ein stark angestiegenes Interesse an der Selbstbehandlung. Für sie ist die Pandemie eine „einzigartige Chance, das Niveau der Selbstversorgung weiter auszubauen und zu fördern“. Dafür braucht es aus Svarcaites Sicht keine rechtlichen Änderungen, wohl aber mehr Anreize im Bereich Switching und die Förderung digitaler Technologien. Außerdem forderte sie, eine intensivere Aufklärung der Bevölkerung über Gesundheits­aspekte. Die Informationen müssten in besseren Formaten „an den Mann und die Frau gebracht werden“, etwa durch E-Broschüren, und zwar verständlich und nicht in komplexer Sprache.

Foto: Julien Eichinger – stock.adobe.com

Es hapert beim Umsetzen der Switch-Guideline der EU. Zu große Verfahrensunterschiede in den Ländern machen Switches schwierig.

Suboptimaler Flickenteppich

Ein essenzieller Baustein für die Selbstbehandlung ist ein breites OTC-Repertoire. Dr. Christa Wirthumer-Hoche, Leiterin des Geschäftsfelds Medizinmarktaufsicht der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) legte dar, woran es in den Switch-Verfahren in Europa hapert. Zwar gebe es die Switch-Guideline der EU schon seit 2006, aber die Mitgliedstaaten wendeten diese unterschiedlich an. Wirthumer-Hoche führt dies auf nationale Markt-Besonderheiten, aber auch auf die divergierenden Erstattungssysteme zurück. In einigen Ländern seien Entlassungen aus der Rezeptpflicht nicht attraktiv, wenn die Patienten die Präparate dann selbst bezahlen müssen. Das Ergebnis ist, wie BAH-Geschäftsführer Wissenschaft Dr. Elmar Kroth es beschreibt, ein „Flickenteppich, der für die Industrie, die Behörden und auch für die Apotheken nicht optimal ist“.

Wo liegen die Hemmschuhe für Switches?

Oliver Freichel, Vizepräsident, Geschäftsentwicklung und Strategie, Sanofi Consumer Health Care, beleuchtete den Sachstand aus Sicht der Pharmaunternehmen. Er hält Switches in Europa für schwierig, weil das Antragsverfahren von Land zu Land divergiert. Das mache es sehr auf­wendig, Anträge in einzelnen Mitgliedstaaten zu stellen. Weiterhin fehle es an Anreizen für die Unter­nehmen. So gebe es in der EU allenfalls ein Jahr exklusive Vermarktung nach einem Switch, in den USA da­gegen drei Jahre.

Wirkstoff- oder Produkt-bezogen

Entlassungen aus der Rezeptpflicht sind sowohl Wirkstoff- als auch Produkt-bezogen möglich. Produkt-be­zogene Entlassungen aus der Rezeptpflicht wurden in Deutschland in der Vergangenheit jedoch selten genutzt. Dass Switch-Empfehlungen für Wirkstoffe automatisch auf alle Präparate anwendbar sind, ist für Freichel ein weiteres Motivationshindernis für die Pharmafirmen. Als Beispiel führte er den zentralen Switch von Pantoprazol an. Als es dann endlich OTC wurde, seien 23 Produkte gleichzeitig auf den Markt gekommen, meinte er, kein Anreiz für das Unternehmen, das den Switch mit hohen Aufwendungen betrieben hat. Laut Kroth möchte die Mehrheit der Länder lieber Produkt-basierte Switches. Aus Sicht der Apotheker wäre es wichtig, die Harmonisierung voranzutreiben, ergänzte Passarini vom Europäischen Apothekerverband, egal ob Wirkstoff-basiert oder Produkt-basiert. Die Apothekenkunden verstünden die unterschied­liche Klassifizierung in den Ländern nämlich nicht.

Wie kommt man zu mehr harmonisierten Switches?

Wie kann die Harmonisierung bei Entlassungen aus der Rezeptpflicht verbessert werden? Es besteht die Möglichkeit, einen Switch in der EU auch zentralisiert herbeizuführen. Damit ist der Abgabestatus dann für alle Mitgliedstaaten einheitlich festgelegt, aber diese Option ist offenbar nicht attraktiv genug. Laut Kroth sind bislang erst vier Switches über ein zentrales Verfahren zustande gekommen. Auch in den beiden anderen europäischen Verfahren, dem Verfahren der gegenseitigen Anerkennung (MRP) und im dezentralen Verfahren (DCP) sind die Möglichkeiten begrenzt. Dr. Martin Huber vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Vorsitzender der Arbeitsgruppe zu nichtverschreibungspflichtigen Arzneimitteln der Koordinierungsgruppe der Behörden (CMDh) für MRPs und DCPs, berichtete von den Erfahrungen mit der OTC Task Force, die seit 2016 aktiv ist. Diese sei nicht dazu berechtigt, Empfehlungen zu Switches für einzelne Substanzen abzugeben, betonte Huber, und die Harmonisierung des Abgabestatus sei auch kein Bestandteil der beiden Verfahren. Einigkeit bestand unter den Experten darin, dass unter den Ländern auf jeden Fall mehr Transparenz bezüglich nationaler Switch-Entscheidungen hergestellt werden müsse. Wirthumer-Hoche wünscht sich eine Datenbank, in der die Mitgliedstaaten ihre Evaluierungsberichte miteinander teilen können.

Nicht ohne die Apotheker

OTC-Produkte nach einem Switch in den Markt zu bekommen, gehe nicht ohne Apotheker, meinte Kroth. Nach Passarinis Einschätzung könnte dies erheblich besser funktionieren, wenn die Apotheker frühzeitig in den Switch-Prozess eingebunden und auch auf dem Weg dahin immer wieder gehört werden. Schließlich könnten diese wichtige Praxiserfahrungen einbringen. Wie der Präsident der Portugiesischen Überwachungsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte Dr. Rui Santos Ivo wissen ließ, sollen der Zugang zu Arzneimitteln und die digitale Gesundheit Schlüsselthemen der portugiesischen Ratspräsidentschaft sein, die am 1. Januar nächsten Jahres beginnt, wenn Deutschland den Staffelstab weitergibt. |

Dr. Helga Blasius

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