Arzneimittel und Therapie

„Ohne unabhängige Studien nicht zu empfehlen“

Ein Gastkommentar zur bimodalen Stimulation bei chronischem Tinnitus

Die Studienergebnisse zur bimodalen Stimulation scheinen auf den ersten Blick ein Hoffnungsschimmer für Patienten mit chronischem Tinnitus zu sein. Beim genaueren Hinsehen rela­tiviert sich diese Ansicht jedoch schnell. Warum, erläutert uns Prof. Dr. Gerhard Hesse, Chefarzt der Tinnitus-Klinik am Krankenhaus Bad Arolsen, in seinem Kommentar.

Prof. Dr. Gerhard Hesse

Der Versuch, einen Tinnitus mit der „bimodalen Stimulation“ zu lindern, wurde aus der Erkenntnis entwickelt, dass im Tierversuch die elektrische Reizung bestimmter Hirn­regionen die Lernfähigkeit fördern kann. Erste Versuche, den Vagusnerv, gepaart mit akustischer Stimulation, zu reizen, wurden bei Tinnituspatienten vor einigen Jahren durchgeführt, allerdings ohne großen Erfolg [1]. Auch die therapeutischen Erfolge eines weiterentwickelten Gerätes, das den Trigeminusnerv an Wange und Stirn reizt, waren ­allenfalls sehr kurz andauernd [2].

Das hier vorgestellte Verfahren kombiniert die Präsentation von Tönen mit elektrischen Reizungen der Zunge und stimuliert so den Trigeminusnerv und den Nervus lingualis [3]. Bislang wurde dazu eine Pilotstudie bzw. ein Studienprotokoll veröffentlicht [4]. Die Machbarkeitsstudien scheinen eine generelle Verträglichkeit zu dokumentieren. Aktuell ist eine kontrollierte Studie zu dieser Therapieform erschienen [5]. Sie referiert die Ergebnisse der 2017 vorgestellten Studie [1], leider ohne Placebokontrolle. In zwei Zentren waren dazu 326 Patienten rekrutiert und jeweils drei gleich großen Stimulationsgruppen randomisiert und doppelblind zugeteilt worden. Diese unterschieden sich in den Reizparametern und den damit gepaarten Tönen, wobei man besonders die dritte Gruppe mit tieffrequenten Tönen reizte, die keine Zuordnung zur elektrischen Trigeminusreizung hatte. Behandelt wurde über zwölf Wochen mit zwei Mal täglich 30 Minuten Anwendung, was angeblich kontrolliert und protokolliert wurde. Ca. 80% der Patienten wurden ausgewertet, die übrigen Probanden hatten aus nicht näher erklärten Gründen die Therapie nicht vollständig durchgeführt. Nach der Behandlung spürten alle drei Gruppen eine signifikante Verbesserung ihres Tinnitus. Die Befunde wurden anhand der beiden Fragebögen THI (Tinnitus Handicap Inventory) und TFI (Tinnitus Funktionsindex) gemessen. Nach zwölf Monaten wurde erneut kontrolliert, bei welchen Patienten die Befunde stabil geblieben waren. 20% der Teilnehmer spürten überhaupt keine Verbesserung des Tinnitus durch die bimodale Stimulation. Nebenwirkungen wurden zwar beschrieben, waren aber nicht schwerwiegend.

Viele offene Fragen – Placeboeffekt liegt nahe

Leider wurde nicht berichtet, warum von 698 gescreenten Personen nur 326 ausgewählt worden waren. Auch wurde nicht referiert, welche Art von Beratung neben der umfangreichen Diagnostik durchgeführt wurde, die ja auch einen therapeutischen Effekt hat. Zudem gibt es keine Angaben, welche Unterschiede sich bezüglich des Hörverlustes ergaben und vor allem, warum alle Gruppen sich verbesserten, obwohl die dritte Gruppe mit tiefen Frequenzen zwischen 100 und 500 Hz und längeren Pulsintervallen stimuliert wurde, was für das Postulat der neuroplastischen Veränderung eher ungeeignet erscheint und somit einen Placeboeffekt zumindest nahelegt. Außerdem besteht bei elf von 13 Autoren ein Interessenkonflikt: acht sind direkt bei der Firma, die das Gerät vermarktet, angestellt, drei beziehen Beraterhonorare.

Angekündigt ist eine neue Studie, bei der 192 Patienten, die in vier Armen therapiert und ein Jahr nachuntersucht werden sollen, eingeschlossen sind. In dieser Studie soll auch in einem Arm die Therapie nur mit akustischer Stimulation ohne Stimulation der Zunge durchgeführt werden [5]. Unabhängig wird aber wohl auch diese Studie nicht sein. Daher ist ohne Publikation unabhängiger, validierter und placebokontrollierter Studien diese Therapie nicht zu empfehlen.
 

Literatur

[1] Tyler R, Cacace A, Stocking C, Tarver B et al. Vagus Nerve Stimulation Paired with Tones for the Treatment of Tinnitus: A Prospective Randomized Double-blind Controlled Pilot Study in Humans. Sci Rep 2017;7:11960

[2] Marks KL, Martel DT, Wu C et al. Auditory-somatosensory bimodal stimulation desynchronizes brain circuitry to reduce tinnitus in guinea pigs and humans. Sci Transl Med 2018;10

[3] Hamilton C, D‘Arcy S, Pearlmutter BA et al. An Investigation of Feasibility and Safety of Bi-Modal Stimulation for the Treatment of Tinnitus: An Open-Label Pilot Study. Neuromodulation 2016;19:832-837

[4] D‘Arcy S, Hamilton C, Hughes S et al. Bi-modal stimulation in the treatment of tinnitus: a study protocol for an exploratory trial to optimise stimulation parameters and patient subtyping. BMJ Open 2017;7:e018465

[5] Conlon B, Hamilton C, Hughes S et al. Noninvasive Bimodal Neuromodulation for the Treatment of Tinnitus: Protocol for a Second Large-Scale Double-Blind Randomized Clinical Trial to Optimize Stimulation Parameters. JMIR Res Protoc 2019;8:e13176

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