Gesundheitspolitik

Der Apotheken-Ökonom: Où sont les neiges d’antan?

Prof. Dr. Andreas Kaapke 

Als vor rund einem Jahr der erste Lockdown von Politik und Wissenschaft verkündet wurde, vermochte sich niemand auszumalen, dass wir nun, zwölf Monate später, in einer schwierigeren und final noch nicht absehbaren Situation stecken. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Ende Dezember 2019 das Virus in Wuhan erstmals in der Tagesschau erwähnt wurde, Ende Januar 2020 der erste Fall in der Nähe von München für Deutschland gemeldet wurde und das Virus erst danach innerhalb von sechs Wochen deutlich an Fahrt aufnahm. Nach diesem ersten Lockdown, der sowohl hinsichtlich der Länge als auch der Stringenz in der Rückschau vergleichsweise harmlos ausfiel, sah man sich vermeintlich sicher, dass sich das Virus nicht weiter ausbreiten könne.

Sicherlich haben das alle so gewollt, gewiss hörte sich das gut an und fürwahr schien dies auch angesichts des damals nahenden Sommers und einer nicht mehr gänzlich verrückbaren Urlaubs­saison kaum anders darstellbar.

Nun greifen die neuerlich notwendigen Einschränkungen schon seit November z. B. für Fitnessstudios, Saunen und Schwimmbäder oder seit kurz vor Weihnachten für den Einzelhandel, eine für diesen Wirtschaftszweig derart wichtige Zeit, dass man sich im Detail die damit einhergehenden Verwerfungen gar nicht ausmalen darf. Man ist zwischenzeitlich geneigt, in die nicht mehr zu überhörende Kritik einzustimmen, muss man doch bei aller Sachlichkeit konstatieren, dass der Politik, vor allem aber der exekutiven Ministerialbürokratie, trotz der Pause zwischen erstem und zweitem Lockdown nichts Besseres einfällt, als die gleichen Mechanismen zum Einsatz zu bringen wie im letzten Frühjahr. Was hat die Ministerialbürokratie unternommen, um bspw. Öffnungsszenarien durchzuspielen, wenn Gastronomen sich veritable Sicherheitskonzepte ausgedacht hatten, die den Namen verdienen? Warum kommt es auch beim zweiten Lockdown zu den wettbewerbs­verzerrenden Konstellationen, dass der örtliche Spielwarenhändler schließen muss, aber ein namhafter Drogeriemarkt mit beeindruckendem Spielwarensortiment ob seiner im Bereich Körperpflege angebotenen Waren öffnen darf und dann auch seine Spielwaren verkauft? Der Fachhandel muss demnach nicht nur die Abwanderung zur Online-Konkurrenz, sondern auch zur stationären Konkurrenz fürchten. Im Schnitt, sagt man, kommt es zu 50 Millionen Einzelhandelskontakten am Tag, davon 40 Millionen im Lebensmitteleinzelhandel. Sollte es also bei den Schließungen – wie suggeriert – um Kontaktvermeidungen gehen, erschließt es sich nicht, dass Lebensmittler öffnen dürfen, Non-Food-Händler aber nicht. Systemrelevanz schlägt Kontaktvermeidung. Nicht, dass das missverstanden wird, die Lösung läge nicht in der zusätzlichen Schließung der Lebensmittler, sondern in der unter Wahrung verlässlicher Regeln moderaten Öffnung der anderen. Leider muss man auch nach den jüngsten Vorschlägen der Bund-Länder-Runde fragen: Wo ist die Öffnungsstrategie, die den Namen verdient? Wenn jetzt eine Klagen­inflation ange­stoßen wird, darf sich die Exekutive nicht wundern, dass es die Judikative richten soll. Das RKI als erste Beratungsinstanz für die Politik hat so z. B. konstatiert (FAZ vom 25.02.21), dass das individuelle Infektionsrisiko im Einzelhandel niedrig sei, bei Friseuren niedrig bis hoch.

Zudem spottet die auch weiterhin hochgehaltene Orientierung an Inzidenzwerten jeder Beschreibung. Die alltäglich vorgeführten Säulendiagramme mögen in sich stimmen, gleichwohl fehlt der Referenzwert in Form der Anzahl der an diesem Tag getesteten Personen. Nur so lässt sich im Übrigen die Inzidenz manipulationsfrei messen. Denn ansonsten muss man den Verdacht hegen, dass je nach politischem Willen und der sich daraus ableitbaren Aussage mehr oder weniger getestet wird. Will man demnach die Wiedereröffnung verhindern, testet man so lange, bis die Inzidenz steigt, und entzieht damit jedem Öffnungsargument die mehrheitsfähige Substanz. Will man die Inzidenzwerte schnell drücken, verzichtet man auf Testungen. Es mag zynisch anmuten, damit lässt sich aber die Debatte steuern.

Die in vielen Details handwerk­lichen Fehler dürften nach einer solch langen Zeit nicht mehr passieren. Auch die Apotheken können ein Lied davon singen. Wurden diese kurzfristig mit einem ansehnlichen Salär für die Abgabe von FFP2-Masken geködert und mussten sie sich unter diesen Prämissen entsprechend eindecken und die Masken vorfinanzieren, wurde jetzt die Vergütung gekürzt. Man mag über die Höhe philosophieren und streiten, Prämissen sollten aber zuvor rechtssicher vereinbart werden können und nicht einseitig geändert werden dürfen, wenn es dann nicht mehr anders zu gehen scheint. Das ist meilenweit von Augenhöhe entfernt und zeigt auf, mit welchen Kartenspielern man es zu tun hat. Auch für Testungen und Impfungen und alle anderen durch Corona in die Apotheke verlagerten oder noch zu verlagernden Dienstleistungen sind vor diesem Hintergrund vor allem auskömmliche und rechtssichere Honorare im Vorhinein zu verhandeln und zu dokumentieren.

Je länger der Lockdown anhält, desto stärker gewöhnen sich Menschen an die entsprechenden Rahmenbedingungen. Was einmal ausfiel, sehnt man wieder herbei, was zwei- oder dreimal nicht stattfindet und auf andere Weise kompensiert werden konnte, findet ggf. nicht den Weg zurück. Wenn aus Sicht einer Bevölkerung die Rückkehr ins vor COVID-19 herrschende Hier und Jetzt erfleht wird, zeigt dies auf, wie stark die Pandemie auf eine Gesellschaft gewirkt hat. Verunsicherung wich Vorsicht und ist mittlerweile spürbar bei vielen in pure Angst um­gewidmet worden – ungeachtet ob Lebensgefahr oder Existenzangst der Treiber dieser Gefühle ist. Medienberichte und politischer Flickenteppich, mithin eine kaum zu erkennende Strategie schüren diese Ängste und zeigen die Hilflosigkeit ganzer Gesellschaften. Dass das, was man durch Corona hinter sich lassen musste, nun nicht mehr als Schnee von gestern etikettiert wird, sondern im Liedtext mündet – où sont les neiges d’antan? – vermittelt mit Bitterkeit, wo wir ein Jahr nach dem ersten Lockdown stehen und wonach wir uns sehnen: Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr? |

Andreas Kaapke ist Professor für Handelsmanagement und Handelsmarketing an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW), Standort Stuttgart, und Inhaber des Beratungsunternehmens Prof. Kaapke Projekte. E-Mail: a.kaapke@kaapke-projekte.de

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