Arzneimittel und Therapie

Kleine RNA ganz groß

Was microRNA als Therapeutikum und Diagnostikum leisten kann

Der Einsatz von microRNA sowohl zur Therapie als auch als Biomarker verschiedener Erkrankungen ist vielversprechend. So konnte in einer aktuellen Phase-IIa-Studie der Arzneistoff ABX464, der eine einzelne microRNA hochreguliert, zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis überzeugen.

MicroRNA sind kurze, nicht codierende Ribonukleinsäure-Moleküle aus maximal 21 bis 23 Nukleotiden, die eine wichtige regulatorische Funktion ausüben – so steuern sie die Aktivität verschiedener Gene in unseren Zellen.

Die microRNA wurde erstmals 1993 von einem amerikanischen Biologen in der Wurmspezies Caenorhabditis elegans entdeckt und erhielt zuerst den Namen „small temporal RNA“. Mittlerweile zählt sie zur Gruppe der kleinen RNA-Ketten, zu denen auch die siRNA (small interfering RNA) und ncRNA (non-coding RNA) zählen. Bisher wurden mehr als 1900 microRNA beim Menschen gefunden.

Das Funktionsprinzip

Lange Zeit galt die microRNA als nicht notwendiger Zellmüll. Heute weiß man, dass sie eine wichtige Aufgabe bei der Steuerung zahlreicher Zell­vorgänge wie Entwicklung, Differenzierung, Proliferation und Apoptose spielt. Im Gegensatz zur mRNA wird sie nicht in Proteine übersetzt. Ihre Aufgabe besteht darin, sich an ein Ziel-RNA-Molekül anzulagern und dadurch entweder deren Übersetzung in ein Protein zu verhindern oder deren Abbau auszulösen (siehe Abbildung).

Die microRNA muss dabei nur in sechs bis acht Nukleotiden mit der Zielsequenz übereinstimmen. Dadurch kann sie sich an viele verschiedene RNA-­Moleküle anlagern und so gleichzeitig die Aktivität mehrerer Gene beeinflussen. Mittlerweile wird geschätzt, dass mehr als 60% unserer Gene durch microRNA reguliert werden. Etwa 70% der bisher bekannten microRNA befinden sich dabei im Gehirn.

Abb.: Bei der Translation wird die genetische Information der mRNA übersetzt und so ein Protein gebildet (A). Zur Regulation dieses Prozesses kann microRNA (miRNA) in den sogenannten Ribonukleinprotein-Komplex (miRNP) aufgenommen werden (B), der sich an die mRNA lagert und so deren Abbau initiiert bzw. deren Übersetzung in ein Protein verhindert.

Schon jetzt vielfältig genutzt

Es ist bekannt, dass die Art und Menge einzelner microRNA bei vielen Krankheiten variiert und damit einen Ansatzpunkt für neue Therapiemöglichkeiten darstellt. So wurden in ersten klinischen Studien microRNA-Hemmstoffe erfolgreich zur Behandlung der Hepatitis C und Blutkrebs ­getestet. Darüber hinaus sind diese auch ins Zentrum der kardiovaskulären Forschung gerückt. Eine Forschergruppe der Goethe-Universität und des Universitätsklinikums Frankfurt am Main konnte zeigen, dass ein Hemmstoff gegen microRNA-92-a die Herzfunktion nach einem Myokard­infarkt verbessert.

Zudem haben microRNA-Moleküle das Potenzial, künftig als Biomarker für ­bestimmte Krankheiten eingesetzt zu werden. So suchen Bioinformatiker der Universität des Saarlandes gezielt nach microRNA als Biomarker für Parkinson, um die frühzeitige Diagnostik zu verbessern. Für Alzheimer und ­Lungenkrebs konnten sie bereits erfolgreich microRNA als diagnostische Marker ermitteln. Forschern des Centro Nacional de Investigaciones Cardiovasculares in Madrid ist es erstmals gelungen, eine microRNA (hsa-miR-Chr8:96) zur Unterscheidung zwischen einem Myokardinfarkt und einer Myokarditis zu identifizieren – weitere klinische Studien sollen hierzu folgen.

MicroRNA gezielt hochregulieren

Aber auch für die Behandlung von entzündlichen Erkrankungen bietet das Therapieprinzip interessante Möglichkeiten. So wurde vor Kurzem in einer Phase-IIa-Induktionsstudie des Biotechnologieunternehmens Abivax die Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneistoffes ABX464 in Kombination mit Methotrexat bei mittelschwerer bis schwerer aktiver rheumatoider Arthritis untersucht. ABX464 ist ein oral verfügbarer Arzneistoff, dessen Wirkung auf der Hochregulierung einer einzelnen microRNA (miR-124) basiert. Seine entzündungshemmende Wirkung kommt durch die Bindung an den Cap-Bindungskomplex am 5`-Ende jedes RNA-Moleküls in der Zelle zustande. Dadurch kommt es zum vermehrten selektiven Spleißen einer einzelnen nicht codierenden RNA – die Produktion von miR-124 wird verstärkt. Diese microRNA führt schließlich zur reduzierten Bildung von proinflammatorischen Zytokinen und Chemokinen wie Tumornekrosefaktor-Alpha oder Interleukin-6.

Bei hoher Dosis droht Übelkeit

Insgesamt wurden 60 Patienten mit unzureichender Ansprechrate auf Methotrexat und/oder Anti-Tumor­nekrose­faktor-Alpha(TNF-α)-Biologika an 21 Studienzentren in Frankreich, Belgien, Polen und Ungarn in die Untersuchung eingeschlossen. In der randomisierten, doppelblinden und placebokontrollierten Induktionsstudie erhielten die Teilnehmer über einen Zeitraum von zwölf Wochen täglich das oral einzunehmende ABX464 (50 mg oder 100 mg) in Kombination mit Methotrexat oder Placebo. Primärer Endpunkt war die Untersuchung der Sicherheit und Verträglichkeit. Es konnte gezeigt werden, dass die einmal tägliche Einnahme von 50 mg ABX464 sicher und gut verträglich ist. Eine schwerwiegende unerwünschte Begleiterscheinung trat jeweils in der Placebogruppe und in der 100-mg-ABX464-Gruppe auf. Insgesamt brachen 16 Teilnehmer (drei aus der 50-mg-Gruppe, zwölf aus der 100-mg-Gruppe und einer aus der Placebogruppe) die Studie vorzeitig ab. Der ­erhöhte Anteil an Studienabbrüchen in der 100-mg-Gruppe konnte auf ein vermehrtes Auftreten von leichten bis mittelschweren Nebenwirkungen im Magen-Darm-Trakt wie Übelkeit und Erbrechen zurückgeführt werden – für künftige klinische Studien wird die 100-mg-Dosis daher nicht mehr in Betracht gezogen.

Was steckt hinter ACR, DAS28-CRP und CDAI?

ACR: Score des American College of Rheumatology, mit dem die Wirksamkeit eines Medikamentes bei Patienten mit rheumatoider Arthritis gemessen wird. Der ACR20/50/70 misst die 20/50/70%ige Verbesserung von Druckschmerzen und Schwellungen in den Gelenken und die 20/50/70%ige Verbesserung von mindestens drei der fünf folgenden Messgrößen:

  • Allgemeine Beurteilung der Krankheitsentwicklung durch Arzt
  • Allgemeine Beurteilung der Krankheitsentwicklung durch Patient
  • Beurteilung zur Schmerzentwicklung
  • CRP-Wert
  • Fragebogen zur Beurteilung des ­Gesundheitszustandes

DAS28-CRP: Disease Activity Score zur Ermittlung der Krankheitsaktivität in 28 Gelenken in Kombination mit dem CRP-Wert

CDAI: Clinical Disease Activity Index ist ein zusammengesetzter Index zur Ermittlung von Druckschmerzen und Schwellungen in 28 Gelenken und der allgemeinen Bewertung der Krankheitsentwicklung.

Auch bei Colitis ulcerosa wirksam

Als wichtigster sekundärer Endpunkt zur Untersuchung der Wirksamkeit wurde der ACR20-Wert (s. Kasten) bestimmt. Nach zwölf Wochen erreichten diesen in der 50-mg-Gruppe 60% der Teilnehmer versus 22% in der Placebogruppe. Auch in den anderen sekundären Endpunkten (ACR50/70-Verbesserung, DAS28-CRP und CDAI, s. Kasten) zeigte sich ein signifikanter Vorteil in der mit 50 mg ABX464 behandelten Gruppe. Im Vergleich zu Placebo konnten in beiden Behandlungsgruppen eine signifikante Hochregulierung des miR-124-Expressionslevels und eine Reduktion der Interleukin-6-Spiegel im Blut nachgewiesen werden. Basierend auf diesen Ergebnissen soll Anfang 2022 eine klinische Phase-IIb-Studie starten. Alle Studienteilnehmer, welche die jetzige Induktionsstudie abgeschlossen hatten, konnten die Behandlung in einer offenen zweijährigen Erhaltungsstudie fortsetzen, um auch Langzeitergebnisse zu erzielen.

Der Arzneistoff ABX464 zeigte bereits in klinischen Phase-IIa- und -IIb-Studien zur Behandlung der Colitits ulcerosa gute Sicherheits- und Wirksamkeitsergebnisse. Laut den Wissenschaftlern könnte der Arzneistoff Potenzial für ein neuartiges Medikament zur Behandlung chronisch entzündlicher Erkrankungen haben.

Fazit

Angesichts der aktuellen Studienlage bleibt es also spannend, wann und in welchem Umfang künftig microRNAs Einzug in Therapie und Diagnostik halten werden. |

Literatur

Abivax gibt hervorragende Ergebnisse der Phase-2a-Studie zur Wirksamkeit und Sicherheit von 50 mg ABX464 in rheumatoider Arthritis bekannt; Pressemitteilung der Abivax verfügbar unter: https://abivax.gcs-web.com/system/files-encrypted/nasdaq_kms/news/2021/06/23/3-17-59/210623_Abivax_PM_Ph2a%20Ergebnisse%20RAc.pdf, letzter Zugriff am 11. Juli 2021

Blanco-Dominguez, R et al. A Novel Circulating MicroRNA for the Detection of Acute Myocarditis. N Engl J Med 2021; 384:2014-2027

Chen, A. MicroRNAs – klein aber oho! Informationen der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. verfügbar unter www.mpg.de/8973715/mpip_jb_2014, letzter Zugriff 11. Juli 2021

Erste microRNA-Therapie für das Herz funktioniert beim Menschen. Informationen des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung e. V. verfügbar unter: https://dzhk.de/aktuelles/news/artikel/erste-microrna-therapie-fuer-das-herz-funktioniert-beim-menschen/, letzter Zugriff 25. Juli 2021

MicroRNA. Informationen der DocCheck Medical Services GmbH, verfügbar unter: https://flexikon.doccheck.com/de/MicroRNA, letzter Zugriff 11. Juli 2021

Izaurralde E. Micro-RNAs – mächtige Winzlinge, die Gene ausschalten. Informationen der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., verfügbar unter www.mpg.de/318864/forschungsSchwerpunkt2, letzter Zugriff 11. Juli 2021

Saarbrücker Bioinformatiker sind molekularen Signalen der Parkinson-Krankheit auf der Spur. Pressemitteilung der Universität des Saarlandes vom 15. März 2021, verfügbar unter: https://nachrichten.idw-online.de/2021/03/15/saarbruecker-bioinformatiker-sind-molekularen-signalen-der-parkinson-krankheit-auf-der-spur/, letzter Zugriff 11. Juli 2021

Stiefelhagen, P. Vom Zell-Müll zu einer vielversprechenden Therapieoption; Arzneimitteltherapie 2012;30(09)

Apothekerin Dr. Martina Wegener

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