Feuilleton

Wer war der Erste?

Schon vor der Entdeckung des Insulins wurden Pankreaspräparate erfolgreich eingesetzt

Der Sommer 1921 brachte für die Diabetestherapie endlich den lang ersehnten Durchbruch, denn damals gelang es dem Mediziner Frederick G. Banting und Physiologiestudenten Charles H. Best an der Universität Toronto erfolgreich, Extrakte, die das blutzuckerregu­lierende Hormon Insulin enthielten, aus Pankreta von Hunden zu gewinnen, um daraus mithilfe weiterer Experten innerhalb weniger Monate ein für Diabetiker brauchbares Arzneimittel zu entwickeln. Zu den Insulinforschern der ersten Stunde zählt auch der 1870 in Berlin geborene Georg Ludwig Zuelzer. Doch im Schatten von Banting und Best werden Zuelzers Aktivitäten mit seinem Pankreaspräparat „Acomatol“ in der Berichterstattung eher wenig beachtet.

Die zügige Entwicklung ein für Dia­betiker brauchbares Insulinpräparat in jenen Jahren erinnert aktuell an die zügige Generierung antiviraler COVID-19-Vakzine. Erfolgreich ein­gesetzt wurde das kanadische Therapeutikum bereits im Januar 1922 bei einem 13-jährigen Diabetiker. Am 10. Dezember 1923 erhielten Banting und dessen Chef John Macleod dafür den Medizin-Nobelpreis.

Mit Acomatol auf dem richtigen Weg

Zwar hatten schon vor Banting und Best einige Forscher durchaus potente insulinhaltige Auszüge in der Hand, die teilweise bei Diabetikern kurzfristig zum Einsatz kamen. Starke Nebenwirkungen vereitelten jedoch durchweg ihre dauerhafte Applikation. So verhalfen letztlich erst Banting und Best dem Insulin zum lang ersehnten Durchbruch.

Foto: picture alliance/Courtesy Everett Collection

Frederick G. Banting und Charles H. Best gelten als die Entdecker des Insulins. Doch schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts widmeten sich zahlreiche Forscher der Diabetestherapie. Auch der deutsche Arzt Georg Ludwig Zuelzer experimentierte mit Pankreaspräparaten – und verfügte über drei Patente lange vor Banting und Best.

Zu den Insulinforschern der ersten Stunde zählt der 1870 in Berlin geborene Georg Ludwig Zuelzer. Angeregt zu seinen Forschungen wurde der als Arzt tätige Zuelzer durch die Arbeiten des Frankfurter Physiologen Ferdinand Blum zum sogenannten Nebenrindendiabetes [1]. Dieser hatte beobachtet, dass das im Nebennierenmark gebildete Adrenalin eine Glykosurie auslösen kann. Daraus schloss Zuelzer fälschlicherweise auf einen direkten Antagonismus zwischen Adrenalin und einem blutzuckersenkenden Agens, dem damals noch nicht identifizierten Insulin [2]. Nach anfänglichen Tierversuchen testete er schon bald seine antidiabetisch wirksamen Pankreasextrakte an acht Probanden aus, die aber teilweise schwere Nebenwirkungen zeigten [3]. Joseph Forschbach – Mitarbeiter von Oskar Minkowski, der mit Josef von Mering 1889 erstmalig anhand von Tierversuchen gezeigt hatte, dass eine Pankreasexstirpation Diabetes auslöst [4] – hat deren Einsatz an einigen Diabetikern unter Messung des Harnzuckers wiederholt und kam zum Schluss, dass „Zuelzer zum ersten Mal mit Erfolg aus Pankreas ein Präparat hergestellt hat, das bei intravenöser Applikation auch in den Fällen, in denen die Nahrungszufuhr unverändert bleibt, die Zuckerausscheidung auf kürzere oder längere Zeit herabsetzt.“ Dennoch brach er die Testungen ebenfalls wegen teils starker Unverträglichkeiten, wie Erbrechen und starkes Fieber, rasch ab. Seine Begründung: „Für die praktische Verwendbarkeit bedeuten natürlich die besprochenen Nebenwirkungen eine unüberwindliche Schranke (…). Es ist deshalb im theoretischen wie im praktischen Interesse zu wünschen, daß die Herstellung eines Pankreasextraktes gelingt, der ohne die unangenehme Nebenwirkung antidiabetische Kraft besitzt“ [5].

100 Jahre Insulin

In der DAZ 2021, Nr. 29, S. 39 haben wir diesem Meilenstein der Medizin­geschichte einen ausführlichen Titelbeitrag gewidmet.

Mehrere Patente

Insgesamt drei Patente erhielt Zuelzer für seine antidiabetischen Extrakte: 1909 ein deutsches sowie englisches für das „Verfahren zur Herstellung eines für die Diabetesbehandlung geeigneten Pankreaspräparates“ [6a, 6b]. 1912 folgte in den USA noch ein auf seinen Namen erteiltes Patent „Pancreas preparation suitable for the treatment of diabetes“ [7]. Der Herstellungsweg ist in diesem Patent am genausten beschrieben, das die Gewinnung der Präparate aus Pankreata von Rind, Schwein, Schaf und Hunden aufführt. Sein insulinhaltiges Pankreasmedikament nannte Zuelzer „Acomatol“, um damit auf die Therapie des diabetischen Komas hinzuweisen. Da Zuelzer bei der Erprobung an Diabetikern keine Blutzuckerbestimmungen durchführte, ist retrospektiv gesehen davon auszugehen, dass bei den Patienten teilweise der Blutzucker unbewusst sehr stark gesenkt wurde, mit den daraus resultierenden hypoglykämischen Entgleisungen [2]. Blutzuckerbestimmungen waren damals noch sehr aufwendig und langwierig.

Protest

Bereits am 23. November 1923, kurz nachdem das Preiskomitee die beabsichtigte Verleihung des Medizin-Nobelpreises an Banting und Macleod verkündet hatte, gab Zuelzer in der Fachzeitschrift „Medizinische Klinik“ unter der Überschrift „Über Acomatol, das deutsche Insulin“ zu bedenken: „Das Acomatol, das von mir entdeckte Pankreashormon, welches vor Kriegsausbruch frei von schädlichen Nebenwirkungen bereits fertiggestellt war, wird jetzt als voll wirksames Präparat nach meinen damaligen Vorschriften injiziert (…). Ich habe nunmehr das Recht, meine Prioritätsansprüche für diese – von der Allgemeinheit als sehr wichtig angesehene – Entdeckung geltend zu machen – inzwischen haben die Torontoer Forscher für diese Entdeckung und deren klinische Auswertung den Nobelpreis erhalten – zumal auch in der deutschen Literatur zum Teil aus Unkenntnis, die Rolle, welche mir bei dieser Entdeckung zufiel, nicht immer ganz richtig aufgefaßt wurde“ [8]. Zuelzer führte eine Reihe von Gründen an, die den Durchbruch seines Acomatols bereits vor dem Ersten Weltkrieg vereitelten: Zum einem mangelnde Fördergelder für weitere Forschungen sowie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der ihm kaum mehr Zeit ließ, die Entwicklung seines Präparates voranzutreiben, neben Desinteresse bis Ablehnung vieler Kollegen bezüglich seiner Erkenntnisse [2].

Posthume Anerkennung

Erst viele Jahrzehnte später wurden die Forschungs- und Entwicklungs­arbeiten von Zuelzer entsprechend gewürdigt. So erwähnte Joseph H. Pratt im Jahr 1954 die antidiabetischen Extrakte von Zuelzer [9]. Weiterhin hob insbesondere der renommierte kanadische Medizin-Historiker Michael Bliss in seinem 1982 editierten Buch „The discovery of Insulin“ die Verdienste Zuelzers entsprechend hervor [10]. |

Literatur

 [1] Blum, Ferdinand. Über Nebennierendiabetes, Dtsch. Arch. Klin. Med. 71, 1907, pp. 146-167

 [2] Mellinghoff, Klaus H. Georg Ludwig Zuelzers Beitrag zur Insulinforschung, Düsseldorfer Arbeiten zur Geschichte der Medizin, Heft 36, Düsseldorf 1971

 [3] Zuelzer, Georg L. Über Versuche einer specifischen Fermenttherapie des Diabetes, Z. Exp. Path. Ther. 23, 1909 p. 307-318

 [4] Mering, J. v., Minkowski, O. Diabetes mellitus nach Pankreasexstirpation, Zbl. Klin. Med. 10, 1889, p. 393/4

 [5] Forschbach, J. Versuche zur Behandlung des Diabetes Mellitus mit dem Zuelzerschen Pankreashormon, Dtsch. Med. Wschr. (DMW) 35, 1909, p. 2053-2055

[6a] Dt. Patentschrift Nr. 201383 ausgegeben am 16.09.1909: Verfahren zur Herstellung eines für die Diabetesbehandlung geeigneten Pankreaspräparates (zitiert nach 2. Mellinghoff, K., p. 52)

[6b] Brit. Patentschrift Nr. 8514, 1908, ausgegeben am 11.03.1909: The manufacture of a pancreas preparation suitable for the treatment of diabetes (zitiert nach 2. Mellinghoff K., p. 52)

 [7] United States Patent Office, Nr. 1,097,790., May 28, 1912

 [8] Zuelzer, Georg. Über Acomatol, das deutsche Insulin, Medizinische Klinik 47, 1923, pp.1551/2

 [9] Pratt, Joseph H. Zur Geschichte der Entdeckung des Insulins, Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften Bd. 38, Heft 1,1954, pp. 48-57

[10] Bliss, Michael. The discovery of insulin, Toronto 1982

Weitere Literatur kann beim Autor erfragt werden.

Autor

Dr. Walter A. Ried, Apotheker und Journalist, Studium der Pharmazie in Passau und Frankfurt a. M., Promotion in Geschichte der Naturwissenschaften zum Thema: „Zur Insulingeschichte in Deutschland“

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